literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum
blättern [zurück] [weiter]
Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


Das wahre Wort

"Woher ich kam, vergaß ich. Wie ich heiße, ist einerlei. In jedem Grenzhaus klingt mein Name anders. Welcher Mastbaum wüßte den Wald, aus dem er herstammt? 'Ohnesprache' heißt meine Mundart. 'Niezuhausesein' mein Ruhebett. Und mein vertrautester und liebster Traum ist, fremd am Horizonte, ein neuer Kai, der deutlich höhersteigt." Der gefangene Cid [1948]. Günther Anders. München 1985f: 296.


§ 16 | Bezugspunkte

Lange bevor Wien an Günther Anders' Lebenshorizont heraufdämmerte, zog es ihn wie viele seiner philosophischen Zeitgenossen nach Marburg, in die Seminare von Martin Heidegger, den er bereits in Freiburg gehört hatte. Mit seinem Umzug nach Marburg wechselte er nicht nur den Ort, sondern nahm auch einen neuen Freundeskreis an, der seinem Vater nicht mehr zugänglich war, und verließ den bürgerlichen Brutkasten. In den Jahren zwischen 1925 und 1929, in die die Begegnungen mit den wichtigsten philosophischen und persönlichen Wegbegleitern seines Lebens fielen, knüpfte er sein soziales Netz, indem er einerseits intensive Bindungen aufbaute, wie im Falle Hannah Arendt oder Hans Jonas, und andererseits leidenschaftlich Abgrenzungen verfolgte, wie zu Theodor W. Adorno. Günther Anders konnte sich zwar intensiv auf Menschen einlassen, aber gegebenenfalls maß er diesen Bindungen und Freundschaften keinen so hohen Stellenwert zu, daß er dafür bereit gewesen wäre, sein Denken oder das, was er für die Wahrheit hielt, zu modifizieren oder gar aufzugeben. Dennoch zeigt die Art und Weise, wie er mit den Menschen aus seinem ersten sozialen Netz umging, daß er bemüht war, die Bindungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren bis ins hohe Alter aufrechtzuerhalten und Differenzen mit diesen Personen immer wieder aus dem Weg zu räumen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fand er, neben seinen Ehefrauen, wohl nur noch zu einer Person ein ähnliches Verhältnis wie zum Kreis in Marburg – zu Robert Jungk, dem politischen Bruder, als Physiker kompetent in der Sache und als politisch Engagierter ebenso getrieben von seinen Überzeugung wie Günther Anders selbst.

Angelpunkt seines Bezugssystems in Marburg war Martin Heidegger – Zentrum und gleichzeitig Reibebaum der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, der neue Stern am philosophischen Himmel. Hans Jonas beschrieb in seinen Erinnerungen Günther Anders‘ Position im Kreis um Heidegger folgendermaßen: "Ein auffälliges Kennzeichen des Kreises, der sich in diesen Jahren meiner Promotion in Marburg um Heidegger scharte – etwa 12 bis 15 Philosophen, darunter neben Hannah Arendt, Gerhard Nebel und mir noch Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger und Günther Stern –, bestand darin, daß wir alle apolitisch waren. Eine Ausnahme bildete Günther Stern, der bei Husserl promoviert hatte und nun bei Heidegger studierte und philosophisch von ihm beeinflußt war, sich aber politisch zum linksgerichteten Denker entwickelte. Das allein entfernte ihn von Heidegger, von dessen Warte aus zu den brennenden Problemen der Sozialgeschichte und des politischen Geschehens der Zeit nichts zu sagen war." (Jonas 2003:122)

Vielleicht erklärt diese Aussage von Hans Jonas auch ein wenig, warum Günther Anders sich Zeit seines Lebens mit Martin Heidegger auf theoretischer und persönlicher Ebene auseinandersetzte und sich gleichzeitig immer wieder von ihm abgrenzte. Martin Heidegger war in den zwanziger Jahren nicht nur der heimliche König der Philosophie, sondern strahlte auch ein besonderes Charisma aus. Er war Schüler von Edmund Husserl, kam also von der Phänomenologie, von den Dingen, von der Existenz her auf die Welt zu, ohne, wie Günther Anders immer wieder betonte, diese wirklich zu betreten. Dieses Nichtankommen in der Welt war neben vielen theoretischen Einwänden, die Günther Anders gegen Heideggers Theorie vorbrachte, eine der wesentlichen Differenzen, die schließlich auch zur Abkehr von seinem Lehrer führte.

