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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 23 | Leben in der Endzeit

1950 erreichte Günther Anders den Ort, an dem er sich zum letzten Mal dauerhaft niederließ. Es waren die Jahre 1949 bis 1960, in denen er die wesentlichen Erkentnisse seines Denkens fand, die alle seine späteren Publikationen füllen sollten und schließlich in die Antiquiertheit des Menschen und den Band Schrift an der Wand mündeten. Vor allem die Schrift ist aus biographischer Sicht hochinteressant. Sie enthält die heute getrennt voneinander publizierten Bände: Tagebücher und Gedichte und Besuch im Hades. Die Schrift an der Wand besteht aus mehreren Einzelmanuskripten, die seine produktivsten publizistischen Jahre (1946-1966) dokumentieren. Neben Besuch im Hades sind hier vor allem zwei Texte zu nennen, die für das Verständnis von Günther Anders von großer Bedeutung sind: Wiedersehen und Vergessen und der kurze, aber sehr aufschlußreiche Essay Über Gedichte. Beide Texte setzten sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage, wie kann es nach Auschwitz weitergehen, auseinander.

Günther Anders war bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr neben den existentiellen Fragen in Bezug zu Hiroshima und Auschwitz vor allem auch mit der Wiedererlangung seiner Schreibfähigkeit beschäftigt. Hiroshima hatte ihn sprachlos gemacht, und die Analysen von Auschwitz lagen noch vor ihm, weil erst langsam die ganze grausame Wahrheit ans Licht kam. Seine Sprachfähigkeit, sein Wille, die Welt schreibend zu erfassen, mußte aus den dreißiger Jahren nach Wien, in das Europa der fünfziger Jahre gerettet werden. Dabei tat sich ein großes Problem auf. Er hatte, wie viele andere seiner Zeitgenossen, die deutsche Sprache im Exil konserviert, eine Sprache, die in den fünfziger Jahren nur noch bedingt zu gebrauchen war, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach Hiroshima und Auschwitz herrschten, zu erfassen und mitzuteilen. Er schrieb in Amerika ein in einen Konkon eingesponnenes Deutsch und traf bei seiner Rückkehr noch dazu auf eine ihm fremde Sprache, den Wiener Dialekt, den er nicht beherrschte und dessen Mentalitätsgeschichte er erst in Erfahrung bringen mußte: "Und nun bin ich also da. Und um mich herum die lebendigste Sprache: nämlich eine Mundart. – Tableau. Nun bin ich im Schreiben vollends unsicher geworden. Schon der alltäglichste Ausdruck (wie eben das Wort ‚vollends‘ … alltäglich in welcher Situation, alltäglich für welche Gruppe?) klingt mir hier geziert; und der dichte Text einer geschriebenen Seite kommt mir vor wie ein Gobelin zwischen zerrissenem Arbeitszeug." (Anders 1985c:108)

Vielleicht wurde ihm gerade deshalb klar, daß es keinen Sinn hatte, nur Gobelins zu verfassen, sondern im Angesicht der Bedrohung, der die Menschheit ausgesetzt war, auch zerrissenes Arbeitszeug hervorzubringen. Doch welche Sprache verwenden? Er hatte ja nur zwei Sprachen gelernt, die der Literatur und die der Philosophie. Er war darüber hinaus ein Sprachtüftler. Das einzige, was ihm gelingen konnte, war, das, was er sagen wollte, möglichst klar und deutlich auf den Punkt zu bringen. Erschwerend kam auf der Suche nach einer angemessenen Ausdrucksweise hinzu, daß er aus den Weltzentren, in denen er sich zu bewegen gewohnt war (vor dem Krieg: Berlin und Paris; im Krieg: Los Angeles und New York), plötzlich in eine Stadt geraten war, die zwar vor dem Krieg ein solches Zetrum gewesen war, sich aber nach 1945 in eine Art Peripherie verwandelt hatte: nach Wien. Nach dem Krieg war sie zumindest noch ein Gravitationszentrum der Niederlage gewesen: "Und doch ist Wien in gewissem Sinne ein Mittelpunkt der Welt. Denn beim Besiegten treffen sich die Sieger, die ja sonst nicht allzu intim miteinander verkehren. Wo, außer in Wien und vielleicht in Berlin, hätte man die Chance, sich ein Bild von der Filmproduktion der Welt zu machen? Hier sieht man alle, amerikanische, italienische, ungarische, französische, russische, englische. Wo, außer hier, reflektiert der Stoß Zeitungen, den man sich am Morgen kauft, die ganze Welt? – Gewiß, der Flecken hier ist utopisch, ein Niemandsland, aber welch ein Rundblick." (Anders 1985c:120)

Im Buchabschnitt Wiedersehen und Vergessen, der die Jahre unmittelbar nach der Rückkehr dokumentiert, beschäftigte sich Günther Anders vor allem mit diesem Niemandsland, mit dem Verhältnis zwischen denen, die heimkehrten, und denen, die geblieben waren, die das nationalsozialistische System freiwillig mitgemacht, als Mitläufer durchlebt oder auch dagegen Widerstand geleistet hatten. Diese Auseinandersetzung beinhaltete auch die Frage nach den unterschiedlichen Sprachen, die diese beiden Gruppen nicht nur indentitätsmäßig sprachen, sondern auch in Bezug auf die Bewertung der vergangenen Ereignisse benutzten. Wie schon im Titel vorweggenommen, geht es um das Wiedersehen, an dem Günther Anders sich nach seiner Rückkehr erfreute, und das Vergessen derer, auf die er bei diesem Wiedersehen traf.

Die Sprachdifferenz machte es für Günther Anders und seine Frau Elisabeth Freundlich schwierig, sich unmittelbar nach dem Krieg in die Wiener Gesellschaft zu integrieren. Sie fanden, wie viele Rückkehrer, nicht gleich den Weg zu jenem Ort, an dem sie sich niederlassen wollten. Günther Anders reiste über das Land ein, über das er Europa 1936 verlassen hatte: Frankreich. Für ihn war es eine Heimkehr, auch wenn das Europa, das er verlassen hatte, in Schutt und Asche lag, das Wiedersehen, die Neubegegnung, vor allem von einem Gefühl der Fremdheit geprägt war: "Vor jeder alten Laterne sagen wir das, vor jeder vertrauten Häuserfront, vor jedem Ladenschild von damals. Aber nicht im Tone der Erlöstheit sagen wir es, sondern tief befremdet, als sei eben gerade die Beständigkeit das Unfaßbare, das Unerlaubte, das Unmögliche." (Anders 1985c:99) In gewisser Weise war aus dem weltfremden Günther Anders schon damals und sehr früh ein weltloser geworden – ein Mensch ohne Welt. Und je länger er sich in diesem alten und zugleich neuen Europa herumtrieb, desto weltloser schien er zu werden.

