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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 18 | Hannah Arendt

Vorausschicken möchte ich an dieser Stelle, daß die Forschung zu den biographischen Begebenheiten zwischen Günther Anders und Hannah Arendt noch in den Kinderschuhen steckt und auf Grund der Tatsache, daß alle beteiligten Personen mittlerweile tot sind, diesen wohl auch nicht mehr entwachsen wird. Die einzige mir zugängliche Quelle für die Ehejahre 1929-1933 war neben den Texten und Briefen aus dem Nachlaß von Günther Anders die Biographie zu Hannah Arendt von Elisabeth Young-Bruehl, die im englischen Original 1982 und in deutsch 1986 erschien. Schon im Vorwort deutet die Autorin ein Problem an, wenn sie als Interviewpartnerin Eva Michaelis-Stern angibt, aber Günther Anders unerwähnt läßt. Vielleicht hat sich Günther Anders ja geweigert, mit ihr über Hannah Arendt zu sprechen, doch die Nichtbefragung von Günther Anders führte nicht nur im Falle von Elisabeth Young-Bruehl, sondern auch bei anderen Autoren und Autorinnen zu Fehleinschätzungen und Ungenauigkeiten in der Betrachtung dieser wohl außergewöhnlichen Beziehung.

Vielleicht begründet sich die oberflächliche, oft sehr kurze und wenig detailreiche Darstellung der Beziehung durch die Eheleute selbst auch darin, daß Hannah Arendt und Günther Anders ihre Ehe als Privatsache betrachteten. Sie war ein Aspekt ihres Lebens, der nichts mit ihrem philosophischen Werk, ihren politischen Einsichten und ihren schriftstellerischen Karrieren zu tun hatte.

Im Gegensatz zu den meisten Männern, mit denen Günther Anders ausgeprägte Feindschaften und distanzierte Freundschaften pflegte, gestaltete sich sein Verhältnis zu Frauen sehr intensiv. Auch wenn Scheidungen seine Ehen offiziell beendten, blieb er den jeweiligen Frauen sehr verbunden. Vor allem im Falle seiner ersten Frau Hannah Arendt läßt sich diese enge Bindung über alle Widrigkeiten hinweg deutlich nachweisen. Er griff sie nie direkt an, verfolgte auch nach der Trennung ihre Laufbahn sehr aufmerksam, sprach selten ein böses Wort über jene Frau, die nach seiner Mutter wahrscheinlich seine erste und einzige große Liebe gewesen ist – bis in den Tod. Warum Hannah Arendt für Günther Anders von derart großer Bedeutung werden konnte, erklärt sich aus seiner Erfahrung mit Frauen in der Kindheit und dem Verhältnis, das seine Mutter zu seinem Vater gepflegt hatte und umgekehrt.

Günther Anders lernte Hannah Arendt 1925 in Marburg kennen, sie war zu diesem Zeitpunkt schon die Geliebte von Martin Heidegger, und ihr Ruf als brillante Studentin eilte ihr voraus. Es gab wohl kaum jemanden, der sich ihrer Faszination als Frau und Philosophin entziehen konnte: "Nun brauche ich nicht viele Worte darüber zu verlieren, was für eine faszinierende, anziehende Person sie war, was für ein Ausnahmewesen. Es gehörte kein besonderer Scharfblick dazu, das zu erkennen, stand es doch in ihren Augen und in ihren Zügen geschrieben." (Jonas 2003:112)

Auch Günther Anders dürfte dieser Faszination erlegen sein. Aber erst 1929, als beide sich bereits in Berlin aufhielten, kam es zu einer intimen Beziehung und schließlich noch im selben Jahr zur Eheschließung. Wiedergetroffen hatten sich die beiden auf einem Benefizball, der von einer marxistischen Gruppe organisiert wurde: "Der Ball fand im Museum für Völkerkunde statt, und die Gäste kamen in entsprechend exotischen Kostümen – Hannah Arendt hatte sich als arabisches Haremsmädchen verkleidet. Sie verbrachte den Abend mit dem jungen Philosophen Günther Stern." (Young-Bruehl 2004:128)