In Marburg entwarf Günther Anders in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und seinen Mitseminaristen erste Grundzüge seiner späteren Philosophie. Was ihn von vielen seiner philosophischen und politischen Zeitgenossen trennte, war sein Beharren auf einer Verknüpfung von wissenschaftlichen, journalistischen und literarischen Formen des Schreibens. Er wandte sich in dieser Zeit erstmals gegen die akademische Philosophie. Günther Anders war vom Herkommen ein Künstler, ein Schriftsteller, wurde aber durch seine familiären Bindungen und durch das Vorbild des Vaters zum Akademiker erzogen. Diese Spaltung zwischen Kunst/Schriftsteller und Wissenschaft/Philosoph begleitete ihn bis ans Lebensende und kennzeichnete auch wesentliche Teile seines Werkes.

Was Günther Anders an Martin Heidegger schätzte, war sein "Durchbruch, nicht nur zur Metaphysik, sondern zur Ontologie, die ihm nach mehr als zweitausend Jahren wieder gelungen zu sein scheint. In der Tat […] stand auch ich drei, vier Jahre unter seinem dämonischen ‚spell‘, selbst meine in den fünfziger Jahren verfaßte Kosmologische Humoreske kann Heideggers Einfluß nicht verhehlen, wenn ich auch Heideggers unerträglichen tierischen Ernst in eine ‚Fröhliche Wissenschaft‘ verwandelt habe." (Schubert 1987:22) In diesen zwei Sätzen deutet sich die Differenz klar an. Martin Heidegger ging die Philosophie mit tierischem Ernst an, Günther Anders zog in seinem künstlerischen Gestaltungswillen eine fröhliche Wissenschaft vor. Diese Fröhlichkeit fehlte aber nicht nur Martin Heidegger, wenn dem Eindruck von Hans Jonas aus der Marburger Zeit zu trauen ist: "An den Diskussionsstand fand ich rasch wieder Anschluß, doch die Heidegger-Kultgemeinde unter den Philosophiestudenten, die eine bigotte hochmütige Einstellung hatte und sich schon fast selbst den Besitz göttlicher Wahrheit attestierte, war mir schwer erträglich. Das war nicht Philosophie, sondern eine sektiererische Angelegenheit, fast wieder ein neuer Glaube, der mir im Tiefsten zuwider war." (Jonas 2003:108)

Was Marburg aber für Günther Anders vor allem bedeutete, war die Schaffung eines für ihn lebenslang bestehenbleibenden politisch-philosophischen Bezugssystems, das aus der heutigen Sicht wesentlich die deutsche Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat. Die Liste der Personen, die von 1925-1928 in Martin Heideggers Seminaren saßen, liest sich wie das Who-is-Who der deutschen Geistesgeschichte: Hannah Arendt, Hans Georg Gadamer, Hans Jonas, Karl Löwith, Herbert Marcuse, Walter Bröcker und Gerhard Nebel. Zwei dieser Personen nahmen in Günther Anders‘ Leben aus unterschiedlichen Gründen wichtige Positionen ein: Hannah Arendt als Frau und politische Denkerin; Hans Jonas als Freund und Philosoph.