Vielleicht war sein autobiographisches Schreiben, seine Suche nach den verlorenen Kindertagen, seine Nachforschungen über die Gründe dieses Verlustes und die Konfrontation der Verantwortlichen mit diesen Gründen der Versuch, seine im Krieg verlorengegangene Welt wenigstens zu einem Teil wiederherzustellen, den weltlosen Zustand, in den er geraten war, zu überwinden, um so als Mensch und moralisch handelnder Schriftsteller und Philosph wieder weltfähig zu werden und dazu beizutragen, diese Welt zu verändern. Nur die Anerkennung einer Welt mit Welthaltigkeit macht es überhaupt möglich, diese zu verändern und den Skandal, den Hitler und das System des Nationalsozialismus darstellten, zu überwinden: "Ich bin fest überzeugt davon, daß unter Hitler Millionen von Menschen, jawohl, auch Millionen seiner Anhänger, aus der ‚Welt‘, der sie ohnehin schon perspektivlos eingefügt gewesen waren, endgültig herausgerückt worden waren; daß viele von denen, die an den Greueln mitbeteiligt waren, ‚keine Welt‘ mehr hatten; daß sie in ihrer weltlosen Situation tatsächlich nichts mehr erkannten; daß sie Menschen als Menschen nicht mehr auffaßten, nicht mehr auffassen konnten; daß ihnen (noch einmal in ihren Worten) im unvertrauten Milieu auch Vertrautes unvertraut wurde‘; und daß schließlich Handlungen, die ihnen früher unmöglich vorgekommen waren, möglich wurden, weil in dieser weltlosen Situation alles gleich möglich und unmöglich schien." (Anders 1985c:212)

In gewisser Weise betrieb Günther Anders bereits in den fünfziger Jahren eine Vergangenheitsbewältigung, die wir in dieser präszisen und schonunglosen Form bis heute nicht erreicht haben. Und bei genauem Hinlesen würden wir erkennen, daß wir auch heute in einer derartig weltlosen Situation gefangen sind, die es uns unmöglich macht, die Auslöschung der Menschheit, die wir alle betreiben und mitbefördern, zu erkennen. Gerade diese Schonungslosigkeit durchzuhalten, in einer für ihn fremden Umgebung ohne ein funktionierendes intellektuelles und soziales Netz, war eine starke persönliche Leistung, denn Günther Anders kehrte ja nicht wie seine Frau heim, sondern für ihn war Wien nur eine weitere Station in seinem Exilleben, das sich nun durch den gewählten Wohnort in eine Emigrantenexistenz verwandelte. Ich denke, daß er in seiner Rückkehr nach Europa nicht nur einen Wohnort suchte, sondern eine Geisteshaltung, die er 1936 verlassen hatte und die mit dem Nationalsozialismus untergegangen war: "Und doch ist man zuhause. Nicht nur, weil für das Auge dessen, der aus Amerika kommt, auch England schon Europa ist. Sondern weil man überall dort zuhause ist, wo schuldlos Opfer gefallen sind. Würde man sich sonst vor denen, die die Verwüstung schon nicht mehr bemerken, so schämen, heute, erst heute, zwischen ihren Ruinen herumzusteigen?" (Anders 1985c:95)

In diesem Zitat waren zwei zentrale Themen bereits angelegt, mit denen sich Günther Anders nach seiner Rückkehr auseinandergesetzt hat: seine Identifikation mit den Opfern des Krieges und ein gewisses Schuldgefühl, überlebt zu haben. Günther Anders und Elisabeth Freundlich haben, jeder auf seine Weise, die Rückkehr und die damit verbundenen Probleme beschrieben. Die Kluft zwischen den Zurückgebliebenen und den Rückkehrern war einfach zu groß, um sie ignorieren zu können. Sie enthüllte ja nicht nur etwas über die Abwesenden, also die Rückkehrer, sondern vor allem auch etwas über die Gebliebenen, die, die das nationalsozialistische Vernichtungssystem freiwillig, als Mitläufer oder als Gegner, durchgestanden hatten. Günther Anders hat gemeinsam mit Elisabeth Freundlich bereits in den fünfziger Jahren die Mechanismen aufgearbeitet, die zur verhängnisvollen Verdrängung des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland und auch Nachkriegsösterreich geführt hatten.

Doch bevor ich dazu komme, noch einmal einen Schritt zurück, noch einmal zurück nach New York, dorthin, wo sich Günther Anders und Elisabeth Freundlich kennengelernt hatten; dorthin, wo eine der bemerkenswertesten Künstlerbeziehungen der österreichischen Nachkriegsgeschichte ihren Ausgang genommen hatte. Elisabeth Freundlich und Günther Anders lernten sich im Zuge ihrer Arbeit beziehungsweise Mitarbeit bei der Austrian American Tribune (AAT) kennen. Zur Hochzeit, die nicht unbeobachtet geblieben sein dürfte, schrieb Berthold Viertel an das Brautpaar einen Glückwunsch des Egoisten:
"Wenn zwei der besten Freunde unter den meinigen,
Die ich wage, als solche anzusehen,
Sich plötzlich inner-ehelich vereinigen,
Muß es nicht unbedingt gegen mich Geschehen."
(Viertel an Anders, Freundlich / Mai 1945 / LIT)

Durch die Ehe, die die beiden Intellektuellen eingingen, wurden aber auch zwei personelle Netzwerke zusammengeführt, die dadurch an Dichte und Umfang zunahmen. Elisabeth Freundlich und Günther Anders ergänzten sich nicht nur in den von ihnen in die Beziehung eingebrachten Freundschaften und in ihren charakterlichen Eigenschaften, sondern vor allem auch in ihren theoretischen und politischen Interessen.

Da Elisabeth Freundlich nicht wie ihre Eltern, Olga und Jaques Freundlich, in der Schweiz (Zürich) blieb, sondern sich wieder in Wien niederlassen wollte, folgte ihr Günther Anders nach Wien. Im Gegensatz zu ihm, der ja nur einen weiteren Fluchtpunkt aufsuchte, war Elisabeth Freundlich eine Rückkehrerin. Sie ließ sich in jener Stadt nieder, aus der sie vor dem Krieg geflüchtet war. Bevor ich die Lebensumstände der beiden in den Jahren 1950 bis zur Scheidung 1955 skizziere, möchte ich die Frau ein wenig in den Mittelpunkt rücken, mit der Günther Anders beinahe fünfzig Jahre seines Lebens in enger Verbindung stand und die ihn durch alle Lebensphasen seit der Rückkehr mit mehr oder weniger Distanz begleitete.