Hannah Arendt als Haremsdame. Das mußte auf Günther Anders, dem ja nachgesagt wurde, daß er durchaus für schöne Frauen empfänglich war, nicht nur erotisierend, sondern auch wie ein endlich eingelöstes Versprechen aus Kindertagen wirken. Das Versprechen gab ihm damals in Breslau, an einem heißen Augustabend, siebenjährig, im Hof des Wohnhauses die Hausmeisterstochter Pauline Matuschke. Er beobachtete sie bei ihren Turnübungen, dem Kniehan an der Teppichklopfstange, wo er sie "nun in restloser Nacktheit, so wie Gott der Herr sie geschaffen, nein, wie Fräulein Matuschke sie geboren" hatte, erblickte. In diesem Moment wurde ihm wohl klar, daß Frauen mehr sein konnten als nur Mütter, daß es unter all den alltäglichen Gegenständen "etwas ganz Spezielles gab, eine Sorte von Dingen, die sich von den anderen grundsätzlich und aufs erregendste und aufs herrlichste unterschieden, und die, obwohl merkwürdigerweise hineingemischt in die anderen alltäglichen Dinge, doch einem völlig anderen Planeten zuzugehören schienen." (Anders 1979:147-148) Frauen und die Beziehungen zu Frauen gehörten also nicht zur Welt der alltäglichen Dinge, sie gehörten einer anderen Sphäre an, und so auch seine spätere Ehefrau Hannah Arendt.

Diese andere Sphäre repräsentierte auch schon in der Familiensituation die Mutter. Sie war, wie Else das Kindermädchen, obwohl zuständig für die alltäglichen Dinge, dennoch etwas Besonderes. Sie war nicht nur einfach der weibliche Elternteil, sie war auch nicht einfach nur eine erwachsene Schwester, sie fiel in eine besondere Kategorie: "Der Junge braucht viel Zärtlichkeit und findet sie eigentlich nur bei mir und dem Vater. Hilde und Eva sind ihm gegenüber sehr spröde; das empfindet Günther besonders bei Eva. Er will sie küssen und lieb haben – sie stösst ihn zurück. Er ist ihr gar zu oft übertrieben wild und raufboldig nahe gekommen – da hat sie kein grosses Vertrauen zu seiner Sanftmut. Es ist geradezu rührend, Günther um einen Kuss betteln zu sehen. Weigert ihn Eva, dann wird er natürlich heftig und versucht, ihn zu rauben. Manchmal gelingt es mir, Evchen zu bestimmen, dem Bruder ‚freiwillig‘ ein Küsschen zu schenken. Dann ist Günther beglückt. Manchmal in letzter Zeit springt er auch zu Hilde, ihr einen Kuss zu geben – umgekehrt habe ich‘s noch kaum erlebt. (Tagebuch VIII / Günther / 8.1.1913)

Günther Anders wurde als Kind nicht als distanziert beschrieben. Er konnte charmant und sehr einfühlsam sein. Wie jedes Kind sehnte er sich nach Zärtlichkeiten und nach liebevollen Berührungen und war in der Lage, diese auch zu erwidern: "Günther‘s Liebe zu mir äussert sich jetzt anders als früher. Er ist zugleich sanfter und stürmischer. Oft streichelt er mir über Haare und Backen, dazu sprechend: ‚Mutti, Du bist schön‘, oder: ‚Warum hast Du Dich nie malen lassen?‘ ‚Du bist meine Mutti‘, ‚Guck mich mal mit einem warmen Blick an, mit so einem recht warmen, der durchdringt‘. Dann macht er mir Vorwürfe, halb ernst, halb humoristisch: ‚Bei dem Kuss hast Du an Brotmarken gedacht, das war kein richtiger‘ oder ‚Sag mal offen, jetzt denkst Du an Wirtschaft‘ – diese Vorwürfe lieben Eva und Günther seit einiger Zeit. […] Oft kommt er bettelnd: ‚Jetzt wollen wir uns mal ganz lieb ansehen‘, ‚jetzt wollen wir uns mal ganz lieb umarmen‘ – bei diesem Umarmen nun kommt sein stürmisches Temperament zum Durchbruch. Er presst mich fest an sich, und ist unzufrieden mit meinem sanften Gegendruck; ich soll ihn auch so kräftig umarmen – plötzlich hebt er mich in die Höhe und trägt mich im Zimmer herum, um mich endlich lachend niederzusetzen. Ich sprach gestern mit dem Vater über meine Vermutungen. Günther liebt auch den Vater innig, aber seine Zärtlichkeitsbeweise haben eine ganz andere Nuance ihm gegenüber. In der Liebe zur Mutter zeigen sich unzweifelhaft die ersten Regungen des Jünglings. Er selbst ist ein ahnungsloses Kind und gibt sich dem Glücke hin, Zärtlichkeiten mit der Mutter zu tauschen. Oft, wenn er vorm Einschlafen liegt, muss ich mich noch einmal auf sein Bett setzen, ihm die Hand geben und ihn ‚lieb angucken‘. Dabei braucht er Ausdrücke, die er nie gehört hat, die er sich förmlich abringt, und die wie die Worte eines Liebenden klingen. Dass er diesen Vorgängen ahnungslos gegenüber steht, wird durch etwas anderes bewiesen: er ist noch ebenso unbefangen mir gegenüber wie ein dreijähriges Kind. Gerade dieser Mangel an Scham – ich möchte ihn einen Vorzug nennen und man wird meinen Gedankengang begreifen – gerade dieser Mangel wirft ein helles Licht auf die Lauterkeit seiner Gefühle. Er stellt sich jeden Abend splitternackt vor mich hin, wäscht sich vor mir und freut sich kindisch, wenn ich ihm sehr ausnahmsweise die Arbeit des Waschens abnehme. Er erzählt mir völlig unbefangen, dass sein Vetter schon einen ‚Urwald‘ habe, er sei so frühzeitig entwickelt – unter diesem Worte versteht er lediglich die äusseren Anzeichen der Männlichkeit. (Tagebuch VIII / Günther / Januar 1917)