Neben den sozialen Bezugspunkten steckte Günther Anders aber auch wesentliche Eckpfeiler seines Denkens ab, vor allem in Abgrenzung zu Martin Heidegger. Für Günther Anders war Heidegger nicht akzeptabel. Nicht nur aus politischen und philosophischen Gründen, sondern auch aus persönlichen. Er war ein Monolith in der philosophischen Welt, einer, der, wäre er ihm gefolgt, nicht zu überschreiten gewesen wäre. So führte Günther Anders‘ Eigenwille ihn auf den Weg einer originellen, eigenen Philosophie. Seine geistige Unabhängigkeit war bereits zu weit entwickelt, so daß der Wahrheitsanspruch, den Heidegger erhob, rasch mit seinem eigenen kollidierte. Dazu eine Erinnerung Günther Anders‘ aus dem Jahre 1984. Er besuchte seinen Lehrer zu Hause, eingeladen von ihm und seiner Frau zu einem guten Nudel-Abendessen. Er zitierte beim Essen einen Satz Voltairs: "Es genügt nicht, zu schreien, man muß auch Unrecht haben" und wandelte diesen in beiläufigem Tonfall ab zu: "‚Es genügt nicht, zu murmeln, man muß auch recht haben. ‘ Während sie [Elfriede Heidegger] natürlich überhaupt nichts verstand, blickte er mich einen Moment lang haßerfüllt an. Er fühlte sich durchschaut. Denn es war ja seine tägliche Taktik, durch nahezu unhörbares Murmeln eine totale Stille im Saal zu erzwingen und dadurch den Hörern einzureden, daß alles, was sie mindestens akustisch mitkriegten, auch ‚unverborgen‘, also wahr: die Wahrheit, sein müßte." (Anders 2001:11)

Auf die wesentlichen philosophischen Differenzen möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, dazu gibt es mittlerweile gut aufbereitete Sekundärliteratur und berufenere Kenner der Werke beider Philosophen. Empfohlen sei hier das Nachwort von Dieter Thomä zu den von Günther Anders verfaßten Texten, die aus dem Günther Anders Nachlaß von Gerhard Oberschlick herausgegeben wurden. (Oberschlick 2001) Hier nur einige Worte zur grundsätzlichen Kritik von Günther Anders an Martin Heidegger, die er in einem Interview einmal wie folgt formulierte: "Wo er Menschen noch nicht einmal Menschen genannt hat, sondern in einen ontologischen Singular: das ‚Dasein‘ verwandelt hat? Aber wie unkonkret er tatsächlich war, das habe ich erst zwanzig Jahre später in meinem Aufsatz On the Pseudoconcreteness of Heidegger’s Philosophy darstellen können." (Schubert 1987:23) Dieser Unkonkretheit hielt Günther Anders ganz klar eine Parteinahme für den Menschen entgegen. In einer Welt, in der der Mensch im Nationalsozialismus zum Produkt, zur Ware, zur Sache gemacht und in der globalen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft schließlich in eine Maschinenwelt einmontiert wurde, war eine Philosophie der Parteinahme für ihn unerläßlich.