Elisabeth Freundlich stammte aus einem wohlhabenden, großbürgerlichen Elternhaus, das sozialdemokratisch orientiert und vom Gedanken der Solidarität durchdrungen war. In ihrer Autobiographie Die fahrenden Jahre (1992) und vor allem in ihrem Buch Der Seelenvogel (1986) beschrieb sie sehr detailreich ihre Herkunft und ihre Kindheit und Jugend in Wien. Der Vater studierte Rechtswissenschaften und vertrat nach seinem Abschluß vor allem Rechtsfälle der Arbeiterbewegung. 1926 wurde er Nachfolger von Karl Renner als Präsident der Arbeiterbank (der späteren BAWAG). Zu seinen engen Freunden zählten neben Karl Renner und Otto Bauer auch Hugo Breitner. Mit der Mutter war sie eng verbunden und von ihr dürfte sie ihre Theaterleidenschaft geerbt haben. Olga Freundlich begleitete Elisabeth Freundlich bis zu ihrem Tod 1967 und nahm regen Anteil an ihrer Karriere als Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und an ihrem Lebensweg als Tochter. Ein umfangreicher Briefwechsel, der im Nachlaß von Elisabeth Freundlich lagert und dort der Aufarbeitung harrt, zeigt dies in eindrucksvoller Weise und liest sich eher wie einer zwischen zwei Schwestern, und nicht wie zwischen Mutter und Tochter. Deutlich äußerte sich Elisabeth Freundlich zu diesem Verhältnis am 29. März 1953: "Gestern Dein süßes Brieferl v. 25. – siehst Du, was Du über die Sicherheit schreibst, die Dir meine Liebe gibt, so ist es mir mein ganzes Leben mit Dir gegangen u. meine, für die anderen vielleicht nicht immer angenehme, leise Unverschämtheit kommt aus dem Gefühl d. inneren Sicherheit, durch Deine Liebe. Punktum. Bussi." (E. Freundlich an O. Freundlich / 29.3.1953 / DLA)

Umso härter traf die Tochter der Tod der Mutter im Jahre 1967: "Ich habe auch kein leichtes Jahr gehabt, nach dem Tod meiner Mutter, mit der ich zusammengelebt und so innig verbunden gewesen bin. Allmählich findet man wieder in irgendeinen Lebensrhythmus, aber man kann nicht mehr so unbeschwert sein." (Freundlich an Sawicka / 24.12.1967 / DLA)

Mit Beginn des Ständestaates änderte sich Elisabeth Freundlichs Leben. 1934 wurde der Vater unter fadenscheinigen Anschuldigungen verhaftet. 1938 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Frankreich, wo sie sich erstmals in der Exilgemeinschaft engagierte und im Untergrund tätig war. Die Ausreise aus Frankreich, als auch dort die Situation schwierig wurde, erfolgte 1940 über Spanien. Als sie an der spanisch-französischen Grenze eintraf, war diese bereits geschlossen. Nur durch den Selbstmord von Günther Anders‘ Cousin Walter Benjamin und die Angst der Behörden vor weiteren Selbstmorden von Flüchtlingen an der Grenze konnte Elisabeth Freundlich doch noch ausreisen. (Freundlich 1992:112-113) Die Flucht konnte danach ohne große Hindernisse über Portugal fortgesetzt werden, und Elisabeth Freundlich erreichte am 26. November 1940 Amerika. In den USA absolvierte sie eine Ausbildung als Bibliothekarin und hielt sich so finanziell über Wasser: "Sie fragen mich lieb nach meinem persönlichem Leben; ich bin sehr angehängt mit meinem Librarionstudium, aber ich glaub doch, dass es gut ist, dass ich es mach. Bis zum Sommer hoffe ich fertig zu sein und einen Job zu kriegen, der mir die Existenz sichert und mich daneben, oder nicht daneben, die Dinge machen lässt, die mir eigentlich am Herzen liegen. Soweit das Studium. Das Leben? Zum Glück erfordert es der Anstand, dass ich auf Seite 4 Schluss mache. Sonst könnte es geschehen, dass ich plötzlich lang und umständlich von Dingen zu erzählen beginnen wuerde, über die ich seit sehr langem mit niemand gesprochen habe und von denen sich wahrscheinlich ziemlich viele Frauen einbilden dürften, dass sie gerade mit Ihnen darüber sprechen könnten." (Freundlich an Viertel / 6.2.1943 / DLA)

Ihre Hauptbeschäftigung jedoch war die Kulturbeilage der Austrian American Tribune (AAT), die sie bis kurz vor ihrer Remigration betreute. Sie zählte so zu einer der wichtigsten Exponentinnen der österreichischen Schriftsteller im amerikanischen Exil und war die treibende Kraft bei der Etablierung und Aufrechterhaltung dieser österreichischen Zeitschrift in New York. (Falböck 2007) Elisabeth Freundlich entwarf das ursprüngliche Konzept, versuchte Mitarbeiter und finanzielle Unterstützer zu finden. Auch was den politischen Teil der Zeitschrift betraf, bezog sie eindeutig Stellung und war nicht immer einer Meinung mit dem dort eingesetzten Leitungsteam: "Ich fürchte, ich erscheine Ihnen manchmal als ein etwas borniertes Wesen; leider muss ich das in Kauf nehmen und es ist auch kaum zu vermeiden, dass man diesen Eindruck macht, wenn man bestimmte sehr scharf umrissene Vorstellungen von einer Sache hat, die zu verteidigen ich halt für meine Aufgabe halte." (Freundlich an Viertel / 6.2.1943 / DLA) In dieser zentralen Funktion im amerikanischen Exil lernte sie Autoren wie Robert Neumann, Berthold Viertel, Karola und Ernst Bloch, Hans Mayer, Bertolt Brecht, Franz Werfel und viele andere kennen, um die sie sich bemühte und für die sie unermüdlich unterwegs war. Die Briefwechsel mit diesen Autoren sind Zeugnisse dafür, wie eng das Netz zwischen ihnen während des Krieges geknüpft war und welch zentrale Rolle Elisabeth Freundlich hier eingenommen hat.