Diese Beschreibung steht im Widerspruch zu jenem Günther Anders der späten Jahre: der abweisende, der nörgelnde, der schwierige, der nervige Philosoph. Es gab offensichtlich einmal einen jungen Günther Stern, der in der Lage war, mit seinem Charme, Frauen für sich einzunehmen. Neben dieser emotionalen Beziehung zu Frauen, die sich aus der emotional intakten Beziehung zur Mutter herleitete, gab es auch die intellektuelle Beziehung zu Frauen, die ebenfalls auf die Mutter zurückging. Clara Stern war neben ihrer familiären Funktion als Mutter auch eine hochbegabte Intellektuelle, die, wenn ich den Tagebüchern folge, die Kinder in all ihren Wissensfragen unterstützte und erste Ansprechpartnerin in der Befragung der Welt war.

Neben den erotisch-emotionalen, den intellektuellen Aspekten, die Frauen für sich in Anspruch nehmen konnten, lernte Günther Anders auch ein drittes Element kennen: die Frau als Partnerin in der Ehe. Die Beziehung zu Hannah Arendt war ein Versuch, die monogame, allumfassende Zweierbeziehung, die Wiliam und Clara Stern miteinander führten und die von den Kindern sehr bewundert wurde, nachzuleben. Letztlich haben alle drei Kinder versucht, diese Beziehung auf ihre Weise zu reproduzieren. Mit Hannah Arendt schien Günther Anders die Verwirklichung der elterlichen Vorbildehe noch am ehesten möglich zu sein. Auf Grund der unterschiedlichen Bedürfnislagen der beiden Beteiligten war die Beziehung allerdings zum Scheitern verurteilt.

Hannah Arendt wird nachgesagt, sie wäre nur aus Trotz die Ehe mit Günther Anders eingegangen, um Martin Heidegger zu überwinden. Dieser Mythos hält sich nach wie vor und wird von Buch zu Buch als Legende weitergesponnen und auch von ihr selbst und ihren Aussagen über die Beziehung heftig befeuert. Natürlich war Hannah Arendt nach der Beziehung mit Martin Heidegger aus der Bahn geworfen, natürlich suchte sie nach einem Ausweg, aber daß sie in Günther Anders nur einen Notnagel sah, ist mir sehr schwer vorstellbar. Wie auch immer. Die Begegnung in Berlin führte zumindest von Günther Anders‘ Seite her zu einer Liebesehe, die aus seiner Sicht zwei Elemente, die Frauen in einer Beziehung für ihn repräsentieren konnten, erfüllte. Die Gleichzeitigkeit von emotional-erotischem Verhältnis und künstlerisch-intellektuellem Austausch, die in dieser Beziehung zweifellos existierte, läßt sich wohl am ehesten an der Kirschenszene aus dem Hannah Dialog illustrieren, den Günther Anders 1984 schrieb und der sich im Österreichischen Literaturarchiv befindet. Günther Anders beschrieb dabei ein Gespräch zwischen ihm und seiner Frau, basierend auf Notizen, die er 1975 kurz nach Hannah Arendts Tod gemacht hatte. Ort der Szene, die die Rahmenhandlung für den Dialog bildet, war "der enge Balkon des winzigen Siedlungshauses in [Ort unleserlich], in dem wir als Untermieter Zimmer, Kammer und Miniaturküche bewohnten. Hannah hatte bereits ihre denkerisch ganz selbständige, freilich stilistisch unentwirrbare – Dissertation hinter sich, obwohl sie erst 22 oder 23 war. Sie war damals zugleich profund, frech, fröhlich, herrschsüchtig, schwermütig, tanzlustig – für die scheinbaren Widersprüche übernehme ich keine Verantwortung." (Anders 1984c / Hannah Dialog / LIT)

