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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 24 | Maschinenraum mit Klaviermusik

1955 kam es zur Scheidung zwischen Elisabeth Freundlich und Günther Anders. Die Trennung war für beide nicht einfach und emotional sehr belastend. Noch in der Zeit, als Günther Anders mit Elisabeth Freundlich in der gemeinsamen Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße wohnte, begann er ein Verhältnis mit Charlotte Zelka. Dies hatte zu erheblichen emotionalen Verletzungen bei Elisabeth Freundlich geführt: "Was ein Radio kostet, muß ich mich erst erkundigen, aber falls Du uns eines schenken willst, ist das sehr zu überlegen, ob es nicht im derzeitigen Arrangement der Wohnung eher zu Ehezerwürfnissen führen würde." (E. Freundlich an O. Freundlich / 8.10.1954 / DLA) Bei der Scheidung übernahm Günther Anders dann auch die volle Verantwortung und Unterhaltsverpflichtungen. Die Schuldfrage wurde außer Zweifel gestellt. Doch damit war die Beziehung zwischen den beiden nicht beendet. Während der gesamten Ehe mit seiner dritten Frau Charlotte Zelka blieb Elisabeth Freundlich ihm freundschaftlich verbunden.

Am besten läßt sich dieses besondere Dreiecksverhältnis, denn in sozialer Hinsicht kann es als solches bezeichnet werden, an der Herzinfarktepisode von 1965 zeigen. Günther Anders hielt sich im Mai 1965 bei seinem Verleger in München auf, weil er beim Ostermarsch eine Rede zu halten hatte. Er erlitt eine schwere Herzattacke, die Folge seines intensiven und kraftzehrenden Schreibprozesses und seines permanenten politischen Engagements war. Während des Spitalaufenthaltes berichtete Charlotte Zelka in täglichen Briefen und Telefonaten an Elisabeth Freundlich nach Wien, in denen sich beide Mut zusprachen: "Deine Stimme klang so müde am Telephon, dass ich mir wirklich um Dich Sorgen mache. Bitte, bitte sei ‚brav‘ (Du siehst, ich bin schon angesteckt vom Wortschatz im Spital) and don‘t overdo it, sonst liegst auch Du auf der Nase. Lerne von Günthers Unglück, dass es wirklich gar keinen Sinn hat zu viel zu machen." (Zelka an Freundlich / 15.5.65 / DLA)

Der Briefwechsel aus dem Spital zwischen den beiden Frauen begann am 5. Mai 1965 und endete am 4. Juni 1965. Leider sind mir nur die Briefe zugänglich gewesen, die Charlotte Zelka an Elisabeth Freundlich schrieb. Doch auch diese sind in Bezug auf Günther Anders und die Bedeutung der Ereignisse im Jahr 1965 aufschlußreich. Die vier Wochen im Spital, in denen Günther Anders beinahe seinen persönlichen Hades betreten hätte, bevor er den gesellschaftlichen in Auschwitz ein Jahr später aufsuchte, prägten sein nächstes Jahrzehnt. Die Briefe zeigen zweierlei: einerseits die Sorge der beiden Frauen umihren Mann und die persönlichen Schwierigkeiten, die Günther Anders den beiden Frauen in dieser Situation bereitete.

Beinahe täglich berichtete Charlotte Zelka Elisabeth Freundlich über den Fortgang der Untersuchungen und des Genesungsprozesses. Indirekt sprach sie damit auch Elisabeth Freundlich eine gewisse Zuständigkeit für Günther Anders zu. Sie schrieb über die Operation und ihren Aufenthalt in München. Einmal mehr zeigte sich, wie Frauen sich für ihn verantwortlich fühlten, seinen Alltag organisierten. Dies hatte naturgemäß nicht nur seine angenehmen Seiten, sondern war bei der schwierigen Persönlichkeit von Günther Anders auch mit Unannehmlichkeiten verbunden: "Heute bin ich wirklich ready for the nut house. Wenn der Günther sich nicht so furchtbar aufgeregt hätte, wäre die ganze Situation doch eine Komödie. Leider Gottes, obwohl ich wirklich sieben, acht Stunden jeden Tag im Spital bin, spielen sich die ‚Katastrophen’ ab während meiner Abwesenheit." (Zelka an Freundlich / 13.5.1965 / DLA)

Günther Anders brauchte einige Jahre, um sich von diesem Infarkt zu erholen. Körperlich trat allsbald Erholung ein, auch wenn sich Charlotte Zelka Sorgen machte, ob er wirklich so rasch in der Lage sein würde, auf eigenen Beinen zu stehen: "Ein ruhiger Tag, alles OK, nichts Sonderliches zu berichten. Die Fortschritte sind sehr langsam aber doch bemerkbar. Zur Abwechslung gehe ich heute abend ins Theater. Ich habe Günther überreden können, u.U. länger im Spital zu bleiben, als die Aerzte es für nötig halten: ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so bald so stark sein wird, dass es möglich sein wird, ob im Zug oder im Wagen, ihn nach Wien oder wheresoever hinzutransportieren. Darüber, muss ich gestehen, bin ich ziemlich verzweifelt. Bitte versuch auch Deinen Kopf ein bisschen darüber zu zerbrechen. Ich überlege mir auch, ob es doch vielleicht psychologisch besser wäre, dass wir doch nach Hause gehen sollen, statt in ein Sanatorium. Er hat irgendwie das Gefühl, dass wenn er in ein Sanatorium käme, dass das bedeuten würde, dass er endgültig krank sei." (Zelka an Freundlich / 13.5.1965 / DLA)

Schließlich gelang es den beiden, ihn nach langen Überredungskünsten doch nach Wien zu bekommen. Lange Zeit fiel es ihm noch schwer, allein zu reisen oder allein zu sein. Immer wieder plagten ihn Depressionen und die Angst, einen neuerlichen Anfall zu erleiden. Geholfen haben ihm sicherlich seine weiteren Aktivitäten, die er bald nach seinem Herzinfarkt wieder aufgenommen hat. In all diesen Monaten und Jahren nach seinem Infarkt unterstützen sich die beiden Frauen gegenseitig, wenn es darum ging, die emotionalen Ausbrüche des alternden Mannes zu ertragen.

Noch im Jahr 1990 korrespondierten sie miteinander, unterhielten sich über ein etwaiges Treffen in Wien, und noch immer drehte sich ihre Kommunikation um Günther Anders: "Bis jetzt habe ich überhaupt keine Pläne, bis jetzt habe ich nur im Konjunktiv geschrieben, weil ich die Situation als sehr kompliziert ansehe. Und das tue ich noch mehr nach Ankunft Deines Briefes. Natürlich komme ich nicht zu Dir in die Wohnung, wenn der Günther dort wohnt. Und die Tatsache, daß er sagt, wir können auch ausgehen, wie es uns beliebt, glaube ich natürlich nicht. Was er sagt, und was er dann tut, sind wie immer zwei verschiedene Sachen. Wenn er wirklich will, daß wir Zeit haben, einander zu sehen, dann geht er für die Zeit nach Hause. Ich wiederhole, wenn ich käme (was ich leidenschaftlich gern täte), käme ich um Dich zu sehen – natürlich sehe ich auch andere. Aber das wäre der Hauptgrund. Die ganze Sache ist nicht so eilig, da ich momentan mehrere Konzerte habe." (Zelka an Freundlich / 22.4.90 / DLA)

Günther Anders mußte sich offensichtlich auch in die Beziehung seiner Frauen einmischen. Auch im Alltag kamen Menschen mit ihm erst einen Schritt weiter, wenn sie breit waren, seine Schritte mitzugehen. Was aber hatte Günther Anders von dieser permanenten Einmischung? Sie brachte ihm vermeintliche Kontrolle über sein Leben, das ja vor allem von anderen bestimmt wurde, im privaten wie im öffentlichen Raum. Und in dieser Kontrollausübung, in dieser Bestimmung, wer wie nahe an ihn und die ihn umgebenden Leute heran durfte, sah er vielleicht seine einzige Möglichkeit, die Selbstbestimmung über sein Denken und Handeln nicht aus der Hand zu geben. Nur was selbst getan ist, ist wirklich getan. Vielleicht galt dies in gewisser Weise auch für seine private Existenz.

