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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 25 | Tod eines Ketzers

Günther Anders hat lange gelebt und viele Menschen hinter sich gelassen. Das Sterben war ihm nicht nur gesellschaftlich ein Begleiter, sondern auch persönlich: "Im Jahre 36 habe ich gedichtet: ‚O Totenliste, die ihr Leben nennt.‘ Ja, die Liste ist nun nahezu komplett, und unter den Toten haben wir Bleibende ungleich mehr Freunde als unter den durch Versehen noch lebendig Gelassenen." (Anders an Budzislawski / 24.12.1958 / HU)

Als ihn Charlotte Zelka, die ihn noch 1966 durch den Hades begleitet hatte, im Sommer 1975 verließ, endete für Günther Anders auch der Zugang zum sozialen Feld, von dem er durch ihre Konzertreisen und vielfältigen Freundschaftsbeziehungen profitierte hatte wie schon zuvor in der Ehe mit Elisabeth Freundlich. Sie flog nach Amerika und teilte ihm fernschriftlich mit, daß Sie nicht wieder zurückkehren werde. Einerseits nahm er das Ende der Beziehung gelassen auf, andererseits dürfte es ihn in seiner beginnenden gesellschaftlichen und intellektuellen Isolation schwer getroffen haben. Elisabeth Freundlich schrieb dazu an Karola Bloch: "Hier ist ein Indian Summer wie in Amerika, über 30 Grad, ganz herrlich, aber auch ein bisschen ermüdend. Ausserdem ist zu melden, dass sich in meinem nächsten Umkreis einiges verändert hat, was auch auf mich seine Schatten wirft und Probleme mit sich bringt. Charlotte hat Günther verlassen und kommt aus Amerika nicht mehr zurück. Ein ziemlicher Schock für Günther nach immerhin 18 Jahren. Erstaunlicher Weise trägt er es relativ gelassen, vielleicht deshalb, weil sie sich in den letzten Jahren schon sehr auseiandergelebt hatten. Wenn er fähig wäre, zu arbeiten, würde er passabel darüber hinwegkommen." (Freundlich an Bloch / 18.9.1975 / DLA)

Für Charlotte Zelka dürfte die Beziehung am Ende nur noch aus Schrecknissen und Belastungen bestanden haben. Es gab häufig Streitereien, die beiden das Leben schwer machten: "Die Nachricht, dass Charlotte Günther verlassen hat, hat uns tief betroffen. Zwar wunderte ich mich immer wieder, wieso diese noch junge und begabte Frau so lange das Martyrium auf sich nimmt – denn ein Martyrium musste es gewesen sein – aber ich dachte, dass ihr Mitgefühl mit diesem unglücklichen Menschen stärker sein wird als der Wille zur Befreiung. Wenn G. diese Sache gelassener nimmt, als man erwarten könnte, so wohl deshalb, weil die Liebe nicht mehr da war. Und nur Liebe kann helfen, solche ungewöhnlichen Situationen zu überwinden." (Bloch an Freundlich / 22.9.1975 / DLA)

Wie prekär und brüchig jede Beziehung zu Günther Anders immer gewesen sein muß, kann aus einem Brief von Charlotte Zelka an Elisabeth Freundlich aus dem Krankenhaus in München 1965 abgelesen werden: "Irgendwann am frühen Nachmittag riefen Freis an bei Günther. Zuerst als es ihm gesagt wurde, dass ein Anruf aus Wien da sei, dachte er natürlich, dass er von Dir sein würde. Aber als er die Stimme von Freis hörte, geriet er in Panik, weil er überzeugt davon war, dass Dir etwas zugestossen sei. Dann, nachdem er sich halbwegs beruhigt hatte, stellte es sich heraus, dass Freis und Bob an ihn geschrieben hatten, aber dass die Briefe als unzustellbar zurückgekommen waren. […] (Er war nebbich davon überzeugt, dass irgendeine Konspiration gegen ihn da stattgefunden hat). Es stellte sich heraus, dass durch den Doppelnamen die Leute irgendwie verwirrt waren, heute z.B. (was ich ihm natürlich nicht gesagt habe) sind drei Briefe zurückgeschickt worden (wahrscheinlich auch darunter ein Brief von Dir). Ich habe alles natürlich in Ordnung gebracht, aber die Leute waren so aufgeregt, dass sie mich angeschrieen haben. […] Gottseidank habe ich inzwischen Günther ein bisschen beruhigen können, aber ich fühle mich halbverrückt." (Zelka an Freundlich / 13.5.1965 / DLA)

Günther Anders trieb mit seinem Wahn, daß er verfolgt würde, daß er nicht genug Beachtung bekäme, und damit, daß Kleinigkeiten ihn aus der Bahn werfen konnten, vor allem auch seine Frauen in den Wahnsinn. Charlotte Zelka hat all dies wahrscheinlich auch nur über sich ergehen lassen, weil sie auf Grund ihrer Jugend nicht genug Distanz zu ihm wahren konnte. Dennoch hielt sie die Beziehung noch zehn Jahre aufrecht. 1975, als sie ihn verließ, wurde Günther Anders wieder von Elisabeth Freundlich übernommen. Sie begleitete ihn bis zu seinem Tod. Ihre Bindung aneinander schien trotz Trennung ungebrochen zu sein und hielt über alle persönlichen Gegensätze hinweg. Wie sehr Elisabeth Freundlich immer darum gekämpft hat, an seinem Leben auch in der Zeit der Trennung teilzuhaben, zeigt sich auch daran, daß sie über all die Jahre Kontakt zu Eva Michaelis-Stern gehalten hat, die in späteren Jahren ein sehr brüchiges Verhältnis zu ihrem Bruder hatte: "Günther hat seine Angelegenheiten, das Zusammentreffen mit E.(atherly) in Mexico bestens erledigt. Und ist danach noch zur Erholung in einen mexicanischen Kurort gegangen. Er dürfte sich mit Ch. jetzt schon auf dem Rückweg befinden. Ich hoffe, er gönnt sich dann hier ein wenig Ruh. […] Bin neugierig, wie Dolfs Begegnung mit den Verwandten aus Schweden, die er 35 Jahre nicht gesehen hat, ausgegangen ist. Solche Begegnungen sind manchmal ziemlich riskant und eher enttäuschend. Habe nach nicht ganz so langer Zeit in diesem Sommer eine Jugendfreundin wieder getroffen, was eine komplette Niete war. Nur mit dir ging es beide Male, als ob wir Jahrzehnte eng befreundet gewesen wären, und niemals auseinanderkamen. Und mit Dolf hat es ganz den Anschein, als würde es ebenso gehen." (Freundlich an Michaelis-Stern / 7.4.1962 / DLA)

