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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 14 | Eintritt in die Welt

Die Loslösung vom Elternhaus vollzog sich bei Günther Anders in zwei Schritten. Zuerst fand er einen eigenen inhaltlichen Zugang zur Welt, sein Lebensthema, das ihn auch vom Vater und dessen geistigen und persönlichen Lebenseinstellungen trennte: den Krieg. Früh koppelte sich Günther Anders vom Denken jener Generation von Juden ab, die sich als Teil der deutschen Nation begriffen, nur weil sie zu deren Bürgern geworden waren, die sich unter dem Schutz des bürgerlichen Rechts glaubten. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß eine Nation, die Goethe und Schiller hervorgebracht hatte, imstande war, grausam und unbarmherzig gegen die eigenen Bürger vorzugehen. Eines der Instrumente, die Günther Anders entwickelte, um intellektuelle Distanz zwischen sich und seine Eltern zu legen, war eine radikale und konsequente Antikriegshaltung, die sich ab seinem zehnten Lebensjahr wie ein roter Faden durch sein späteres Leben zog. Damit begann bereits die ideelle Abkehr vom seinem Elternhaus hin zu einem eigenständigen Denken. Auf die geistige Loslösung, die sich im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren endgültig vollzog und schließlich in seinen Studien in Freiburg, Marburg und Berlin manifest wurde, folgte die physische Trennung vom Elternhaus, mit der er sich selbst bewies, daß er auch ohne den Schutz und die Geborgenheit, die ihm Mutter, Vater und Schwestern vermittelten, in der Lage war, zu überleben. Dabei spielten seine Erfahrungen während seiner Einsätze beim militärischen Hilfsdienst in den Jahren 1917 und 1918 eine wesentliche Rolle.

Doch zuvor noch einmal zurück zu den ersten Lebenseinschnitten, die ihn gezwungen hatten, aus dem behüteten, dem glückvollen, weltlosen Zustand seiner Kindheit in die Welt einzutreten. Das Ende der Kindheit kündigte sich bereits an, als 1916 der Umzug von Breslau nach Hamburg stattfand, und vollzog sich endgültig nach seinem Einsatz hinter den deutschen Linien als Erntehelfer. Den ersten Bewährungen seiner Kindertage war er im engen Kreis der Familie ausgesetzt, er war in seinem achten Lebensjahr; und wieder einmal nahm die Mutter dabei eine Schlüsselrolle ein, "die nach ihrem Typhus 1909 oder 1910, wie aufgebahrt liegt […] zwischen Nelken und Hyazinthen, kaum wiederzuerkennen, so schmal ist sie geworden, aber da ist sie doch, welch ein Wunder, denn immer wieder hatte mir der Vater ja nach Graudenz, wohin er mich während der Krankheit exiliert hatte, geschrieben: 'Wer weiß mein Junge, ob sie uns erhalten bleiben wird?'" (Anders 1979:116) Der persönliche, nahegehende, unausweichliche Tod trat also erstmals in Gestalt der geliebten, sanften Mutter auf. Er selbst wurde ins Graudenzer Exil verschickt – seine erste Exilerfahrung, der noch viele folgen sollten –, wo er in Gegenwart der Tante (Schwester der Mutter), die er als repressiv und ungerecht erlebte, jeden Tag die Botschaft vom Tode der Mutter erwartete.

Das zweite Erlebnis, das ihn nachhaltig prägte und seine ausgeglichene, glückliche Kindheitserfahrung in ihren Grundfesten erschütterte, war der Umzug von Breslau nach Hamburg 1916. Dem Vater wurde eine Professur in Hamburg angeboten, verknüpft mit der Möglichkeit, das dortige Psychologische Institut aufzubauen. Nach reiflicher Überlegung und Beratung mit seiner Frau entschied sich William Stern, dem Ruf nach Hamburg zu folgen: "In Eile und Vertrauen die Mitteilung, daß ich von Hamburg einen Ruf erhalten habe, den ich voraussichtlich annehmen werde. Das Scheiden von der Universität wird mir ja nicht ganz leicht; aber da ich in Breslau in absehbarer Zeit doch nicht weitergekommen wäre, da im übrigen die Tätigkeit in H. eine sehr umfassende und befriedigende sein kann, da endlich die schließliche Akademisierung des Hamburger Vorlesungswesens bestimmt zu erhoffen ist, so werde ich wohl gehen." (Lück 1994:94) Die Verlockung war natürlich groß. Schließlich war damit einerseits ein großer Karriereschritt verbunden, und andererseits konnte die Familie auf eine gesunde ökonomische Basis gestellt werden. Der Nachteil jedoch war, daß die Familie mit ihrem gesamten Hausstand umziehen und alle Brücken in Breslau abbrechen mußte. Die Heimat wurde zurückgelassen, zumindest jene der Kinder. Die Hoffnung des Vaters, daß die Sache für die Kinder gut verlaufen möge, erfüllte sich zumindest für Günther nicht, der den Umzug nur schwer verkraftete. Hinzu kam, daß im selben Jahr Clara Sterns Mutter starb, die eine der prägenden Frauenfiguren in Günther Anders‘ Kindheit war. Der Vater berichtete an Jonas Cohn: "Du hast sie ja wohl flüchtig gekannt; sie war bis zuletzt, trotzdem sie nicht frei von Leiden war, ein Mensch von so lebhafter innerer Glut und einem so starken Willen, dass sie noch immer einen jugendlichen Eindruck machte. Umso schwerer traf uns und namentlich meine Frau der Schlag ihres unerwarteten Todes. Jetzt sind wir bei der traurigen Tätigkeit der Auflösung unseres Haushalts. Das war ein schwarzer Schatten, der auf unser neues Hamburger Leben fiel." (Lück 1994:101)