Wer war nun diese Frau, die Günther Anders durch die schaffensreichste, publizistisch erfolgreichste und zugleich politisch schwierigste Zeit seines Lebens begleitete. Wer war diese Frau, die Günther Anders bei seiner Tätigkeit im Maschinenraum unterstützte, in einer Zeit, als ein Buch nach dem anderen fertiggestellt wurde, in einer Zeit, da sich sein Denken zu einem Wissen über die Welt kristallisierte, das bis heute in seinen Texten gültig und lesenswert vor uns liegt. Charlotte Lois Zelkowitz wurde 1930 geboren. Sie war die zweite Tochter von Jack und Marian Zelkowitz, die einen kleinen Schuhladen (Jacks Shoe Store) in Monrovia (Kalifornien) betrieben. Die Familie stammte ursprünglich aus Polen. Betty Sanford, die ältere Schwester, schrieb in ihren Erinnerungen, daß Leute sogar aus Los Angeles ins San Gabriel Valley reisten, um Schuhgrößen zu finden, die sie anderswo nicht bekamen. Charlotte Zelka wuchs also in einer typisch amerikanischen Kleinstadt auf. Die ältere Schwester beschrieb in einer kurzen Erinnerung Crowing up in Monrovia die Umstände wie folgt: "Myrtle Avenue was an bustling business street an Monrovia enjoyed clear skies, mountains you could actually see and acres of orange groves and vacant lots, full of peoples, mustard and lupine”. (Sanford:1)

In der Familie herrschte eine kunstsinnige Grundstimmung, und Charlotte lernte früh das Klavierspiel. Eigentlich nahm Betty Sandford Klavierunterricht. Doch ihre Schwester Charlotte wurde, nachdem sie Talent zeigte, bereits mit drei Jahren mitunterrichtet: "At the age of three, Charlotte had staked out her claim on the piano and by four was putting her older sister to shame on that instrument.” (Sanford:1) In ihrer Kindheit unterhielt sie mit ihrem Klavierspiel gemeinsam mit ihrer Schwester nicht nur die Familie, sondern zu besonderen Anlässen auf örtlichen Veranstaltungen auch die Gemeindemitglieder.

In den vierziger Jahren verließ Charlotte Zelka Monrovia und übersiedelte nach New York, wo sie an der Juilliard School studierte und später auch Unterricht bei dem berühmten Pianisten Artur Schnabel und seinem Sohn Karl nahm. Anfang der fünfziger Jahre reiste sie zunächst nach Rom und dann nach Wien, wo sie Günther Anders kennen und lieben lernte. Sie gab in vielen europäischen Städten Konzerte und unterrichtete nebenbei. Sie spielte nicht nur Klassiker wie Bach, Schumann und Brahms, sondern begeisterte sich auch für die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, allen voran für Ernst Krenek, der ihr auch seine fünfte Klaviersonate widmete. Sie spielte als Mitglied in der herausragenden Formation Die Reihe unter der Leitung des Musikers und Komponisten Friedrich Cerha. 1975 kehrte sie nach der Trennung von Günther Anders nach Monrovia zurück und gründete eine Musikschule. Sie war Mitglied des Pasadena Conservatory of Music. Sie gründete die Chamber group und The Almont Ensemble. Charlotte Zelka, ebenso wie Elisabeth Freundlich, überlebte ihren Ehemann Günther Anders, von dem sie sich nie scheiden ließ, um neun Jahre und starb am 10. Juni 2001 in ihrer Geburtsstadt Monrovia an Lungenkrebs.

Die Beziehung zwischen Günther Anders und Charlotte Zelka wurde von beiden Seiten sehr emotional geführt. Allein die im Nachlaß von Günther Anders erhaltenen Briefe von Charlotte Zelka (unterschrieben mit Sash) aus dem Jahr 1957 zeigen, wie verknallt die damals Siebenundzwanzigjährige in ihren Günther war. Beide stellten für den jeweils anderen eine Art Projektionsfläche dar. Günther Anders hatte eben seine Krankheit einigermaßen in der Griff bekommen, feierte erste bedeutende Erfolge als Autor, stand im Blickpunkt der Öffentlichkeit – und eine Frau von Mitte Zwanzig interessierte sich für den alten Mann. Was wohl auch nicht unbedeutend war, sie war Pianistin. Nach der Philosophin Hannah Arendt, der Schriftstellerin Elisabeth Freundlich wurde nun eine Musikerin seine Frau und begleitete ihn mit ihrer Klaviermusik durch seine besten Jahre. Die Beziehungsanbahnung zwischen den beiden blieb nicht ohne Resonanz, wie eine Passage aus einem Brief von Hans Jonas an Hannah Arendt beweist: "Die abgöttische (leider buchstäblich zu verstehen) Bewunderung seiner jungen Frau ist unheiliger Weihrauch in seiner Nase: selbst hier, wo noch das einzige warme Gefühl seine Zuflucht gefunden hat, grinst der ichsüchtige Götze." (Jonas an Arendt / 11.8.1959 / PAK)

Nach seiner Scheidung von Elisabeth Freundlich zog Charlotte Zelka mit in die Wohnung von Viola Broda ein, die sie aber bereits 1957 wieder verlassen mußten: "Denn in einem Monat müssen wir raus aus unserer furnished Behausung; und wir haben nicht das mindeste in dieser Stadt, in der nur members of the SPÖ oder der ÖVP als wohnwürdig klassifiziert werden. Vermutlich landen wir in irgendeinem Bauernhaus im Grünen, wohin wir einen Flügel schaffen werden, da Charlotte im Herbst a chain of concerts hat." (Anders an Budzislawski / 12.2.1957 / HU) Das Ehepaar fand nun in Wien-Mauer, zunächst in der Ölzeltgasse 15, später dann in der Dreiständegasse 40, eine vorläufige Unterkunft. Ende der fünfziger Jahre fühlte sich Günther Anders stark wie nie zuvor und in der Lage, all seine begonnen Werke zu vollenden: "Sie sehen, wir sind nicht tot zu kriegen, nein ich fühle mich geradezu unsterblich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass, wo noch so viel zu tun bleibt, einem ein Strich durch die Rechnung gemacht wird." (Anders an Budzislawski / 9.12.1960 / HU) Er fühlte sich zum ersten Mal aus der Exilsituation befreit, sein Leben hatte eine Richtung gefunden, die Maschine, die während seiner Arthritis ins Stocken geraten war, stand nun wieder unter enormem Druck: "Ohne Charlotte, der ich auch diesen Brief [...] diktiere, könnte ich den Betrieb gar nicht aufrechterhalten; aus der Philosophenklause ist ein Korrespondenzoffice geworden. Ein böseres Symptom für die Bösheit der Zeit ist wohl nicht denkbar. […] Nun noch zum Schluss etwas Erfreuliches: Dass wir eine himmlische Wohnung haben. Arbeitsveranda mit Blick ins Grüne, Pflaumenbäume ad lib zu unserer Konsumverfügung. Wiener Wald endlos 3 Minuten hinter dem Haus beginnend – kurz die (produktive) Misere der Emigration scheint nun doch vorüber." (Anders an Budzislawski / 28.8.1959 / HU)