Die Zeit im amerikanischen Exil war aber auch von großen persönlichen Zweifeln geprägt. Durch ihre organisatorische Tätigkeit hatte sie kaum die Möglichkeit, sich auf ihr eigenes Schreiben zu konzentrieren. In dieser Zeit wurde Berthold Viertel zu einem wichtigen Freund, mit dem sie alle Belange ihres Lebens besprechen konnte: "Was es bei mir täglich an Selbstverleugnung braucht, ist wieder ein anderes Kapitel. Es ist hier nicht die Frage meiner Begabung, höchstens die meines Wissens um den Wert des gedruckten Wortes und meiner Achtung davor, ob ich in der Zukunft noch zu einer eigenen Produktion kommen werde, ist mehr als fraglich, aber dafür zu wirken, daß die Arbeit des Schriftstellers wieder Sinn und Widerhall findet, wird wahrscheinlich immer mein Gebiet sein, schon deshalb weil es in der jüngeren Generation erschreckend wenig Menschen gibt, denen diese geistige Luft Lebensbedingung. Also ich weiß sehr gut, wie so eine Sache ausschauen sollte, aber ich bin vollkommen auf mich selbst angewiesen und habe bei meiner jetzigen Arbeitseinteilung überhaupt keine Zeit selbst etwas zu schreiben: das wäre nämlich auch eine Möglichkeit mehr und bessere Leute heranzuziehen, wenn man selbst Dinge zur Diskussion stellen würde." (Freundlich an Viertel / 24.12.1943 / DLA)

Eine selbständige schriftstellerische Existenz gelang ihr erst nach dem Krieg, nach ihrer Rückkehr. Die ersten zehn Jahre im Nachkriegswien waren von zahlreichen Wohnungswechseln gekennzeichnet, ehe sie sich dauerhaft in der Florianigasse einrichtete. Die Verbindung zu ihren Eltern, vor allem zur Mutter, blieb intensiv. Elisabeth Freundlich war damit beschäftigt, alte Kontakte aus der Zeit des Exils zu pflegen und sich als Schriftstellerin zu etablieren. Ihre schriftstellerische Laufbahn verfolgte sie vehement und mit großer Energie durch die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, und schließlich erntete sie die Früchte ihrer Arbeit in den achtziger Jahren, als drei ihrer Romane erschienen. Spät, aber doch erhielt sie jene Würdigung, die ihr schon früher zugestanden hätte. Ihr Einkommen bezog sie nicht vorrangig aus ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, sondern als Kulturkorrespondentin, als Prozeßberichterstatterin und als Übersetzerin von Theaterstücken, vor allem von Sean O’Casey. Bald nach ihrer Rückkehr nach Wien fand sie eine Korrespondentenstelle beim Mannheimer Morgen, für den sie Kulturberichte verfaßte. In dieser Funktion begleitete sie zwanzig Jahre lang die Wiener Kulturszene, vor allem als Berichterstatterin von den Wiener Festwochen. Dabei zählten Musik- und Theaterveranstaltungen zu ihren Schwerpunkten, aber auch Lesungen und Buchvorstellungen besuchte sie. Eine wichtige Funktion in ihrer Tätigkeit als Kulturpublizistin nahm auch die Zeitschrift Die Gemeinde der jüdischen Kultusgemeinde in Wien ein. Für diese beobachtete sie vor allem die zahlreichen Prozesse, die den Nationalsozialisten gemacht wurden. Sie bezog in ihren Berichten eindeutig Stellung. Auch diese sind bis auf eine Arbeit von Evelyn Adunka (2007) kaum aufgearbeitet. Daß Elisabeth Freundlich als Schriftstellerin erst spät in Erscheinung trat, lag daran, daß ihre aus dem Exil mitgebrachten Texte zu unbequem waren. Alles konzentrierte sich auf den Wiederaufbau, und die Menschen wollten sich weder mit dem Geschehenen noch mit den eigenen Schuldgefühlen, so sie vorhanden waren, beschäftigen. Erst in den achtziger Jahren drückte sich die Anerkennung für ihr umfangreiches Werk auch in offiziellen Preisverleihungen aus. Bis heute ist das Werk von Elisabeth Freundlich kaum erschlossen, auch wenn gerade zu ihren Romanen die meiste Sekundärliteratur vorliegt. (Bolbecher 2007)

Die Vielfalt und Breite ihrer Themen macht eine Bearbeitung teilweise schwierig: Im Seelenvogel schrieb sie einen klassischen Familienroman, der ihre eigene Familiengeschichte als Basis nahm. In dem Erzählband Finstere Zeiten beschrieb sie Menschen vor, während und nach dem Krieg, wie sie sich in ihrer Zeit einrichteten, unter welch schwierigen Umständen sie überlebten und vor allem weiterlebten. Im Roman Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau beschäftigte sie sich mit der Auslöschung einer ganzen polnischen Stadt durch die Nationalsozialisten. Vor allem ihre intensive Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren und mit der unmittelbaren Nachkriegszeit sind wunderbare Dokumente österreichischer Zeitgeschichte. In den Romanen und Novellen bezog sie immer politisch Stellung, hielt sich in ihrer moralischen Positionierung nie zurück und war in ihrer Wahrheitsliebe und -treue ähnlich radikal wie ihr Ehemann Günther Anders. Elisabeth Freundlich muß daher zu den herausragendsten Intellektuellen der österreichischen Nachkriegsgeschichte gezählt werden.

Über ihren weiteren Lebensweg nach der Scheidung von Günther Anders ist bisher nicht viel bekannt, über andere Männerbeziehungen wissen wir so gut wie nichts. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte Elisabeth Freundlich im selben Altersheim wie Günther Anders. Sie hatte einige Freunde, die sie regelmäßig besuchten. Geschrieben hat sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens nicht mehr viel. Es ist erstaunlich, wie die Demenz, die Elisabeth Freundlich schließlich heimsuchte, sich auch auf die Gesellschaft übertrug, die Elisabeth Freundlich bis vor kurzem beinahe völlig vergessen hatte. Sie überlebte ihren Mann Günther Anders um neun Jahre und starb 2001 in Wien.