Bereits damals zeigte der junge Günther Stern, wie er es schaffte, mit schwierigen Situationen fertigzuwerden. Schreibend verarbeitete er den Verlust seiner Heimat, die Begegnung mit dem Tod eines ihm nahestehenden Menschen. Schreibend versuchte er, den Ereignissen einen Erkenntnisgewinn abzuringen, suchte philosophische Antworten, wie er es schon als Kind getan hatte, um die Realität beherrschbar und lebbar zu machen, ihr vor allem neue Perspektiven zu eröffnen:
"Liebste Heimat, soll für stets ich scheiden
Von Dir, die mir schenkte manches Glück?
Kehr ich niemals mehr als Jüngling
Oder noch als Kind zu dir zurück?
Vor mir liegt ein dunkles Geschicke,
Undurchdringbar ist das schwarze Tuch,
Das verdeckt mit fürchterlicher Tücke,
Wie geschrieben in der Zukunft Buch.
Hoffen kann ich, doch ich kann nicht wissen.
Sei die neue Stadt ein neues Heim,
Mög’ ich keinen guten Freund vermissen,
Komm zum neuen Leben mir ein guter Keim!
Hat das Neu mich ganz herangezogen,
Dann sind Leid und Sehnsucht längst verflogen."
(Tagebuch VIII / Günther / 6.5.1916)

Heim mag Hamburg gewesen sein, Heimat ist die Stadt ihm nie geworden. Das zeigen schon allein die zahlreichen Schwierigkeiten, die Günther Anders in der Schule hatte: "Diese Untersekundaner lernen patriotische oder gar lokal patriotische Verslein und lesen im ganzen Jahr nichts von Schiller oder sonst einem Klassiker. Also der Schulbetrieb hat nichts Anregendes für den Jungen. Und die Mareaden spornen ihn auch nicht an. In Breslau war ein ganzer Kreis strebender Knaben aus Häusern, in denen geistiges Leben gepflegt wurde – wenn Günther da auch keinen Ehrgeiz zeigte, so doch redliches Bemühen, sich auf der Höhe zu halten. Hier wirkt kein Klassengeist auf ihn ein, mit seinen geistigen Interessen steht er ziemlich allein, Anschluss findet er kaum. So erscheint ihm die Schule durchaus als Nebensache, er arbeitet nur das Nötigste, um sich zu Hause in seinem Reich ganz seinen Interessen widmen zu können." (Tagebuch VIII / Günther / Januar 1917)

Seinen Hang, Autoritäten in Frage zu stellen, könnte man natürlich auch der heraufziehenden Pubertät zuschreiben, doch die schulischen und persönlichen Probleme waren, wie obiges Zitat zeigt, auch durch den Verlust der ursprünglichen Freundschaftsbeziehungen bedingt. Er war fremd in einer fremden Stadt, und er würde ab jetzt immer ein Fremder bleiben, egal wo auch immer es ihn hinverschlagen mochte. Die Familie als Hort der Sicherheit begann mit dem Erwachen seines kritischen Denkens, seinem philosophisch-politischen Verhältnis zur Welt und dem Umzug nach Hamburg zu bröckeln. All diese Ereignisse führten dazu, daß sich auch das Verhältnis zum Vater, weil dieser den politischen Vorgängen in Deutschland eher naiv gegenüberstand, änderte.