Die Fröhlichkeit, der Optimismus, der aus diesen Sätzen spricht, spiegelte sich auch in der Hoffnung wieder, daß Charlotte Zelka, die mehrmals schwanger war, doch noch ein Kind von ihm bekommen würde. Der Mythos, den Günther Anders später in der Kinderfrage kultivierte, daß Intellektuelle keine Kinder haben sollten, war in den frühen Sechzigern noch nicht ausformuliert. Daß er keine Kinder hatte, lag nur daran, daß die Schwangerschaften von Charlotte Zelka nicht stabil genug waren, um Kinder zur Welt bringen zu können: "Leider, leider muss ich die Hauptfrage ganz negativ beantworten. Die arme Ch. hat die Schwangerschaft wieder nicht zu Ende führen können. Sie war, besonders, da sie gut über den dritten, den heiklen Monat hinweggekommen zu sein glaubte, unsäglich glücklich. Aus. Nun ist sie seit ein paar Tagen, um sich zu erholen und anständig in Ordnung bringen zu lassen, zuhaus in Californien. Dort ist sie einigermassen gut angekommen (nach Zwischenfällen under way), aber Post hab ich noch nicht (nur telephoniert)." (Anders an Budzislawski / 30.8.1960 / HU)

Beinahe fünfzehn Jahre nach Kriegsende war das Leben noch immer nicht einfacher für Günther Anders geworden. Besonders der Alltag gestaltete sich schwierig. Für Charlotte Zelka mußten die Winter kaum erträglich gewesen sein. Erst als die beiden 1964 eine Gasheizung bekamen, konnten sie die Wintermonate in einigermaßen angenehmen Verhältnissen verbringen. Die Zeit war ausgefüllt mit Schreiben, Konzertreisen, Recherchereisen und politischen Aktionen. Beide nahmen am Leben des anderen teil. Er begleitete sie des öfteren auf ihren Konzerttourneen, sie wiederum half ihm beim Erledigen der Korrespondenzen und versuchte sich als Übersetzerin seiner Texte ins Englische. Die Zeit lief ohne Stillstand dahin. Da blieb kaum einmal ein Augenblick zum Atemholen: "Rasch doch noch ein paar Zeilen, damit nicht das Jahr vorübergeht ohne Dank für Ihren Brief. Sie fragen, was mit den Sterns los ist. Man kann nur antworten: viel und alles, wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht, die Aufgaben nehmen kein Ende, und die Arbeit ist so reichlich, dass Charlotte kaum mehr ans Klavier kommt und fast ausschliesslich tippen muss." (Anders an Budzislawski / 30.12.1964 / HU)

Günther Anders kam in den späten fünfziger Jahren nicht nur in seiner Theoriebildung ein Stück weiter, sondern konnte sein Denken nun auch adäquat in Texte umsetzen. In den Jahren von 1955-1975, also während der Jahre mit Charlotte Zelka, schrieb und publizierte er wesentliche Teile seines Werkes. Neben umfangreichen Büchern wie Die Antiquiertheit des Menschen I (1956), Der Mann auf der Brücke (1959), Off limits (1961), Wir Eichmannsöhne (1964), Philosophische Stenogramme (1965), Die Schrift an der Wand (1967), Der Blick vom Turm (1968), Visit Beautiful Vietnam (1968), Der Blick vom Mond (1970), Endzeit und Zeitenende (1972) publizierte er auch zahlreiche Artikel, Essays, Glossen und Notizen in Zeitschriften und Sammelbänden. Die Maschine lief auf Hochtouren. Und so zahlreich seine Publikationen waren, so vielfältig waren die Themen, mit denen er sich beschäftigte. Seine Bücher waren Varianten eines einzigen gesellschaftlichen Vorganges: "Aber wenn das der Fall ist, so, wie gesagt, nicht deshalb, weil ihre Gegensätze zusammen ein prästabiliert harmonisches Ganzes bildeten, das von mir nun abgebildet würde, sondern allein aus dem negativ, systematischen Grunde, weil die Bedrohungen und die Gefahren, mit denen sich meine Einzeluntersuchungen befassen, Teile und Varianten eines einzigen Zusammenbruches sind. Oder moralisch ausgedrückt: weil die in meinen Einzelschriften anvisierten Protest-Positionen und -Aktionen Varianten eines einzigen Protests, also, in diesem moralischen Sinne, Stücke eines ‚Systems‘ sind." (Anders 1970:16)

Jedes dieser Werke zu rezipieren hätte an dieser Stelle keinen Sinn, weil seine eigentliche Protest-Intention, seine eigentliche politische Handlung als biographisches Erzählmoment nicht sichtbar werden würden. Zu jedem der Bücher und Themenkreise ist genug Sekundärliteratur erschienen. Ich möchte mich hier auf drei Elemente konzentrieren, die Günther Anders an- und vorangetrieben haben, die nicht nur sein Denken, sondern auch seinen Körper so weit gefordert haben, daß er 1965 beinahe an seinem Herzinfarkt gestorben wäre. Getrieben von seiner Ursachenforschung, getrieben von seinem Willen, den wahren Kern eines Problems zu finden, entwickelte er drei zentrale Thesen, die ich im folgenden zusammenfassen möchte.

Erstens: Die Welt ist in ihrer Monströsität nicht mehr als Ganzes sichtbar, weil wir sie in kleine Erfahrungshäppchen zerstückeln und so konsumierbar und vergeßbar machen.

Zweitens: Im Prozeß der Verdrängung und des Vergessens macht der Mensch die Technik zum Subjekt der Geschichte und sich kleiner, als er selbst ist.

Drittens: Nur die Wiederherstellung der Welt als Ganzes, das Erinnern und Darstellen des monströsen Ganzen und politischer Widerstand dagegen kann den Menschen vor seinem endgültigen Untergang retten.

Ich beschränke mich auf diese drei Thesen, weil ich Günther Anders nicht als einen apokalyptischen Theoretiker begreife, sondern als einen Menschen, der aus der Analyse der Welt eine mögliche Apokalypse ableitete, die es zu verhindern gilt. Er glaubte daran, daß die Welt zu retten sei. Der Apokalyptiker sagt den unwiderrufbaren Untergang voraus, unabhängig von Handlungsmöglichkeiten. Günther Anders war zutiefst überzeugt, daß wenn wir die Welt nicht grundlegend neu analysieren, wir blind in eine Katastrophe stürzen werden. Der Zustand der heutigen Welt beweist nachdrücklich, wie aktuell Günther Anders nach wie vor ist. Er ist kein historischer Autor. Die Themen, die ihn umtrieben, sind die Themen, die viele von uns umtreiben.

Wie bereits erwähnt, gab es drei historische Schauplätze, mit denen Günther Anders seine Thesen untermauerte: Auschwitz, Hiroshima und Vietnam. Diese waren nicht nur Orte der Vernichtung, sie waren auch politische Anlaßfälle, sich in die Tagespolitik, die für Günther Anders immer auch Weltpolitik bedeutete, einzumischen. Auschwitz und Hiroshima stehen als Fälle für die These Nummer eins: Die Welt ist in ihrer Monströsität nicht mehr als Ganzes sichtbar, weil wir sie in kleine Erfahrungshäppchen zerstückeln und so konsumierbar und vergeßbar machen.