Was diese Biographie leisten kann, ist, die Beziehung zwischen Elisabeth Freundlich und Günther Anders auszuleuchten. Es gibt zahlreiche Berührungspunkte zwischen den beiden – nicht nur in psychologischer, sondern auch in schriftstellerischer Hinsicht. Auf der psychologischen Ebene eine ausgeprägte Wahrheitsliebe, beide hatten eine glückliche Kindheit, beide waren aufgesparte Juden, beide teilten dasselbe Exilland und beide beobachteten aus verschiedenen Blickwinkeln das Nachkriegseuropa, und vor allem die von ihnen gemeinsam bewohnte Stadt Wien. Ein wichtiges Thema ihrer schriftstellerischen Arbeit war die Auseinandersetzung mit den prekären Verhältnissen von Rückkehreren und der Schwierigkeit, intellektuell und lebenstechnisch in Österreich Fuß zu fassen.

Der Zweite Weltkrieg, die Katastrophe der Shoah, blieb ihnen beiden Angelpunkt für ihre Auseinandersetzung mit dem Nachkriegsösterreich. Auch hier gibt es Übereinstimmungen. Erstaunlich genau erkannten sie die Verdrängungsmechanismen, die nur zögerlich voranschreitende Entnazifizierung. Beide setzten sich auf unterschiedliche Weise mit diesen Phänomenen auseinander und verzweifelten nicht selten an der Ignoranz ihrer Umgebung. Elisabeth Freundlich begleitete diese Entwicklung als Prozeßbeobachterin in den Prozessen gegen hochrangige Nationalsozialisten. Günther Anders in seinem Buch Wiedersehen und Vergessen. Wie schwierig sich dieses Leben in Wien mit Menschen gestaltete, die sich nichts sehnlicher wünschten, als das Vergangene zu verdrängen und die, die davon sprachen und schrieben, zu ignorieren, zeigt ein Zitat von Günther Anders: "Was immer der Rückkehrer tut, ist schief. Wer seine Ansprüche nicht anmeldet, gilt als verdächtig: entweder als feige; oder als einer, dessen Fall faul ist; oder, da er so wenig Wert auf sein Eigentum legt, als ein Kommunist. Wer aber seine Ansprüche doch anmeldet, der ist ein Dieb." (Anders 1985c:149)

Die Rückkehrer waren eine enorme Belastung für die Gebliebenen, vor allem dann, wenn sie so wie Günther Anders und Elisabeth Freundlich akribisch Ursachenforschung betrieben und die Ergebnisse auch noch öffentlich kundtaten. Und in diesem Kampf gegen das Vergessen, in dieser grenzenlosen Wahrheitsliebe, für die sie oft auch Freundschaften ein und aufs Spiel setzten, trafen sich ihre Persönlichkeiten, fanden sich und hielten aneinander fest. Sicher auch mangels Alternativen. Sie unterstützten sich gegenseitig, wenn es darum ging, Texte zu redigieren oder bei Verlagen unterzukommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß trotz der Intensität der Beziehung wenig von den beiden selbst über diese geschrieben wurde. So beredt sie über all die gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen in Österreich nach 1945 schrieben, so wenig erfahren wir über das Verhältnis zueinander, das trotz Scheidung 1955 fast fünfzig Jahre ihres Lebens andauerte. Hinsichtlich dieses Schweigen zur eigenen Beziehung ergeben sich für mich zwei Deutungsmöglichkeiten. Einerseits könnten sie ihre Beziehung natürlich für eine Privatangelegenheit gehalten haben. Vielleicht wollten sie aber auch nicht vom Wesentlichen ihrer Existenz ablenken, dem Schreiben, das eigentlich in den Augen der Nachwelt erscheinen sollte. Andererseits könnte es sein, daß der enge Kontakt zueinander keine Notwendigkeit des Schreibens übereinander nach sich zog. Günther Anders hat ja grundsätzlich wenig persönliche Aufzeichnungen über Menschen hinterlassen. Er hat mit seinen Schriften und autobiographischen Zeugnissen immer sein Verhältnis zur Welt zum Ausdruck gebracht, und wo dies nicht möglich schien, wohl darauf verzichtet.

Das Verhältnis, das Günther Anders zu seiner Frau hatte, charakterisiert wohl am besten ein Brief, den Günther Anders sieben Jahre nach seiner Scheidung an Hans Deutsch, den Inhaber der Zeitschrift Forum, in der Günther Anders regelmäßig publizierte, schrieb: "Frau Dr. Elisabeth Freundlich ist Ihnen früher ja schon einmal vorgestellt worden, und ich bin eigentlich überzeugt davon, dass auch Herr Dr. Leber Ihnen von der ungewöhnlichen Fähigkeit von Frau Freundlich erzählt hat. Frau Dr. F., die seit langem die Wiener Kulturreferentin für ein grosses süddeutsches Blatt ist, ist im Hauptberuf Romanciere; der Roman, den sie momentan unter der Feder hat, und von dem ich bereits sehr starke Partien kenne, ist gerade in der heutigen Zeit, in der einerseits das Vergessen der Hitlergreuel propagiert wird, andererseits der Neonazismus von Tag zu Tag schamloser wird, nicht nur eine literarische, sondern eine moralische Tat. […] Damit keinerlei Misstrauen zwischen Ihnen und mir aufkomme, betone ich noch einmal in aller Offenheit, dass es sich bei Frau Dr. F. um meine vorige Frau handelt. Aber ich empfehle sie Ihnen nicht deshalb, weil sie meine vorige Frau war, umgekehrt war sie deshalb meine Frau, weil sie die eben angedeuteten Qualitäten besass." (Anders an Deutsch / 13.3.1962 / DLA)

Zumindest in die Korrekturen der Texte von Elisabeth Freundlich war Günther Anders eingebunden: "Ich habe Dir gestern per Einschreiben mein mit Günther durchgelesenes Manuskript geschickt. Manche der Einwände, die Günther machte, hat er später zurückgenommen, weil er einsah, dass der Sprachduktus vielfach der Sprache der Einheimischen angeglichen ist. Ob und wenn ja, wie weit Austriazismen vermieden werden sollten, bleibt wohl Ermessenssache. Kleinere Sprachschlampereien und schiefe Vergleiche, die er bemängelte, habe ich richtig gestellt. Alle seine puristischen Einwände konnte ich nicht berücksichtigen, weil dadurch meines Erachtens etwas von der Atmosphäre der Sache verloren gegangen wäre. Einig waren wir uns darin, nicht durch Verbessern einzelner Wörter den Fluss der Lektüre aufzuhalten. (Freundlich an Mayer / 5.1.1980 / DLA)