Wie viele andere mußte auch der Vater zur Verwendung als "ungedienter Landsturm 2. Aufgebot" antreten: "Vorläufig suche ich dem Vaterland zu nützen durch die Leitung der ‚Versandstelle für Auslandsaufklärung‘, die in dem halben Jahr ihres Bestehens doch schon so manchen Nutzen gestiftet hat." (Lück 1994:92) William Stern betrachtete seinen Dienst als Pflicht: Schließlich war Krieg, da mußten persönliche Einzelinteressen zurückstehen – so seine Haltung. Gleichzeitig sorgte er sich aber um das Schicksal der Schlesier: "Der schmerzliche Fall Przemysls verringert auch das Sicherheitsgefühl, in dem wir Schlesier uns einige Monate wiegen konnten. Hoffentlich können wir bald wieder lichter sehen." (Lück 1994:92) Im Gegensatz zu seinem Sohn, der den Krieg 1917 ebenfalls im Hilfsdienst erlebte, bezog der Vater jedoch aus seinen Erlebnissen keine radikale Antikriegshaltung, sondern verteidigte sein Vaterland.

Zu Hause in Hamburg erlebte Günther Anders den Krieg als Notstandserfahrung, als Einschränkung im Alltag, vor allem in Hinblick auf die Sicherung des täglichen Nahrungsmittelbedarfs, der ja weniger aus einer Armutssituation resultierte, sondern aus einer grundsätzlichen Verknappung der Lebensmitteln. Einschneidender und nachhaltiger wirkten sich seine beiden Aufenthalte im Zuge militärischer Hilfsdienste aus. Im Juli 1917 war er mit Land- und Erdarbeiten auf einem "gräflichen Gut" beschäftigt, im September 1918 befand er sich im Ernteeinsatz in Frankreich. In diesen wenigen Wochen änderte sich seine Sicht auf die Welt radikal. Er wurde mit einer Welt konfrontiert, die er in dieser Form nicht kannte und mit der er längere Zeit nicht umgehen konnte. Vielleicht war dieser Verlust des selbstverständlichen Weltumgangs auch eine Triebfeder dafür, sich mit den Ursachen des Krieges und des Weltverlustes auseinanderzusetzen, um sich mit der ihm fremd entgegentretenden Welt zu arrangieren. Er wurde mit gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert, die ihm unfreiwillig den Status des Außenseiters aufzwangen: "Als Jungmanne kam er dann Ende Juli mit Kameraden auf ein sogen. Gräflich Gut zur Erntehilfe. Er war der Jüngste und Kleinste, und der unwirrsche Verwalter, dem die ganze jugendliche Erntehilfe nicht passte, murrte ihn an: ‚kleine Kinder können wir nicht brauchen‘. Das hätte ja Günther nicht angefochten – es waren andere Ursachen, die ihn nach 8 Tagen heimkehren liessen. Er konnte keine Nacht vor Ungeziefer schlafen, so dass er allmählich in eine ziemlich verzweifelte Stimmung geriet. Er hauste mit 4 Kameraden in einem feuchten Kellerraum – seine Sachen rochen alle muffig, als wir sie auspackten –, die Bettpritschen waren sehr unbequem und nachts soll es – da immer ein Eimer für alle Fünf vorhanden war – und keinerlei Beleuchtung – recht unsauber zugegangen sein. Hätte Günther wenigstens schlafen können, so wäre er wohl tapfer geblieben. […] Der Contrast war für unseren Jungen vielleicht zu plötzlich und zu gross gewesen. Aus seinem sauberen, mit Geschmack von ihm selbst dekorierten Zimmer, aus seinem guten, reinen Bett kam er in eine nasse unterirdische Behausung, die er mit anderen teilen musste, kam er in eine Lagerstatt, wo ihm die Flöhe keine Ruhe liessen." (Tagebuch VIII / Günther / 22.2.1918)

Ein Jahr später mußte er neuerlich zu einem Ernteeinsatz, wo er mehrere Wochen verbrachte, ein Jahr gereifter und wie der Vater schrieb: "Günther ist kürzlich von seiner Landarbeit aus der Etappe zurückgekehrt, wo er ein Vierteljahr zusammen mit hunderten von Jungmannen gearbeitet hat; er ist körperlich gestahlt, seelisch hat er so manches durchgemacht." (Lück 1994:115) Was hier vom Vater als Landarbeit in der Etappe dargestellt wurde, war in Wahrheit ein Ernteeinsatz für die Armee. Günther Anders sah dort "die ersten Kriegsverstümmelten und die erniedrigende Behandlung der französischen Zivilbevölkerung durch die Besatzer". (Schubert 1992:17)