Dieses Vergessen der Deutschen und Österreicher war in den Augen Günther Anders‘ somit nichts als der Versuch, dem Monströsen, das nach dem Krieg in all seiner Grausamkeit sichtbar wurde, zu entkommen. Das Vergessen und Verdrängen der Amerikaner im Falle Hiroshima gleicht dem der Europäer in eigentümlicher Weise. Für Günther Anders ging es bei beiden Ereignissen um die Frage, wie die Menschen moralische Kompetenz nach derartig monströsen Katastrophen zurückerlangen können. Es ging ihm nicht einfach darum, ein schreckliches Ereignis zu protokollieren und aus dessen Grausamkeit moralische Handlungen abzuleiten, wie es viele aus der Generation derer, die nach dem Krieg geboren wurden, versuchten. Es ging ihm auch nicht darum, sich bloß zu empören und die Schuld bei den anderen zu suchen, wie es die Sieger taten. Ihm ging es vor allem darum, die Ereignisse vor dem Vergessen zu bewahren, also als eine Einheit zu begreifen, als System, als erinnerbare Vergangenheit. Erst wenn wir verhindern, daß wir das Monströse vergessen, wäre eine bewertende Moral möglich. Eine moralische Haltung setzt ja eine richtige, also eine intakte, eine vollständige, eine als Ganzes wahrnehmbare Welt voraus, nicht eine in kleine intellektuelle Häppchen zerstückelte Fragmentewelt, in der jeder eine beliebige Position zu den Teilstücken einnehmen kann, weil sie aus dem Gesamtzusammenhang gelöst wurden. Günther Anders versuchte in all seinen Werken, ausgehend von Auschwitz und Hiroshima, eine Welt zu konstruieren, die in sich zusammenhängt und als solche sichtbar wird. Er griff in seinem Text Wiedersehen und Vergessen seine Thesen von der Weltfremdheit wieder auf, um eine moralische Legitimierung für sein politisches Engagement zu geben. Der Mensch kann nur moralisch handeln, wenn er erkennt, "daß er seine Welten selbst produziert, und sie wechseln und immer wieder neu erfinden kann", also auch zerstückeln kann, wie er es heute tut. (Anders 1985c:205) Durch dieses permanente Wechseln der Lebensstile und die Zerstückelung der Produktion von Vernichtung in Einzelabfolgen verliert aber auch die Bewertung des Gesamtprozesses an Bedeutung, und alles wird im Sinne der Moral gleichgültig, weil alles gleich gültig ist. Deswegen ist die moralische Aufgabe von damals und heute, "eine wahre Welt zu ermöglichen; oder, was auf das Gleiche hinausläuft, diejenigen Mächte, die die Menschen systematisch weltlos und unmenschlich machen, bloßzustellen und zu bekämpfen." (Anders 1985c:212) Moral bedeutete für Günther Anders also Grundlagenforschung, um Wissen herzustellen, mit dem die Welt moralisch zu bewerten und politisch zu verändern wäre.

Eines der Probleme, die er in diesem Zusammenhang entdeckte, war, daß die Welt uns eben in ihren Produktionsmechanismen der Vernichtung nicht mehr als Ganzes entgegentrat und entgegentritt. Die Monströsität der Welt muß von den von dieser Monströsität Betroffenen in kleine Einzelereignisse zerlegt werden, um sie bewältigen zu können. Dadurch nimmt jeder und jede von uns nur mehr einen Teilausschnitt wahr, der dann nicht mehr als monströs, sondern in einen logisch agierenden Alltag eingebunden scheint. Wenn die Welt aber als Einheit nicht mehr herstellbar ist, dann ist sie als Ganzes auch nicht mehr vorstellbar. Hinzu kommt, daß die Ereignisse, im Falle von Auschwitz die vergasten Juden, im Falle von Hiroshima und Vietnam die verbrannten Japaner und Vietnamesen, so unvorstellbar grausam waren, daß die Menschen sich weigerten, diese länger als notwendig im Gedächtnis zu behalten. In gewisser Weise zeigte Günther Anders Mitleid mit der Generation der Täter, wenn er schrieb: "Aufgewachsen in einer Welt, in der der Anblick des gewaltsamen Todes selbstverständlich war, deren Stundenplan es vorsah, daß irgendwer im Schutte liege; und zu der es gehörte, daß irgendein Haus zusammenstürzte – arme Generation! Schon damals hattet ihr lernen müssen, täglich und stündlich […] zur Tagesordnung überzugehen. Nur als Seelenblinde hattet ihr durchkommen können. Was dürfen wir heute von euch erwarten?" (Anders 1985c:189-190) Wir durften das von ihnen erwarten, was uns die Wirtschaftswundergeneration hinterließ: einen Planeten am Rande zum ökologischen und klimatologischen Kollaps!

Aus dem Begriff der Seelenblindheit, wo der Mensch nicht mehr in der Lage ist, das Monströse zu verhindern, die Vernichtung von Menschen nicht mehr aufhalten kann, weil er die begangenen Taten sofort vergessen muß, um weiterleben zu können, entwickelte Günther Anders schließlich den Begriff der Apokalypseblindheit. Da das Monströse also immer nur in der Einzeltat sichtbar wird, kann es als Ganzes nicht mehr in den Blick genommen werden. So wird aus einzelnen seelenblinden Menschen eine apokalypseblinde Menschheit. Nur durch dieses rasche Vergessen und Verdrängen waren der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung des Wirtschaftswunders sowie die nachhaltige und uneingeschränkte Akzeptanz des technischen Fortschritts überhaupt erst möglich. Das Wirtschaftswunder der sechziger Jahre fußte auf den Millionen getöteten Menschen der beiden Jahrzehnte davor. Um den Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg politisch und moralisch legitimieren zu können, war es notwendig, das Monströse nicht nur zu verdrängen, sondern auch die Mittäterschaft zu leugnen. Diese Option des raschen Vergessens wurde von der Wirtschaftswundergeneration auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben und in der hochtechnologischen, multimedialen Gesellschaft zu neuer Blüte gebracht.

In der heutigen Mediengesellschaft ist es unerläßlich, Inhalte rasch zu vergessen, um Platz für neue zu schaffen. Wir sind kaum noch in der Lage, all die an uns gebrachten Informationen lange genug im Gedächtnis zu behalten, um eine politische Antwort auf Ereignisse zu finden oder deren moralische Bewertung vorzunehmen. Die Flut der Informationen ist zu monströs, um sie in Erinnerung zu behalten. Wir zerstückeln sie, um sie bewältigen zu können. Als Stückwerk ist uns nicht mehr die Welt als Ganzes, sondern nur noch in Teilen bedrohlich. Jedes Teil wird für sich bekämpft. Das monströse Ganze wird dabei ausgeblendet.