So wie Günther Anders seiner Frau immer verbunden blieb, sie in ihrer schriftstellerischen Arbeit unterstützte, blieb auch Elisabeth Freundlich ungebrochen an seiner Seite, setzte sich für seine Texte ein und verteidigte ihn bis zuletzt gegen ungerechtfertigte Angriffe, wie ein Brief von ihr an Hans Mayer zeigt: "Habe inzwischen auch die Bemerkung von Brecht über Günther nachgelesen, kann sie – entschuldige weder für Brecht noch für Günther noch für Benjamin sehr ergiebig finden. Hoffentlich nimmst Du mir meine Offenheit nicht übel, aber ich kann wirklich nicht recht einsehen, warum Du diese Äusserung Brechts in die Öffentlichkeit bringen musst. Günther ist schliesslich ein alter, seit Jahrzehnten dauernd von Schmerzen geplagter Mann, der sich nach jahrelanger Lähmung noch einmal zur Produktion aufgerappelt hat, und man sollte das doch nicht wieder in Frage stellen. Es würde ihn sicher sehr kränken und auch mir das Leben nicht gerade leichter machen. Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel, dass ich das sage." (Freundlich an Mayer / 15.5.1979 / DLA)

Letzlich war das Verhältnis zwischen Günther Anders und Elisabeth Freundlich komplex und lang andauernd. So sehr Günther Anders für Elisabeth Freundlich ein Angelpunkt für intellektuelle Auseinandersetzung war, bedeutete Elisabeth Freundlich für ihn ein Stück sozialen Zugangs zur Welt.
Für die Beziehung der beiden in den späten Jahren fand ich eine Charakterisierung, die bezeichnend ist: "Plötzlich sah ich Dich in lichter Verflechtung mit Anders, der in seinem unbeantworteten Brief schrieb: Du seiest ungeheuer fleißig und leider viel zu wenig anerkannt. Vielleicht kränkt ihn mein Bruch des Briefgeheimnisses? Anders ist mein Gewissen. Die Zwiesprache mit dem Gewissen fällt mir nicht leicht. Anerkennung ist in gewissem Sinne Wirkung nach außen. Nicht die Besten finden sie. Oder spät. […] Bei unserer kurzen Begegenung in Wien warst du nicht Anders Schatten. Vielleicht in der Liebe und Freundschaft für ihn verankert, aber nicht gefesselt. Es war eine freundlich-freie Atmosphäre um Dich, die mir vor Augen steht. Wahrhaftiges Leben enthält jedoch immer auch das bittere Salz der Erfahrung." (Bihalji an Freundlich / 4.10.1983 / DLA) Auch Erich Hackl setzt sich in seinem Salut für Elisabeth Freundlich mit ihrer Person und dem Verhältnis zu Günther Anders auseinander. Er zeichnet jedoch kein schmeichelhaftes Bild von der Beziehung, die sie im Alter miteinander geführt haben. Sie wird als geduldig beschrieben, er als aufdringlich und grantig, beinahe abweisend. (Hackl 2001) Doch bevor es zu dieser Verwandlung des glücklichen, hoffnungsfrohen Mannes in einen grantelnden alten Philosophen kam, sollte noch die Geschichte des Neubeginns in Wien erzählt werden.

Günther Anders folgte seiner Frau Elisabeth Freundlich nach Wien und stilisierte danach die Wahl seines Lebensmittelpunktes zu einer bewußten Entscheidung, die ihm eigentlich von den gesellschaftlichen Umständen aufgezwungen worden war, sich sozusagen aus der Logik der Nachkriegsordnung ergeben hatte. Zu Beginn wohnten sie im 13. Wiener Gemeindebezirk, in der Wattmanngasse 11. Ein Brief an ihre Mutter Olga Freundlich vom 22. Mai 1950 zeigt, wie unbeschwert und erholsam das Ehepaar Freundlich die ersten zwei, drei Jahre nach der Rückkehr erlebt haben muß: "Unsere Tageseinteilung, unsere Manuskripte? Es ist wirklich nicht leicht, in eine regelmäßige Arbeitsroutine hinein zu kommen, ich verfalle absolut in die Gewohnheiten meiner Jungmädchenjahre: langes Baden, […] sonnen u. einfach vor meinem Schreibtisch hinausstieren, wo man so weit der Blick reicht nur Bäume sieht u. die Blätter leise im Wind rauschen. Dazu kräht der Hahn, kreischt ganz fern ein Sägewerk u. irgendwo werden Teppiche geklopft. Günther behauptet eine Mindestportion von Häßlichkeit ist zur Arbeit notwendig, aber selbst diese Mindestportion haben wir hier nicht angetroffen. Übrigens unsere 2 Zimmer sind so geräumig, daß, wenn Günther wie eben Maschine schreibt, es hier im Zimmer fast unhörbar ist. Das Haus gehört abends eigentlich uns ganz allein. Günther geht vormittags meist mit seinem Schreibblock nach Schönbrunn u. holt mich gegen 12h zum Essen ab: wir gehen dann ins Ottakringer Bräu, 5 Minuten weit. Ich brauche meist volle zwei Stunden zum Anziehen, dabei gehe ich in Sockerln, Leinenrock u. Bluse herum u. glaube ich bin 18 Jahre, nur viel zufriedener als ich damals war. Es ist vorerst ein völlig unwirkliches Schlaraffenlandleben. Am Rückweg v. Mittagessen kaufen wir ein, Leberkäs u. Primsen z.B. u. abends machen wir uns Tee dazu u. das ganze Nachtmahl für zwei kostet 5 Schilling = 2 ct. Und dann holen wir uns aus unserer Bibliothek jeder ein Buch u. liegen bei offenen Fenstern, die Stille genießend geg. ½ 9h meist im Bett. Komisch nicht? Aussehen tun wir blühend u. all die Herz etc. mittel, die Günther in großen Quantitäten mitgebracht, rührt er nicht einmal an. Frühstück ist um 7h u. das ist bei der Aussicht u. dem Gezwitscher ein Fest an sich. […] Gestern hatten wir 5jährigen Hochtzeitstag u. feierten ihn mit einem Vormittagsgang ins Kunsthistorische Museum. Wir kamen uns beide zwanzigjährig vor, Rendezvous im Museum am Sonntag Vormittag. […]

Ich werde versuchen jetzt regelmäßig mit Tippen zu beginnen, um in die Arbeit zu kommen. Daß einem noch jemals etwas zum Schreiben einfallen könnte, glaubten wir beide nicht. Günther sagt, er hat ja nichts zu sagen, wo doch Schönbrunn alles sagt u. ich kann nicht verstehen, warum man die Lanzerkinder auf staubigen Landstraßen nach Gänserndorf begleiten soll zu den köstlichsten Essgenüßen, wenn man in der Wök für 3,50 Eiernockerl mit Salat bekommt u. das auch noch in einem Garten serviert. Das Ganze ist natürlich ein Dorf u. die Menschen sind fremd, aber in der 105. sind sie es ja auch. Also um unser Schreiben sind wir besorgt, dafür sind wir jung, unbeschreiblich jung." (E. Freundlich an O. Freundlich / 22.5.1950 / DLA)