Bei Günther Anders hört sich die ganze Geschichte um einiges dramatischer an: "Ich war der einzige ‚Nichtarier’ in dieser Gruppe, und das war schon damals Grund genug, um mich zu entwürdigen. Tatsächlich wurde ich jede Nacht gequält, nein: gefoltert; vieles, was 16 Jahre später Hunderttausenden angetan wurde, wurde damals schon mir angetan. Ich war ein ‚Avantgardist des Leidens." (Greffrath 1979:27)

Es ist kaum zu glauben, daß diese drei Schilderungen denselben Erlebniszustand wiedergeben. Rückblickend zeigt sich, daß Günther Anders die präkeren Bedingungen damals nicht nur als bedrohlich erlebte, sondern auch die politischen Schlüsse, die es daraus zu ziehen galt, auf Dauer nicht ignorieren konnte. Für die Eltern blieb es nur eine Erfahrung, die von einem vollkommen anderen Alltag geprägt war als dem, den er von zu Hause in Breslau oder Hamburg gewohnt gewesen war. Der Krieg als solcher, die soziale Position, die Günther in dieser Situation zugewiesen wurde, spielten in ihren Aussagen keinerlei Rolle. Umso gewichtiger waren sie für ihren Sohn. Ob er tatsächlich ein Avantgardist des Leidens war, sei dahingestellt, aber daß er seit dieser Zeit intellektuell keinen Fuß mehr in das Haus seines Vaters und seiner Mutter gesetzt hat, ist wohl kaum verwunderlich.

Was folgte, war ein sechs Jahre dauernder Loslösungsprozeß vom naiven Humanismus des Vater, der an das Deutsche Erbe glaubte, und von der Familie, die in all ihrer Idylle nicht mehr verbergen konnte, daß die Welt eine Welt des Krieges war, mit realen Auswirkungen auf die eigene persönliche Existenz. Fernab vom heimatlichen Hamburg machte er erste Schritte in der Analyse des Krieges und begann seine theoretischen und philosophischen Konzepte zu entwickeln. Diese Analysen führten im Rückblick auch dazu, daß er das Verhältnis des Vaters zum Krieg nochmals in Frage stellte: "Und trotzdem. Angenehm ist mir der Gedanke an meinen so naiven Vater im Zusammenhange mit dieser waffenklirrenden Ausstellung nicht. Um so weniger, als er sich ja nicht etwa darauf beschränkte, mir die Ausstellungsbesuche zu ermöglichen, sondern als er an manchen Sonntagen sogar Mutter und uns drei und Else in die Straßenbahn hineinpackte, um dann mit uns den ganzen Tag dort zu vebringen, so als bildeten die Musketen und die Fahnen eine Art von Louvre, oder als sei der Vergnügungspark der Ostseestrand. Schließlich war ja Vater damals schon dreiundvierzig Jahre alt, also ein reifer Mann, und ein Erzieher, sogar einer, der das Wort ‚Erziehung‘ kaum je in den Mund nahm, ohne das Wort ‚Reform‘ folgen zu lassen; und ein Wissenschaftler, und sogar einer, der das Wort kaum je verwendete, ohne ihm nicht das Schmuck-Adjektiv ‚vorurteilsfrei‘ anzuhängen. […] Vielleicht klingt das alles so, als ließe ich es an Liebe und Hochachtung ihm gegenüber fehlen. Ach, gewiß nicht. Die verspüre ich selbst heute noch, nicht weniger als damals. Was ich über ihn sage, das sage ich ja nicht eigentlich über ihn, sondern über alle seinesgleichen, über eine ganze Generation. Und daß er dieser zugehört hat, das ist seine Schuld ja nicht gewesen." (Anders 1979:156-157)

Nach seinem Ernteeinsatz im Jahr 1918 kehrte er zwar physisch in sein Elternhaus zurück, aber psychisch hatte er sich abgekoppelt, denn nach der behüteten und abgeschotteten Kindheit war das wirkliche Leben in seine Existenz eingebrochen. Dieses Leben, diese Existenz, die sich immer schon hinter seinem Elternhaus verborgen hatte, bestand in all den Grausamkeiten, die Menschen in der Lage sind, anderen Menschen anzutun:
"Ich sitze im Walde auf bemoostem Gestein,
Es rührt der Wind die Bäume;
Ich ziehe die Gottesluft in mich ein
Und sitze, geniesse und träume.
Ich höre das Preislied der Nachtigall,
Des lustigen Baches Geriesel,
Des donnernden Wasserfalls mächtigen Schwall,
Sehe Bäume, Tiere und Kiesel.
Doch ein furchtbares Gruseln in mich stieg:
Mich gruselt entsetzlicher Frieden!
Ich rufe mir zu: es ist Krieg, es ist Krieg!
Der Friede ist immer geschieden."
(Tagebuch VIII / Günther / 6.5.1916)