Die kurze Vorrede zum eigentlichen philosophischen Dialog strahlt in der Erzählung eine unglaubliche Sinnlichkeit aus, eine starke Emotion, die Günther Anders in seinem Erzählstil vor allem dann an den Tag legte, wenn es um die Charakterisierung von Frauen ging. Die beiden saßen also auf einem Balkon in Berlin, zwischen ihnen stand ein riesiger Korb voll Kirschen, die sie entkernten: "links und rechts von uns leere Marmeladeneimer, denn wir entkorkten die schwarzen, prallen Früchte, um sie einzukochen – was ihr, wie Kochen überhaupt, einen Heidenspass machte, und was sie ebenso beherrschte wie das Philosophieren. Die Kerne beförderten wir in den einen Eimer, das Fruchtfleisch in den anderen, bzw. in unsere Münder – was namentlich von ihr galt: denn ebenso süchtig wie nach Zigaretten wurde sie, sobald die Saison anbrach, nach Kirschen. Wirklich schluckte sie, nur so rasch wie möglich, um zu den nächsten zu kommen, die vielen Kugeln fast unzerkaut hinunter, gewiss oft plus Kern, zuweilen wohl plus Stiel und sie liebte es sogar, sich bei solchen frugalen Schlachtfesten nach Kinderart Kirschenzwillinge über ihre Ohrmuscheln zu hängen, was sich zwischen den dunklen Kastanienlocken sehr schön ausnahm. […] Unsere Münder und Hände waren dunkelrot verschmiert – was uns aber nicht genierte, da wir Kirschenblut nicht für unsauber hielten; und was uns auch nicht daran hinderte, miteinander aufs intensivste unserer selten unterbrochenen Alltags- und Liebelingsbeschäftigung nachzugehen" – zu philosophieren. (Anders 1984c / Hannah Dialog / LIT)

Daß diese Beziehung über weite Strecken partnerschaftlich geführt wurde, ist unbestreitbar, wie Hans Jonas schrieb: "Die Zusammenarbeit zwischen ihnen war intensiv und freundschaftlich, obwohl Hannah eine etwas dienendere Stellung einnahm und ihm bei seinen Arbeiten half, während sie gleichzeitig still an ihrer großen Arbeit über Rahel Varnhagen schrieb." (Jonas 2003:282) Diese freundschaftliche Zusammenarbeit mündete schließlich in dem gemeinsam geschriebenen und 1930 publizierten Text über Rilkes ‚Duineser Elegien‘. Im Gegensatz zur Frankfurter Zeit, an die sich Günther Anders als eine äußerst lebhafte erinnerte, "er und Arendt hatten Spaß an ihren neuen und politisch weitaus bewußteren akademischen Freunden, und nun wohnten sie auch sehr behaglich – in einer Küsterhütte am Mainufer", waren die Lebensbedingungen in Berlin und vor allem später in Paris einer gedeihlichen Beziehung nicht gerade förderlich. (Young-Bruehl 2004:135)

1930 übersiedelten die Sterns nach Berlin, und die Beziehung zwischen den beiden sich im Denken und in ihrer Persönlichkeit so ähnlichen Menschen begann sich abzukühlen. Was Günther Anders in den Jahren 1931 – 1933 nicht realisierte, weil er trotz aller Liebe der Überzeugung war, intellektuell und politisch über Hannah Arendt zu stehen, war, daß seine Frau sich zu einer selbständigen und überragenden Persönlichkeit entwickelte, die rasch auch im Pariser Exil zu einer beachteten Figur wurde, wie Hans Jonas festhielt: "Günther bildete sich ein, er habe hier eine wunderbare Gefährtin gefunden, merkte aber nicht, daß sie über ihn hinauswuchs und sich unabhängig von ihm geistig weiterentwickelte. Das stellte sich dann in Paris heraus, wo Hannah unter den Pariser Emigranten schnell eine vielbeachtete Figur wurde." (Jonas 2003:282)