Wie schon in den USA ließ auch in Europa Günther Anders' erster heftiger Arthritisschub nicht lange auf sich warten. Von Herbst 1950 bis zum Frühling 1951 laborierte er an seiner Krankheit. Er wurde beinahe bewegungsunfähig und mußte Wochen im Krankhaus verbringen: "Wir sind noch lange nicht so tüchtig, aber immerhin: die Blutsenkung ist gefallen v. 95 auf 63, noch immer genug, aber die Schmerzen lassen entschieden nach, wenn jetzt auch Appetitlosigkeit einsetzt, ist der Allgemeinzustand besser. Anders steht es noch immer mit der Beweglichkeit: die Hände sind vielleicht eine Spur besser (aber an Schreiben ist nach wie vor nicht zu denken), die Füße geschwollen, Knie ebenfalls, er soll liegen u. wenn er mal aufsteht, kriecht er Gott erbärmlich." (E. Freundlich an O. Freundlich / 6.9.1951 / DLA)

Günther Anders selbst schrieb über seine Krankheit auf sehr ironische Art und Weise, definierte seinen Körper als Maschine und nahm die Sache ansonsten hin. Er war kein Mensch, der über seine Krankheiten jammerte, im Gegenteil, das einzige, was ihm zu schaffen machte, war, daß sie ihn vom Schreiben abhielten: "Seit meiner Ankunft in Europa habe ich wenig, oder wohl nichts von mir hören lassen – aus einem sehr massiven Grunde nicht, denn ich war so ausgiebig krank, dass ich alle Kraft, die die kurzen Gesundheitsintermezzos mir liessen, auf den Versuch konzentrierte, durch Schreiben Fuss zu fassen. Was bis jetzt nicht eigentlich gelungen ist. Nun scheint, nachdem ich mir diverse, angeblich Arthritis verursachende, Organe habe abmontieren lassen, die Krankheit an langer Weile einzugehen, und ich versuche, alles wieder in die Hand zu nehmen." (Anders an Sternberger / 25.9.1952 / DLA)

Die Briefe aus dem Nachlaß von Elisabeth Freundlich sind nicht nur eine Fundgrube für diejenigen, die sich für die Lebenssituation von Emigranten und Emigrantinnen nach dem Zweiten Weltkrieg interessieren, sondern vor allem ein Zeugnis für die prekären Lebensumstände des Ehepaars in Wien. In diesen Briefen und anderen Manuskripten kann nachgelesen werden, mit welchen Schwierigkeiten persönlicher und beruflicher Natur Rückkehrer zu kämpfen hatten, um ihre Existenz als Schriftsteller und Menschen zu sichern und einen einigermaßen akzeptablen Alltag zu gewährleisten. Viele der Briefe im Freundlich-Nachlaß ebenso wie im Anders-Nachlaß zeugen vom zähen Ringen auf der Suche nach Verlagen, Möglichkeiten, Texte bei Zeitschriften unterzubringen, Essays für den Rundfunk zu verfassen, um das Einkommen zu sichern und dazwischen noch so etwas wie Lebensnormalität aufrechtzuerhalten.

Schon Kleinigkeiten, die heute zum alltäglichen Mobiliar einer Wohnung zählen und für wenige Euro in jedem Möbelhaus zu kaufen sind, waren für die beiden Rückehrer Anlaß zu unbändiger Freude: "Unsere Wirtin hat jetzt v. ihrem Sohn verschiedene Möbel zurückbekommen, darunter auch ein Büchergestell, das wir bekamen u. so ist Günther jetzt selig, daß er all seine Manuskriptkartons aufstellen kann. So hat jeder seinen Kasten für sich, für seine Schreibsachen, wodurch schöne Ordnung. […] Sonst leben wir ruhig schreibend, tippend, übersetzend. (E. Freundlich an O. Freundlich / 2.4.1953 / DLA)

In dem unveröffentlichten Text Zimmerfluchten beschrieb Elisabeth Freundlich die prekären Verhältnisse, in denen sie und andere Rückkehrer leben mußten. Unter anderen bewohnten sie eine Unterkunft in der Krugerstraße 18/4, wo sie schlechte Erfahrungen mit der Vermieterin machen mußten. Dorthin ging ein Gutteil der Post, die die beiden nach der Rückkehr 1950 erhielten. Die Jahre von 1951 bis zur Trennung 1955 und zu seiner großen Reise nach Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1959 waren von zahlreichen Wohnungswechseln geprägt. Und schließlich landeten sie in der Wohnung von Viola Broda, der Mutter des späteren Justizministers Christian Broda: "Nach immer neuen peinlichen Zwischenstationen, fand ich schließlich für mehrere Jahre ein provisorisches Zuhause bei Viola Broda, mit der schon meine Eltern verkehrt hatten, und deren große Söhne Christian und Engelbert ich seit Jugendtagen kannte. Ich bewahre dieser prachtvollen, unkonventionellen Frau ein dankbares, fast zärtliches Gedenken." (Freundlich 1992:136-137)

In diese Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße ist Günther Anders mit eingezogen und wohnte dort, bis er in Mauer ein neues Zuhause fand. Jedoch auch dort mußte er zweimal umziehen. Wie lange es jedoch für Remigranten im allgemeinen dauerte, bis sie endlich in eine eigene Wohnung einziehen konnten, zeigt ein Brief von Elisabeth Freundlich an ihren Agenten Joseph Kalmer: "Weil Sie nach meiner Wohnung fragen: ja, ich habe sie, die Eigenwohnung; schon seit Oktober (Spitalgasse 17), werde aber kaum vor Anfang Dezember einziehen […] Die Wohnung ist hell, sonnig, mit Blick über Dächer und hat mich nichts gekostet als einen Knix vor einem alten Herren. Sie hat, was wie Sie wissen in Wien äusserst rar ist, alle gadgets der Neuzeit, als da sind, Zentralheizung, heisses Wasser vom Haus etc. Und ist sie auch klein, werde ich doch wohl 2000 Bücher ca. gut unterbringen können. Und der Zins ist sage und schreibe monatlich 120 ö.S., dazu kommt im Winter noch Heizung, die aber ein Drittel weniger ausmacht, als was ich jetzt für Heizung ausgebe, wobei Vorzimmer, Bad, Küche etc. ja doch ungeheizt bleiben. Ich geniesse schon jetzt ungeheur die kommende Sorglosigkeit; d.h. diesen Zins werde ich wohl immer durch meinen hohlen Koppes Arbeit verdienen können; und verreisen werde ich auch leichter können, weil es bis jetzt immer schad war um den teuren Zins, den man sowieso bezahlen muss. Auch kann ich dann eine meiner ausländischen Freundinnen mal zurückeinladen. Etwas lang ist meine Antwort auf Ihre Frage ausgefallen, aber es ist die erste eigene Wohnung meines Lebens und ich benehme mich wie andere mit achtzehn und gerate über jeden neuen Kochlöffel in Enthusiasmus. Und wenn ich was nachzuschlagen habe, werde ich es in vielen Fällen zu Hause tun können und nicht Tage mit dem antiquierten Betrieb der Nationalbibliothek verlieren." (Freundlich an Kalmer / 5.11.1955 / DLA)