Er geriet am Beginn der Pubertät in einen ab nun für immer geschiedenen Frieden, in die erste Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Monarchie als statische Ordnung, als bestimmende Herrschaftsform und der Humanismus als philosophische Lebensform brachen zusammen. Die Welt, die Günther Anders bis dahin kannte, implodierte im Ersten Weltkrieg, und damit auch seine Familie. Jenseits dann, außerhalb, tat sich ein Abgrund auf, der millionenfach Menschen verschlang, in den Orkus zog, in den Hades. Und dieser Hades war schon während seiner glücklichen und geglückten Kindheit vorhanden. Durch die Erkenntnis, daß der Friede seiner Kindheit nichts weiter war als eine Illusion, war ihm als wahrheitsliebendem Menschen die Rückkehr in das friedvolle und goldene Zeitalter verwehrt. Später, 1966, versuchte er noch einmal, diese Kindheit aufzufinden, in dem er nach Breslau zurückkehrte, auf der Durchreise, von Auschwitz kommend, aus dem Hades des Zweiten Weltkriegs. Spätestens ab diesem Zeipunkt mußte er zur Kenntnis nehmen, daß Rückkehr unmöglich war.

Später wird Günther Anders diesen existentiellen Bruch in seiner Jugend umdeuten und mit den vollkommen überzogenen Worten, er sei ein Avantgardist der Vernichtung gewesen, auf den Nationalsozialismus und die Auslöschung der Juden beziehen. Was im philosophisch-politischen Sinne eine unangemessene Aussage darstellte, war auf sein eigenes Leben gemünzt absolut korrekt. Er war von einem Tag auf den anderen aus dem Paradies seiner Kindheit vertrieben worden, ausgesetzt dem Schmerz und dem ohnmächtigen Gefühl gegenüber den Schlägen seiner Kameraden im Feld. Was er bereits in seinen früheren Gedichten vorweggenommen hatte, wurde so zur Realität. Die Kindheit endete.

Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendlichen mußte Günther Anders kein Elternhaus erdulden, das ihn brechen und unterwerfen wollte. Seine Tragödie bestand darin, daß die Eltern nicht in der Lage waren zu vermitteln, daß außerhalb des sozialen Ortes Familie noch eine andere Welt existierte, eine grausame, ungerechte, tödliche. Als der junge Stern in der Implosion des neunzehnten Jahrhunderts, in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, dies erkannte, vollzog er einen intellektuellen Bruch mit der Welt des Vaters und der Mutter. Dies hatte weitreichende Konsequenzen für sein späteres Leben. Vor dem Hintergrund eines Krieges war aus der Heimat ein Lügengebäude geworden, eine Fassade, eine Oberfläche Die bürgerliche Familie, der familiäre Brutkasten, entpuppte sich als humanistische Enklave, in die der wahrheitsliebende, verzweiflungssüchtige Günther Stern nicht mehr zurückkehren konnte. Insofern kommt der letzten Eintragung, die die Mutter in ihrem Tagebuch über Günther Anders machte, datiert vom 23. Februar 1918, eine besondere Bedeutung zu: "Kein Wunder, dass er die Monate zählt, bis er sie hinter sich haben wird, und trotz des Wunsches, dass endlich einmal Friede werden möge, vom Notabiturium träumt. Ein Leuchten überfliegt sein Gesicht, wenn er an die Studentenzeit denkt: ‚Wenn ich erst in Heidelberg bin …‘ – so phantasiert er. Einstweilen hat er sich noch tüchtig anzustrengen. Die Ersatzlehrerschaft wird hoffentlich nicht zu jenen ‚Ersatzmitteln‘ gelten; (man denke an Zuckerersatz durch Zuckerrüben) denn sie bringt es fertig, kluge und begabte junge Menschen fast versagen zu lassen." (Tagebuch VIII / Günther / 23.2.1918)

Günther Anders strebte aus dem Haus, unaufhaltsam. Er machte sich auf den Weg, die intellektuelle Abnabelung auch physisch zu vollziehen. Emotional jedoch blieb er seiner Familie immer verbunden. Noch im Exil suchte er die räumliche Nähe zu seinen Eltern. Eine unaufhörliche Pendelbewegung zwischen den Orten, an denen er sich gerade befand, und den Orten, wo die Eltern oder seine Geschwister lebten, zeugt davon, daß der intellektuelle Bruch nicht zu einem emotinalen geführt hatte.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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