Seelenblindheit und Apokalypseblindeit führen verwandelt im Prozeß der Technisierung der Welt zur zweiten These von Günther Anders: Im Prozeß der Verdrängung und des Vergessens macht der Mensch die Technik zum Subjekt der Geschichte. Gewöhnt daran, Ereignisse rasch zu vergessen, ist der Mensch zunehmend nicht mehr in der Lage oder auch nicht mehr willens zu begreifen, daß er als Subjekt, also als treibende Kraft der Geschichte ausgedient hat. Die monströse Verwandlung, die in der technisierten Gesellschaft von damals und heute vor sich geht, ist die Verwandlung des Menschen vom Subjekt der Geschichte zum Objekt der Technik, in ein in den von ihm selbst geschaffenen Maschinenpark einmontiertes Wesen, jeder Freiheit beraubt. Auch hier wieder ein Rückgriff auf die Weltfremdheit. Die Freiheit, die aus der Künstlichkeit seines Wesen resultiert, erlaubt es dem Menschen überhaupt erst, die Natur zu gestalten und den Maschinenpark zu entwickeln, der ihn als technologisches System genau jene Freiheit raubt, die ihm von Natur aus gegeben wurde. Durch gesellschaftliche Arbeitsteilung wird es dem Menschen zusehends unmöglich gemacht, neben dem monströsen Ganzen auch das Ganze seiner Arbeit zu erfassen. Er betrachtet sich selbst als Rädchen im großen Getriebe des Maschinenparks – eine grundlegende Voraussetzung dafür, ein Produkt nicht mehr als Teil eines umfassenden Arbeitsprozesses wahrzunehmen. Die technologische Welt basiert darauf, daß alle Handlungs- und Informationsprozesse in Einzelteile zerlegt werden und am Ende nur noch das Produkt sichtbar wird. Der Schlüsselsatz, den Günther Anders in diesem Zusammenhang prägte, war: Wir können uns das, was wir herstellen, nicht mehr vorstellen. Die Apokalypseblindheit, die aus der Monströsität der Ereignisse von Auschwitz und Hiroshima resultierte, hat nichts mit der Blindheit der Menschen vor der technischen Vernichtung zu tun. Die eine war eine moralisch motivierte Blindheit, die andere ist eine arbeitstechnisch motivierte: "Unfrei ist er [der Arbeiter] nicht etwa nur deshalb, weil er vom Eigentum an ‚seinen‘ Produktionsmitteln oder Produkten ausgeschlossen ist, sondern weil er das Ganze des Produktionszusammenhanges, in das er integriert ist, nicht übersieht; und ebensowenig das Endprodukt und dessen Bewandtnis kennt – diese bleiben gewissermaßen ‚transzendent‘; ebensowenig die moralischen und unmoralischen Qualitäten ‚seines‘ Produkts; ebensowenig dessen Nutznießer, Verwender oder dessen Opfer." (Anders 1980:91)

Der Arbeiter, der Mensch, kann also auf Grund seiner technischen Blindheit, die aus den arbeitsteiligen Produktionsmechanismen resultiert, auch nicht überblicken, daß er mit seiner Arbeit Produkte herstellt, dessen Bedeutung und Verwendung er nicht mehr beeinflussen kann. Die Menschheit wird somit apokalypseblind für die Wirkungsweise der von ihr arbeitsteilig hergestellten technologischen Welt. Im Buch Blick vom Mond findet Günther Anders schließlich die ultimative Bezeichnung für den Menschen im technologischen Zeitalter: der einmontierte Mensch. Im Zusammenhang mit den Weltraumflügen wird augenscheinlich, was in anderen Lebensbereichen so schwer zu erkennen ist: "Ist ihre Kühnheit nicht Trug? War nicht ihre Leistung längst schon von anderen beschlossen? Ihre ‚Größe‘ längst schon von anderen einkalkuliert? Inwiefern ist die Leistung überhaupt ihre? Sind sie in diese nicht einfach nur einmontiert? Als die letzten für die Durchführung unerläßlichen Monteure? Als ‚einmontierte Monteure‘?" (Anders 1970:28) Und in den Weltraumflügen erkennen wir Menschen noch ein zweites Moment: Wir sind kleiner als wir selbst: "Und trotzdem. Obwohl die Leistung so groß ist und unsere, des Menschen, Größe bezeugt – als groß haben wir uns, als wir die Erde im Nichts schweben sahen, nicht erfahren. Im Gegenteil. Als winzig. Sogar als so erschreckend winzig, wie wir uns nie zuvor erfahren hatten." (Anders 1970:60) Wir sind also nicht nur apokalypseblind und unfrei, sondern wir sind im Gesamtzusammenhang des Universums nichts weiter als eine kleine Laus, die verzweifelt versucht, sich am Leben zu halten. Daß da bei den Zeitgenossen von Günther Anders keine Euphorie beim Lesen der Texte aufkam, scheint mir plausibel. Aber entscheidend ist ja: Hatte er recht? Ich denke, daß die Vorgänge rund um die Arbeitsdebatte, rund um die Mediendebatte, rund um die Klimadebatte beweisen, wie richtig und gültig Günther Anders‘ Ausführungen sind. Was direkt zu seiner dritten These führt: Nur die Wiederherstellung der Welt als Ganzes, das Erinnern und Darstellen des monströsen Ganzen und politischer Widerstand dagegen, kann den Menschen vor seinem endgültigen Untergang retten.

Günther Anders blieb aber nicht in der bloßen Analyse seiner Zeit stecken, warf die Thesen nicht einfach in den öffentlichen Diskurs und blieb selbst zu Hause in der guten Stube hocken. Klar war für ihn immer, daß nur das Erinnern, das Darstellen, das Mitteilen, die direkte politische Intervention Handlungsspielräume eröffnen, die den endgültigen Untergang der Menschheit aufhalten könnten. Für dieses politisch aktive Handeln seien hier zwei Beispiele angeführt, die Günther Anders aus seinem Denken ableitete. So ließ er kaum eine politische Anfrage verstreichen, kaum einen Skandal aus, in dem er sich nicht empörte, wie Lotte Tobisch dies formulierte. (Interview / Tobisch / 2006) Doch bei allem Aktivismus, der manchmal über das Ziel hinausschoß, bleiben zwei Ereignisse in Erinnerung. Das erste war sein Engagement für die Ostermarschbewegung und seine Kritik an den happenings, die in den frühen sechziger Jahren begonnen hatten und dann in der Friedensbewegung bunte Blüten trieben. Das zweite war sein Einsatz im Russel-Tribunal gegen den Krieg der USA in Vietnam.

Anfang der sechziger Jahre half Günther Anders, motiviert durch die Erfahrungen auf seiner Reise nach Hiroshima 1959, die österreichische Antiatombewegung mitzubegründen, und unterstützte diese bis zu seinem Herzinfarkt 1965 auch aktiv mit seiner Beteiligung an den Ostermärschen, die jährlich als Demonstration gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und Europas stattfanden. Im Zuge dieser Aktivitäten lernte er auch Robert Jungk, den wesentlichsten Vordenker der österreichischen Antiatom- und Friedensbewegung, kennen. Der 1913 in Berlin geborene Robert Jungk war nicht nur als Physiker kompetenter in den technischen Fragen der Atompolitik, sondern auch eng verbunden mit dem internationalen Netzwerk der Antiatom- und Friedensbewegung. Auch er hatte bereits 1956 zum ersten Mal Hiroshima besucht und danach zahlreiche Bücher zu diesem Thema verfaßt. Was die beiden ebenfalls miteinander verband, waren ihre prekären Arbeitsverhältnisse als Heimkehrer aus dem Exil: "Bob [Robert Jungk] und ich haben eben gerade zusammen geluncht und einander vorgeklagt, dass wir, sekretärlos, wie wir sind, noch nicht einmal die Hälfte dessen leisten, was wir leisten könnten. Er und ich ziehen in Betracht, eine Sekretärin zusammen zu engagieren. Aber wie soll man eine kriegen, die unseren Arbeiten nahe steht, diskret ist, Englisch kann und selbständiges Arbeiten gewöhnt ist. […] Jungks haben z.B. im Moment überhaupt nichts, und reisen deshalb wie die Besessenen herum: wir haben ja gottlob was Schönes gefunden." (Anders an Budzislawski / 22.12.1959 / HU)