Aus diesem Brief ist ersichtlich, daß Rückkehrer erst sehr spät ihre endgültige Bleibe fanden. Vielleicht war das ja auch ein Grund, warum es für viele Emigranten so schwer war, erwachsen zu werden, denn wie Günther Anders schrieb, war es dafür notwendig, einen gesellschaftlichen Ort zu besetzen: "Denn Erwachsenheit, erst einmal beim Manne, ist weder nur ein biologischer Zustand, noch das, was wir in Universitätsseminaren (wieviel Äonen ist das her?) bei der Analyse von Erziehungsromanen das ‚Stadium geistig-sittlicher Entwicklung‘ zu nennen liebten. ‚Erwachsenheit‘ ist vielmehr ein gesellschaftlicher Status. Wozu zum Beispiel Vater-sein gehört. Erwachsen ist der Mensch, der mit einer bestimmten Rolle innerhalb einer bestimmten Gesellschaft rechnen darf; der daraufhin bestimmte Dispositionen treffen kann, und mit dessen bestimmter Funktion auch die Gesellschaft rechnet. Kurz: Erwachsenheit ist gesellschaftliche Identität." (Anders 1986:27)

Günther Anders selbst mußte bis Ende der sechziger Jahre warten, bis er in eine eigene Wohnung ziehen konnte, die ganz ihm gehörte, die nicht auf das Provisorische ausgerichtet war, sondern auf Seßhaftigkeit. Günther Anders‘ Wohnräume waren immer mit seinen sozialen Bindungen verknüpft. Breslau, Hamburg und Freiburg mit der Familie. Marburg, Berlin, Paris und Kalifornien mit Hannah Arendt und Familie. Prinz Eugenstraße mit Elisabeth Freundlich, und schließlich die beiden Wohnungen in Wien-Mauer (Dreiständegasse 4, Ölzeltgasse 15) mit Charlotte Zelka. Am Ende strandete er in der Lackierergasse, wo er zum ersten Mal in seinem Leben (er war bereits in den Sechzigern) alleine wohnte, ohne Beaufsichtigung, ganz für sich. Folge ich seinem Gedankengang in Lieben gestern, ist er erst in hohem Alter erwachsen geworden.

Vielleicht liegt auch darin ein Kern für das Scheitern aller drei Beziehungen. Auch die Ehe mit Elisabeth Freundlich wurde im Jahre 1955 geschieden. Äußerer Anlaß war Charlotte Zelka, seine damalige Geliebte und spätere dritte Ehefrau. Über die möglichen inneren Motivationen für die Trennung der beiden läßt sich mehr in Günther Anders‘ bereits oben erwähnter Schrift Lieben gestern in Erfahrung bringen, in dem er unter anderem über die Bindung von Paaren aneinander und deren Liebesbeziehungen reflektiert. Einerseits erlaubten, nach Ansicht von Günther Anders, die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht, daß das Privatleben von zu großer Wichtigkeit werden durfte, andererseits aber war er auch davon überzeugt, daß "wer niemals, etwa beim Lesen Stifters, vor einem Bilde wirklicher Privatheit, seine Fassung verlor und niemals durch das Versäumte erschrak", auch nicht zu denen gehöre, "die über diese Dinge mitreden" dürfen. (Anders 1986:21) Er war also genauso vom Verlust der Privatheit betroffen. Gleichzeitig war er aber der Meinung, daß "das Bewußtsein gleicher Erfahrungen und gemeinsamer Gefahren" ein Nähegefühl hervorbringt, "mit dem andere, noch so starke, erotische Bindungen kaum konkurrieren können. Gemeinsame Erfahrungen bedeuten: Über das, was am meisten ‚der Rede wert‘ ist, braucht man nicht mehr zu reden; man kann sich spießgesellenhaft auf Andeutungen beschränken und des Anderen Winke richtig erschließen; oder richtiger: man versteht sie kurzschlußhaft. Diese Beschreibung ist beinahe die Beschreibung der Liebe: Denn wenn etwas die Liebessituation von anderen Situationen unterscheidet, so der ständig und verläßlich arbeitende Kurzschluß-Mechanismus. Funktioniert nun aber ein ähnlicher Mechanismus zwischen ‚Komplicen der Erfahrung‘, so ist es nur natürlich, daß die hin- und herspringenden Funken die Menschen als ganzes elektrisieren. ‚Komplicität‘ mündet in Liebe, in ‚Liebe auf den letzten Blick ‘". (Anders 1986:21)

Doch dieser letzte Blick hatte offensichtlich nicht genügt, um an der Ehe mit Elisabeth Freundlich festzuhalten. Schließlich trat mit Charlotte Zelka eine Frau in Günther Anders‘ Leben, die auf Grund ihres vollkommen anderen gesellschaftlichen, politischen, künstlerischen und persönlichen Lebenshintergundes und ihrer jugendlichen Erotik in der Lage war, in ein direktes Konkurrenzverhältnis mit der Komplizin und Ehefrau von Günther Anders zu treten. Die Trennung von Elisabeth Freundlich und die Beziehung mit Charlotte Zelka befreiten Günther Anders aus der Isolation der Exilerfahrung und ermöglichten ihm seine ersten großen Erfolge in schriftstellerischer und politischer Hinsicht. Die dreiunddreißig Jahre jüngere Charlotte Zelka begleitete ihn durch die wohl schaffensreichste und dynamischste Zeit seines Lebens.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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