Neben der ungenügenden Wahrnehmung der politischen und schriftstellerischen Entwicklung von Hannah Arendt dürfte auch der unterschiedliche Bekanntenkreis, den sich die beiden in Paris aufgebaut hatten, eine Erklärung dafür bieten, warum die Beziehung rasch an Intensität verlor. Während Günther Anders‘ Bekanntenkreis "weitgehend aus Künstlern, Journalisten und Intellektuellen, die direkt oder indirekt mit der kommunistsichen Partei zu tun hatten", bestand, umgab sich Hannah Arendt hauptsächlich mit Zionisten. (Young-Bruehl 2004:156) Diese beiden Bewegungen waren sich nicht gerade freundlich gesinnt. Zudem kam, daß die alltäglichen Dinge die Oberhand über die speziellen Dinge gewannen, wie Young-Bruehl feststellte: "Als zu den Differenzen zwischen ihren Tages-Kreisen, ihren Interessen und ihren Leistungen noch Meinungsverschiedenheiten über häusliche Alltagsfragen kamen, wurde die fehlende geistige Offenheit zwischen Arendt und Anders offenkundig." (Young-Bruehl 2004:158) Es offenbarte sich, daß hier zwei starke intellektuelle Persönlichkeiten nebeneinander lebten, von denen die eine die Beziehung nicht mit der gleichen emotionalen Beteiligung verfolgte wie die andere.

1933 flüchtete Günther Anders wenige Tage vor dem Reichstagsbrand nach Paris, wo seine eigentliche Emigration, sein Exil begann. Hannah Arendt folgte ihm wenig später, und sie lebten nun in einer Art Zweckgemeinschaft, traten in der Öffentlichkeit weiterhin als Ehepaar auf, gingen aber ansonsten getrennte Wege. Sie zogen von Wohnung zu Wohnung, lebten kurzfristig in einer Tanzschule und versuchten sich gemeinsam durchzuschlagen. Selbst Günther Anders‘ Eltern gegenüber blieb die Fassade aufrecht, wie William Stern 1934 festhielt: "Mit Sohn u. Frau hatten wir schöne Tage an der See in H." (Lück 1994:174)

Während Günther Anders Hannah Arendt über die Jahre hinweg verbunden blieb, schien sie auf Treffen mit ihm keinen Wert mehr zu legen. Im Gegenteil. Die Briefe, die sie an ihren zweiten Mann Heinrich Blücher und an Hans Jonas schrieb, zeigen eine tiefe Abneigung gegenüber ihrem ehmaligen Mann. Als Beispiel sei hier nur ein kurzer Satz zitiert: "Aber er veröffentlicht viel und ist quasi bekannt geworden." (Köhler 1996:427) In diesem quasi läßt sie ihre entwertende Haltung gegenüber Günther Anders erkennen. Es hat den Anschein, als hätten die Angriffe auf Günther Anders im selben Ausmaß zugenommen, wie seine Bekanntheit wuchs. 1957 hörte sich das noch ganz anders an, als Hannah Arendt einen durchaus wohlwollend klingenden Brief an Günther Anders schrieb: "Ich las sofort den Essay über die Atom-Bombe – der ist ausgezeichnet, das Beste, was darüber existiert. Vor allem, dass sie weder ein Ding noch ein Mittel ist, und dass es sich hier nicht mehr um Experimente handelt, weil die ganze Erde ein Laboratorium geworden ist. Ich hoffe, dass dies bald die Spatzen von den Dächern pfeifen werden, denn es sind ja eigentlich Binsenwahrheiten, wenn sie auch niemand weiss. Überhaupt wird es in nächster Zeit nur auf Binsenwahrheiten ankommen. Sehr gefallen hat mir auch Dein Entschluss, die ganze akademische Terminologie resolut fallen zu lassen und Dich nicht zu scheuen, zu moralisieren. Da Du ohnehin von Natur Moralist bist, kannst Du es herrlich." (Arendt an Anders / 9.1.1957 / LIT) Nur zwei Jahre später schrieb sie dann an Heinrich Blücher: "Er [Günther Anders] sieht sehr verändert aus, nicht einmal so viel älter, obwohl er strohweiß geworden ist, als irgendwie indefinable, runtergekommen, mit völlig verkrüppelten Händen, sehr dünn, sehr fahrig. Er denkt an nichts als an seinen Ruhm, völlig unbekümmert, leicht verrückt, vor allem ganz und gar wie seine Mutter, außer aller Realität lebend, alles mit einem Klischee bezeichnend. […] Kurz, er ist verhext, aber das eigentlich Unheimliche war die Ähnlichkeit mit seiner Mutter." (Köhler 1996:545)