Robert Jungk engagierte sich in der Bewegung Kampf dem Atomtod und nahm ab 1958 an den Ostermärschen für Demokratie und Abrüstung teil. Zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten entwickelte sich rasch eine intensive Freundschaft, die jedoch nicht ganz konfliktfrei verlief. 1963 fand in Wien der erste österreichische Ostermarsch statt: "In einer Woche veranstalten wir hier den ersten österreichischen Antiatommarsch und – sonderbares fällt einem in den Schoss – auf dem Josefsplatz wird Anders the people of Austria addressen." (Anders an Budzislawski / 10.4.1963 / HU) Im Zuge der Ostermarschbewegung und später in der Auseinandersetzung um das Vietnamtribunal und die Peace- now-Bewegung in Amerika zeigten sich aber rasch Differenzen darüber, wie der sich organisierende Widerstand einzuschätzen sei. Günther Anders war der Auffassung, daß eine positive Einschätzung der gesellschaftlichen Bedingungen den Ruf von Robert Jungk als moralische Instanz gefährden könnte. Er forderte deshalb seinen Freund auf, "er solle nun endlich den journalistischen Versuchungen, durch over-optimism die Situation zu verharmlosen, Widerstand leisten". Die Spannungen zwischen den beiden führten jedoch nie zum Bruch, auch wenn Günther Anders bedauerte, daß sie publik wurden: "Was mich betrifft, so finde ich es sehr schade, dass es zu dieser Entwicklung gekommen ist; und ich halte es für schädlich, denn er und ich gelten zusammen als die Dioskuren der Antiatom-Bewegung, und nichts gefährdet die Bewegung mehr, als wenn diese Spannung bekannt wird. Warum er sie bekannt machen mußte, ist mir unerfindlich." (Anders an Budzislawski / 17.2.1960 / HU)

Neben diesen Spannungen auf Grund der optimistischen Einschätzung der Lage gab es auch Differenzen hinsichtlich der Art und Weise, wie Widerstand gegen den Staat als Atommacht geleistet werden durfte. Dazu schrieb Günther Anders in seiner Ostermarschrede aus dem Jahr 1967 folgendes: "Liebe Freunde, die Lage hat sich geändert. Die Lage hat sich – machen wir uns nichts vor – furchtbar verschlimmert. Wir können nicht einfach blindlings weitermarschieren. Durch unser Marschieren haben wir leider noch kein einziges vietnamesisches Kind retten, geschweige denn zum Leben wiedererwecken können. Zwar sind wir, da wir die atomare Bedrohung, und damit die Gefahr des Untergangs Aller erkennen, verglichen mit den meisten, die systematisch verblendet werden, die Nicht-Blinden. Aber wenn wir uns auf diese eine Einsicht beschränken, dann werden auch wir blind. Es genügt nicht, einfach gegen den Atomkrieg zu sein. Wir haben die Wirklichkeit zu verstehen, in der Mächte mit dieser Gefahr spielen. Die Atomgefahr durchschauen und bekämpfen heißt: diese Mächte zu durchschauen und zu bekämpfen." (Anders 1967b:1)

Bereits 1967 bereitete sich eine Auseinandersetzung vor, die schließlich Mitte der achtziger Jahre zu einer veritablen Krise zwischen Günther Anders und der Antiatom- und Friedensbewegung führte – nämlich in der Gewaltdebatte, auf die ich noch eingehen werde. Günther Anders‘ indirekte Kritik auch an Robert Jungk war, daß dieser mit seiner optimistischen Haltung, seinem Beharren auf gewaltfreiem Widerstand den Blick auf den Staat als Kriegsherren, der die Menschen, also seine Bürger, nicht nur mit Atomwaffen, sondern auch mit der Technik an sich und konventionellen Kriegen bedroht, verstelle. Diese Erkenntnis verdankte Günther Anders vor allem seinem Engagement gegen den Vietnamkrieg und seiner Analyse des von den USA geführten Krieges in Südostasien.

Wie eng die Beziehung und die solidarische Freundschaft dieser beiden Männer trotz wesentlicher Differenzen war, zeigt eine Verteidigungsrede, die Günther Anders anläßlich eines Prozesses gegen den Friedensaktivisten Robert Jungk im Neuen Forum publizierte: "Nun könnte man mir vieleicht vorschlagen oder es mir sogar als meine Freundschaftspflicht nahelegen, mich zusammen mit ihm oder an seiner statt dem Tribunal zu stellen, das kommt für mich aber nicht in Frage. Und nicht etwa nur deshalb nicht, weil ich als Fünfundachtzigjähriger bewegungsunfähig geworden bin; sondern auch deshalb nicht, weil ich mich weigere, Gerichte als für solche Fälle kompetent anzuerkennen, also mit Juristen über Moralprobleme, die, wie indirekt sie auch immer etwas mit der Möglichkeit nuklearen Unterganges zu tun haben, zu diskutieren, gar diesbezügliche Entscheidungen von Juristen ernstzunehmen. Das schiene mir der Inbegriff philosophischen Unernstes." (Anders / 1988 / LIT ) Diese Nichtanerkennung der Zuständigkeit von Juristen in einem Prozeß gegen Antiatomaktivisten schließt auch die Nichtzuständigkeit der staatlichen Gerichte in dieser Frage ein, da ja vom Staat, als Atomstaat, die eigentliche Bedrohung ausgeht.

Es ist ganz sicher kein Zufall, daß Günther Anders, der bereits in den sechziger Jahren das Scheitern der Antiatombewegung voraussah und die Legitimität von Gerichten im Atomstaat diesbezüglich anzweifelte, bereit war, an einem Tribunal teilzunehmen, daß sich nicht aus Richtern, sondern Intellektuellen verschiedener Fachgebiete zusammensetzte, nämlich dem Kriegsverbrechertribunal gegen die USA. Vietnam war für Günther Anders aus mehreren Gründen wichtig. Wie schon Hiroshima und Auschwitz stand es exemplarisch für eine bestimmte Form der Herrschaftsausübung und eine bestimmte Form der Kriegsführung – sich einzumischen war also nur logisch und konsequent. Das erste von vier Tribunalen (drei weitere folgten zu Chile, der BRD und dem Irak) wurde 1966 unter dem Namen Vietnam War Crime Tribunal einberufen. Die Eröffnungssitzung fand vom 13.-15. November 1966 in London statt. Die erste Sitzungsperiode sollte ursprünglich in Frankreich stattfinden, wurde dann aber auf Grund eines von General de Gaulle ausgesprochenen Verbotes vom 2.-10. Mai 1967 in Stockholm abgehalten. Das Tribunal beschäftigte sich insbesondere mit den Fragen, ob Amerika gegen internationales Völkerrecht verstoßen hatte, ob die Bombardierung ziviler Ziele stattfand und ob sich andere Regierungen wie Australien, Neuseeland, Südkorea mitschuldig gemacht hatten. Diese Fragen wurden eingehend diskutiert, Zeugen gehört und Berichte aus dem Land selbst zur Entscheidungsfindung herangezogen. Das Tribunal kam am 10. Mai, dem Tag der Verlesung des Urteils, zu folgendem Beschluß: "Wir stellen fest, daß die Regierung und die Streitkräfte der USA schuldig sind an vorsätzlichen, systematischen Bombardierungen großen Ausmaßes ziviler Ziele, hierin eingeschlossen die Zivilbevölkerung, Wohnstätten, Dörfer, Staudämme, Deiche, medizinische Einrichtungen, Leprastationen, Schulen, Kirchen, Pagoden, historische und kulturelle Baudenkmäler." (Russell/Sartre 1968:164) Letztlich kam das Tribunal in allen drei Anklagepunkten zu einem einmütigen Ja in der Beurteilung der Schuldfrage.