Weiter formulierte er seine Kritik: "Ich warf ihm vor, daß er eigentlich nur die Zeit, aber nicht den Raum als 'Existential' behandelt habe. Zwar komme der 'Umraum' bei ihm vor. Aber nicht zufällig heißt ja auch sein opus magnum nicht 'Sein und Raum'." (Schubert 1987:23) Zeit und Raum jedoch sind zwei wesentliche Konstanten menschlichen Lebens. Eine davon auszublenden hieße, den Menschen nur zur Hälte in seinem Wesen und seinen Möglichkeiten zu beschreiben. Den Menschen als Wanderer, als Exilanten, als Fremden aufzufassen schien Heidegger nicht möglich: "Ich machte ihm den Vorwurf, daß er den Menschen als Nomaden, als Reisenden, als Internationalen ausgelassen, daß er die menschliche Existenz eigentlich als pflanzliche dargestellt habe, als die Existenz eines Wesens, das eingewurzelt sei an einer Stelle und diese Stelle nicht verlasse." (Schubert 1987:24) Der Mensch ist aber nicht nur ein historisches Wesen, sondern auch ein geographisches. Um sich die Welt in seiner Zeit anzueignen, vor allem in einer globalisierten, technisierten, flexiblen und mobilen, muß der Mensch sich auch durch den Raum bewegen. Für Günther Anders ist der Mensch nicht nur in der Welt, sondern ist ihr auch gleichzeitig fremd, also ein Stück weit selbst Welt. Nur in der Welt zu sein bedeutet, auch ohne Bewegungsimpuls auszukommen, in ihr fremd zu sein heißt, sie sich aneignen, bedeutet, sich in sie hinein- oder auf sie zuzubewegen, also den Ort der Geburt (philosophisch und persönlich) aufgeben zu müssen. Insofern unterscheiden sich Martin Heidegger und Günther Anders wesentlich in den Konsequenzen der gleichen Erkenntnisse. Der Lehrer versuchte immer wieder zu sich selbst zurückzukehren, in sein Denken, in seine kleinbürgerliche Welt. Günther Anders, der Schüler, ging aus sich heraus, auf die Welt zu, in sie hinein, um sie nach seinen Vorstellungen zu gestalten: "Es gibt den berühmten Ausspruch von Marx: ‚Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.‘ Aber das reicht nicht mehr. Heute genügt es nicht, die Welt zu verändern, es kommt darauf an, sie erstmal zu bewahren. Dann wollen wir sie verändern, und sehr, sogar revolutionär." (Schubert 1987:46)

Auch in diesem Zitat offenbart sich eine der wesentlichen Unterschiede zwischen Günther Anders und Martin Heidegger. Während der Schüler aus seiner Theoriebildung die Konsequenz zog, sich einmischte und in die Praxis desertierte, der rein geistigen, also philosophischen Welt entfloh, um seine Einsichten in der Welt politisch durchzusetzen, blieb der andere, der Lehrer, abstinent, in seiner akademischen Sphäre gefangen. Grund dafür könnte natürlich auch die unterschiedliche Herkunft der beiden Philosophen sein. Sie gehörten verschiedenen Jahrhunderten, und somit unterschiedlichen Denkweisen an. Martin Heidegger kam aus einer neuzeitlichen Handwerks- und Handelsgesellschaft, und so interpretierte Günther Anders auch die Geburtskonstellation von Sein und Zeit folgendermaßen: "Was nicht in seine Philosophie einging, war die Tatsache der Industrialisierung, der Demokratie, der Weite der heutigen Welt, der Arbeiterbewegung – denn Heidegger ist provinzieller Mittelständler. Was dagegen zusätzlich dem Ganzen seine eigentümliche Düsterkeit und Feierlichkeit verleiht, ist Heideggers Herkunft aus der katholischen Theologie, die seiner ästhetischen Lehre die Farbe seiner Religion mitteilt." (Anders 2001:42-43)

Günther Anders hingegen wurde in die Welt des aufstrebenden Industriekapitalismus hineingeboren, erlebte die Front des Ersten Weltkrieges hinter den Linien, erkannte nicht zuletzt auch auf Grund der Lektüre der Bücher seines Vaters, daß Person und Sache getrennt voneinander existieren; durch die frühen Erfahrungen von Emigration und Exil in den USA, daß der Mensch auch einmontiert ist in einer maschinenhaften Industriegesellschaft, in einer sich immer stärker technisierenden Zivilisation. Wieder einmal hatte sich Günther Anders konsequent von einer Theorie und seinem Vertreter abgesetzt, hin zu Menschen, die ihm näher standen und auch ein Leben lang näher blieben: Hannah Arendt und Hans Jonas.
blättern [zurück] [weiter]
[Zitierte Literatur] | [Abkürzungsverzeichnis] | [Zeittafel]

eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
index: [a] | [b] | [c] | [d] | [e] | [f] | [g] | [h] | [i] | [j] | [k] | [l] | [m] | [n] | [o] | [p] | [q] | [r] | [s] | [t] | [u] | [v] | [w] | [x] | [y] | [z]


literaturgeschichten | chronos | kommentar | publikationen | index | downloads | impressum