Ich kann nur mutmaßen, was Hannah Arendt zu diesen Aussagen bewogen haben mag. Vielleicht wollte sie den Fehltritt, den Übergangsmann zwischen ihren beiden großen Lieben, Martin Heidegger und Heinrich Blücher, das Zwischenspiel Günther Anders, auslöschen. Wie beständig und unnachgiebig hingegen Günther Anders in seiner Liebe war, wie konsequent, zeigte sich nach dem Tod Hannah Arendts, nach beinahe fünfzehnjähriger durchgehender physischer Trennung. Zwar verließ ihn im selben Jahr seine dritte Ehefrau, aber der psychische Zusammenbruch, der in diesem Jahr folgte, hatte vor allem mit dem Tod Hannah Arendts zu tun. Briefe von Eva Michaelis-Stern und Hans Jonas zeigen, wie schwer Günther Anders dieses Ereignis getroffen hatte. Vielleicht litt er nach all den Jahren gerade am nun endgültigen Verlust jener Person, die es wie keine zweite auf persönlicher Ebene verstanden hatte, sein Denken zu beeinflussen, die ihm in der Suche nach der Wahrheit sehr ähnlich war. Was Hans Jonas in seinem Nachruf auf Hannah Arendt, den er am Riverside Memorial in New York hielt, sagte, könnte auch auf Günther Anders zugetroffen haben: "Doch wenn auch jede einzelne These im Fortgang des Denkens dahinschmelzen sollte – dies eine wird bleiben: Der Stil des Fragens und Erörterns, den sie eingeführt hat, ist eine Gewähr, daß keine billige Formel für die menschlichen Ordnungen durchgelassen wird, solange nur ihr Beispiel in Erinnerung bleibt." (Jonas / Rede 1975 / LIT)

Mit dem Tod von Hannah Arendt wurde Günther Anders von jener Person abgeschnitten, mit der er durch eine besondere Form des Denkens verbunden war, deren Wahrheitsliebe seiner eigenen entsprach. Vielleicht war dies der Grund für seine große Trauer, die auf Außenstehende übertrieben gewirkt haben mag. Günther Anders neigte zu Übertreibungen, nicht nur in Richtung Wahrheit in philosophischen und politischen Fragen, sondern auch in seinem privaten Erleben. Aber er hatte ein Mittel zur Verfügung, das es ihm erlaubte, auch diese tiefe Lebenskrise zu verarbeiten. So wie er sich gesellschaftlichen Phänomenen schreibend und denkend näherte, nicht um sie zu bewältigen, sondern um sie faßbar und ertragbar zu machen, um so mit und in ihnen weiterleben zu können, tat er dies auch nach dem Tod Hannah Arendts. In verschiedenen Variationen versuchte er in Texten, Briefen und Notizen gegen den Skandal des Nichtmehrdaseins seiner Exfrau anzuschreiben.

Letztlich bringt ein Text, den er zwei Wochen nach dem Tod Hannah Arendts geschrieben hat, sein Verhältnis zu ihr noch einmal auf den Punkt: "Dieser bleibt unfaßbar. Trotz der vier Jahrzehnte, die seit der Trennung an der Gare Lazare 1936 vergangen sind. […] Trotz ihrer Herrischkeit in every respect, die die Intimität schon bald ruiniert hatte. Trotz des unbegreiflichen Wechsels der Loyalitäten. Trotz der zwielichtigen Rolle, die sie, nach ihrer Herüberrettung nach Amerika, als philosophische Zementiererin des Kalten Krieges gespielt hat. Trotz der Kritiklosigkeit bei der Wahl ihrer engsten Freunde und Freundinnen. […] Trotz ihrer Anmassung sich als Weltrichterin, zuweilen auch als Spezialistin für ihr unbekannte Themen […] zu gerieren – trotz alledem bleibt die Tatsache, daß sie, die Geniale, die Hinreißende nicht mehr da-ist, angeblich nicht mehr dasein soll, absolut unfaßbar." (Anders / Notizen 1975 / LIT)
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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