Das Vietnam War Crimes Tribunal erhielt international einige Aufmerksamkeit, blieb in den USA jedoch größtenteils unbeachtet, da viele es für einen Schauprozeß mit vorbestimmtem Ausgang hielten. Es gab auch Gegenstimmen, die, wie zum Beispiel Staughton Lynd, ein Bürgerrechtsaktivist aus den USA und Vorsitzender des Marsch auf Washington, dem Tribunal fernblieben, weil sie die Anklage der Verbrechen der Gegenseite vermißten. Wie überhaupt festgehalten werden muß, daß außer den beiden amerikanischen Schriftstellern James Baldwin und Carl Oglesby keine Amerikaner am Tribunal teilnahmen. Trotzdem das Tribunal in weiten Teilen der Massenmedien kaum rezipiert wurde, muß ihm ein hoher symbolischer Wert zuerkannt werden, wie dies Jaques Derrida 2004 formulierte: "First of all I wanted to salute your initiative in its principle: to resuscitate the tradition of a Russell Tribunal is symbolically an important and necessary thing to do today. I believe that, in its principle, it is a good thing for the world, even if only in that it feeds the geopolitical reflection of all citizens of the world.” (Derrida 2004:2)

Welche Rolle Günther Anders in diesem Tribunal einnahm, ist nicht gänzlich geklärt. Hauptakteure waren sicherlich Bertrand Russell und Jean Paul Sartre, die von ihrem Bekanntheitsgrad her auch das Tribunal trugen. Für Günther Anders war die Teilnahme an diesem Tribunal zweifellos der Höhepunkt seines politischen Lebens. Hier flossen drei seiner intellektuellen Lebensinhalte ineinander: Schreiben, Philosophieren und politisches Engagement. Erst in den achtziger Jahren, in der Debatte rund um die Wiederbewaffnung Deutschlands und die friedliche Nutzung der Atomkraft, sollte er eine ähnliche Chance erhalten.

Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang neben der Freundschaft, die sich zum Tribunalmitglied Vladimir Dedjer, einem jugoslawischen Historiker und Juristen, entwickelte, sein Buch über den Krieg in Vietnam mit dem bezeichnenden Titel Visit beautiful Vietnam – ABC der Aggressionen. Es zählt für mich zu den wichtigsten Büchern überhaupt, die Günther Anders publizierte. Leider ist es vergriffen und in der aktuellen Antikriegsdebatte um den Irakkrieg nicht präsent. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein Buch über den Vietnamkrieg, es ist ein Buch über den Krieg im Zeitalter der atomaren Vernichtungsmöglichkeit. Dies unterstreichen vier Thesen, die sich aus seinen Analysen der imperialistischen Kriegsführung in Vietnam ableiten, die sein Denken seit den sechziger Jahren beherrschten und schließlich auch zur Radikalisierung seines Schreibens in den achtziger Jahren beitrugen.
Erstens: Vietnam ist Auschwitz näher als Hiroshima.
Zweitens: Waffen sind ideale Produkte.
Drittens: Vietnam ist eine ‚Do it yourself Bewegung‘.
Viertens: Kriege stehen immer im Zeichen der Atombombe.

Vietnam war nicht irgendein Krieg. Vietnam war ein Krieg, in dem der Kalte Krieg auf heißem Boden ausgetragen wurde. Das dazu stattgefundene Tribunal stand nach Bertrand Russell in keiner klaren Traditionslinie, es gab kein eindeutiges Vorbild, denn "der Nürnberger Gerichtshof entstand, auch wenn er Kriegsverbrechen aufspüren sollte, nur aus der einzigen Tatsache heraus, daß die siegreichen Alliierten den besiegten die Pflicht auferlegten, ihre Führer der Justiz auszuliefern". (Russell/Sartre 1968:9)

Diese Aussage führt mich zur ersten These, die ich Günther Anders unterstellen möchte: Vietnam ist Auschwitz näher als Hiroshima. Grundlage für diese erste unterstellte These ist die Gleichzeitigkeit zweier biographischer Ereignisse in Günther Anders‘ Leben: seine Reise nach Auschwitz und Breslau, also sein Besuch im Hades (1966), und seine Teilnahme am Vietnamtribunal (1967) in Stockholm. Was er in Auschwitz reflektierte, griff er in seinen Auseinandersetzungen um den Vietnamkrieg neuerlich auf. In Vietnam wurde die Vernichtung von Hundertausenden eben nicht nur zum Zwecke einer Machtdemonstration herbeigeführt, um, wie die Amerikaner den Abwurf der Bombe legitimierten, Japan in die Knie zu zwingen, sondern ein systematischer Vernichtungsfeldzug in Gang gesetzt, der einen Genozid an den Vietnamesen verübte: "Auch wer Liquidierung ‚nur‘ als ein Mittel verwendet, wer sie nur deshalb durchführt oder nicht vermeidet oder auch nur in Kauf nimmt, weil sie das militärisch wirksamste oder wirtschaftlichste oder propagandistisch erfolgreichste Mittel zur Erreichung anderer Ziele darstellt, auch der begeht Genocid." (Anders 1968a:63)

Für Günther Anders war der Vietnamkrieg also ein Krieg, der durch die Anwendung von systematischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und die Behandlung der Menschen mit Napalm einem Genozid entsprach, der der Judenvernichtung im industriellen Verwertungssystem des Nationalsozialismus ähnelte, auch wenn die Menschen nicht in einem eng begrenzten Lager, auf heimischem Boden, sondern in Hütten im Urwald und in fremdem Territorium verbrannt wurden: "Vice versa entsprechen diese, also die heute napalmzerbombten und in ihren Dörfern verkohlten Vietnamesen, den in Auschwitz verbrannten Juden. Man sieht: die Verbrechen von heute und deren sozialpsychologische Funktionen ähneln den Verbrechen von damals und deren Funktionen viel mehr, als man gewöhnlich annimmt." (Anders 1968a:49)

Der Zweite Weltkrieg war aber eben nicht nur vom Genozid an den Juden, Zigeunern und der politischen Zerschlagung der Kommunisten geprägt, sondern vor allem ein imperialistischer Krieg mit hegemonialen Gebietsansprüchen. Insofern gilt für Vietnam und Stalingrad das gleiche: "Denn – machen wir uns keine Illusionen – die heutige Frontlinie verläuft nicht mehr zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse, sondern zwischen den herrschenden und beherrschten Völkern." (Anders 1968a:15)

Diese Erkenntnis führt mich zur zweiten Günther Anders unterstellten These: Waffen sind ideale Produkte. Für ihn gibt es kaum einen Unterschied zwischen der Waffenproduktion und der Produktion anderer Konsumgütern. Alle Produkte sind daraufhin ausgerichtet, konsumiert, also vernichtet zu werden. Und was kann es Besseres geben für die Waffenlobby, als daß eine Waffe bereits dafür produziert wird, um in einem stattfindenden Krieg sofort konsumiert zu werden. Dies hält den Produktions- und Wirtschaftskreislauf effizient in Gang. Und darin liegt auch Günther Anders‘ Begründung für seine These, daß Kriege keine Klassenkämpfe sind, sondern Kämpfe zwischen Völkern, weil durch den Krieg in Vietnam "die Konsumgüterindustrie mitangehoben und dadurch wiederum weiteren Arbeitern Arbeit verschafft wird", und daß als eine Art Nebeneffekt konkurrierende Arbeiter in anderen Ländern "in einem endgültigeren Sinne zum Verschwinden gebracht werden – nichts also ist den Arbeitern in Amerika willkommener als Johnsons imperialistischer Krieg, der auch sie zu Kriegsgewinnlern macht." (Anders 1968a:15)

Warum man nicht von Klassenkampf sprechen kann, wird durch ein weiteres Phänomen globaler Kriegsführung argumentiert, das in Vietnam erstmals zum Tragen kam und in vielen weiteren Kriegen seither gleichförmig ablief.

Auf Grund der Unterstützung unterschiedlicher Konfliktparteien in zahllosen kleinräumigen, nationalen Konflikten durch die global agierenden Waffenlobbys, gelangen in Amerika hergestellte Waffen natürlich auch in die Hände jener Soldaten, die auf einem Kriegsschauplatz gerade die Amerikaner bekämpfen. Der Sinn des Begriffes friendly fire, also Beschuß durch eigene Leute, muß erweitert werden durch Beschuß aus amerikanischen Waffen in der Hand von feindlichen Truppen: "Durch welche Manipulationen diese Produkte schließlich bei den Viet Congs landen, ist eine Frage für sich, auf jeden Fall ist dadurch, daß die amerikanischen Waffen in die Hände der Gegner fallen, dafür Sorge getragen, daß ‚alles schön in der Familie‘ bleibe, da nun ja außer den Produzenten und Spediteuren des Todes auch dessen Konsumenten Amerikaner sind. Trotz des Umwegs über Viet Congs, oder richtiger mit Hilfe der Viet Congs, bleibt das Monopol der Waffenherstellung und das Ideal des autarken Konsums aufrecht." (Anders 1968a:20)

Die Funktion und Aufgabe von Produkten, also Waffen und Maschinen, die ja zur zentralen Theorie in Günther Anders‘ Werk gehören, führt mich zur dritten ihm unterstellten These: Vietnam ist eine ‚Do it yourself Bewegung‘. Die Do-it-yourself- Methode kennen wir heute hauptsächlich aus der Möbelindustrie und der Bauwirtschaft. Dienstleistungen werden allerorts ausgelagert. Ikea hat dieses Phänomen zu weltweitem Erfolg geführt. Der Konzern liefert nur noch die von den Maschinen hergestellten Einzelteile, der Konsument muß sie am Ende zusammensetzen. Ähnliches, wenn auch in abgewandelter Form, ging in Vietnam und geht in Kriegen generell vor sich. Die Waffenindustrie liefert die Einzelteile, also die Vernichtungsgeräte, eingesetzt werden sie von den Konsumenten, den Soldaten vor Ort. Günther Anders gab der Do-it-yourself-Methode aber noch eine andere Bedeutung, die er aus dem Buch Die Antiquiertheit des Menschen ableitete: Der Mensch steht vor der enormen Gewalt seiner Maschinen, fühlt sich ihnen unterlegen, sieht aber gleichzeitig, was den von ihm produzierten Maschinen alles erlaubt ist. Die Auslöschung von hunderttausenden Menschen in Hiroshima. Die Bombardierung der Bevölkerung in Vietnam mit Napalm. Daraus entwickelte sich nach Günther Anders der Wunsch, es den Maschinen gleich zu tun, dieselben Grausamkeiten anwenden zu dürfen, die die Maschinen anwenden: "Da diese Soldaten täglich gesehen hatten, welche Massenschlächtereien ihre Maschinen, zumeist aus Helikoptern, begehen konnten und begehen durften, wünschten sie das, was jene durften, ebenfalls zu dürfen, also mit eigenen Händen zu massakrieren. ‚Menschlich‘ zu massakrieren, statt maschinell. […] Das entspricht genau der ‚do it yourself‘-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Was wir indirekt tun können und dürfen – tun wir es endlich auch einmal direkt." (Schubert 1987:44)

Diese menschliche Art des Tötens, die aus einem Unterlegenheitsgefühl entsteht, wird ja von uns nicht nur deshalb als legitime Kriegsführung akzeptiert, weil sie archaischen Kriegermustern folgt (im Film Apokalypse now wird dies hervorragend herausgearbeitet), sondern wir bezeichnen das Töten und das darauffolgende Sterben von Menschen deshalb als human, weil es unter der ständigen Drohung eines inhumanen Atomkrieges stattfindet. Die Trennung in eine humane und inhumane Kriegsführung, wie sie zum Beispiel auch im Irakkrieg nahegelgt wurde, indem die Einschläge der Präzisionswaffen im Fernsehen gezeigt wurden, lehnte Günther Anders strikt ab, was zur vierten ihm unterstellten These führt: Kriege heute sind immer unter dem Zeichen der Atombombe zu sehen: "Wenn wir uns – und die Gefahr existiert z.B. in der Antiatombewegung – auf die Bekämpfung der ‚Atomwaffen‘ beschränken, dann blamieren wir uns als ABC-Schüler unserer Epoche, als Schüler, die bei A steckengeblieben sind. Manche Leute glauben, daß die B- und C-Waffen, die bakteriologischen und die chemischen oder die neuen mechanischen Waffen wie der ‚lazy dog‘, deren Produktion heute blüht und deren Testlaboratorium Vietnam von Tag zu Tag größer wird – daß diese Waffen nicht so direkt den Untergang der Menschheit herbeiführen wie die atomaren Waffen und deshalb weniger gefährlich seien. Das ist eine furchtbare Selbsttäuschung. Entscheidend ist nämlich, daß diese neuen Waffen nur deshalb als ‚nur relativ gefährlich‘ und ‚konventionell‘ klassifiziert, wenn nicht sogar als ‚human‘ in Kauf genommen werden, weil es die Totaldrohung der Atomwaffen gibt; weil diese Drohung zum Maßstab geworden ist, weil, was heute als ‚human‘ gilt, von der Atombombe bestimmt wird. In anderen Worten: die Herstellung und die tägliche Erprobung und Verwendung der neuen Waffen in Vietnam finden unter dem Schutz der atomaren Drohung statt." (Anders 1968a:17)

Wie richtig Günther Anders‘ Thesen in diesem Zusammenhang sind, zeigt der Krieg im Irak, der ja gerade mit der Argumentation herbeigeführt wurde, daß der Irak in der Lage sei, Atombomben zu produzieren und ihm diese Möglichkeit genommen werden müsse. Derartige Argumentationen gab es immer wieder und gibt es auch im Zusammenhang mit Nordkorea und dem Iran. Das Buch Visit beautiful Vietnam ist aus den oben dargestellten Thesen neben der Antiquiertheit Günther Anders‘ wohl aktuellstes Buch. Es wäre eine Herausforderung für die Friedensbewegung, sich mit Anders‘ Produkttheorie zu beschäftigen, ebenso mit seinen Thesen zur technologischen Entwicklung, die er auch immer unter dem Aspekt einer kriegführenden Gesellschaft betrachtete.

Die Teilnahme am Russel-Tribunal und die Beschäftigung mit Vietnam brachten Günther Anders zwar nicht ins Zentrum der massenmedialen Debatten, aber es hatte ihn und sein Leben radikalisiert und mündete schließlich in seinen Text: Notwehr und Notstand in den achtziger Jahren.

Davor lag jedoch die bittere Erkenntnis, nämlich daß alles Philosophieren, alles Schreiben, jedes politische Engagement nicht verhindern konnte, daß Menschen, die ihm nahestanden, starben (Hannah Arendt 1975) oder ihn verließen (Charlotte Zelka 1975). Mit dem Ende des Russell-Tribunals, mit dem Erscheinen von Visit beautiful Vietnam 1968 endete auch der Maschinenraum. Günther Anders war zu diesem Zeitpunkt bereits siebenundsechzig Jahre. Er war gezeichnet von seiner Arthritis, von seinem Herzinfarkt hatte er sich nie wirklich erholt. 1967, mit dem Umzug in die Lackierergasse, begann für ihn sein letzter Lebensabschnitt, der immerhin noch fünfundzwanzig Jahre dauern sollte, ihn aber mit der auf persönlicher Ebene vielleicht größten Herausforderung konfrontierte: mit dem Tod seiner sozialen Umgebung und mit seiner eigenen Sterblichkeit.
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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