Mit Elisabeth Freundlich durchschritt er die letzten Jahre seines Lebens, Jahre, die trotz zunehmender sozialer Isolierung geprägt waren von einer neu gewonnenen Öffentlichkeit, einer hitzigen Debatte über Teile seines Werkes im Zuge der aufstrebenden neuen sozialen Bewegungen: Friedens-, Antiatom- und Ökologiebewegung. Alle drei wären prädestiniert dafür gewesen, inhaltliche Anknüpfungen an Günther Anders‘ Schriften und Theorien zu finden und ihm einen nachhaltigen medialen Erfolg zu verschaffen. Daß es nicht dazu kam, hatte einerseits mit Günther Anders‘ prekärem persönlichen Verhältnis zu Medien zu tun und andererseits mit seinen immer radikaler werdenden Thesen zum Atomstaat in den achtziger Jahren. Im Buch Gewalt – ja oder nein legitimierte er Gewalt als letztes Mittel gegen einen Staat, der seine Bürger in eine Notstandssituation bringt. In der staatlich gesteuerten Atomindustrie sah er diesen Tatbestand erfüllt und durch das Vorgehen eben dieses Staates gegen die Antiatomaktivisten sich in seiner Meinung bestätigt.

Das Buch Gewalt – ja oder nein und die darin enthaltenen Thesen sind nur zu verstehen, wenn Günther Anders nicht als Philosoph und politischer Aktivist der Nachkriegszeit gesehen, sondern auch als Intellektueller begriffen wird, der akademisch in den zwanziger und dreißiger Jahren in Deutschland sozialisiert wurde. Wie Manfred Bissinger in seinem Vorwort richtig schreibt: "Es geht ihm nicht um Sitzblockaden oder die Sprengung von Strommasten; er plädiert für Widerstand, so wie er gegen Hitler notwendig gewesen wäre, aber eben unterblieb, so wie ihn die französische Résistance gegen die deutschen Besatzer praktizierte. Anders bricht dabei das bei uns übliche Tabu; er bezieht die Menschen als Opfer und Täter ausdrücklich ein." (Bissinger 1987:8)

Für jemanden wie Günther Anders, der aus einer Zeit kam, als das Gewaltmonopol noch nicht beim Staat lag und Widerstandsaktionen (auch gewalttätige) gegen staatliche Autoritäten nicht ausschließlich unter kriminellen Aspekten gesehen wurden, war es ganz einfach, den deutschen Staat in der atomaren Frage in letzter Konsequenz mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen. Mit dieser Übertreibung in Richtung Wahrheit, wie er seine Thesen immer nannte, schaffte er es, eine der vitalsten Debatten im Nachkriegsdeutschland zwar nicht zu erfinden, aber intellektuell und schriftstellerisch zu begleiten. Nach dem Ende des Prozesses gegen die RAF, in dem die Angeklagten vor allem die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Gewalt als politische Aktion stellten, wurde durch die Urteile festgehalten, daß es im demokratischen Nationalstaat europäischer Prägung so etwas wie politischen Widerstand, der sich in Gewaltausübung äußert, nicht mehr geben kann und darf. Daher mußten Günther Anders‘ Thesen zu Notstand und Notwehr automatisch auf heftigsten Widerspruch stoßen, vor allem aus der Friedens- und Antiatombewegung, deren Gewaltverzicht rückwirkend vielleicht auch aus den Stammheimer Schauprozessen gegen die RAF erklärt werden kann. Der Staat hatte klargemacht, wer eine Waffe bedienen darf, und wer nicht, und zu welchem Zweck, in wessen Interesse.

Günther Anders tritt also Mitte der achtziger Jahre nochmals an, um die Frage der zivilen Gegengewalt zu reflektieren und die daraus folgenden gesellschaftlichen Konsequenzen auszuloten, die die Antworten Ja oder Nein hätten. Dabei steigerte er von Beginn der achtziger Jahre an seine Radikalität von Interview zu Interview, von Text zu Text, um unter dem Titel Notstand und Notwehr schließlich zu einer klaren Befürwortung der Gewalt gegen den Staat in Notstandssituationen zu gelangen. Notstand liege seiner Meinung nach dann vor, wenn der Staat (gemeint ist vor allem der Atomstaat) den einzelnen in seiner Existenz bedrohe. Er bediente sich auch in dieser Frage des Instrumentariums, das er als Philosoph und Schriftsteller wie selbstverständlich gewohnt war zu nutzen, um ein Problem zu bearbeiten: "Der Philosoph Günther Anders zwingt uns mit den in diesem Band veröffentlichten Thesen zu Hoffnung und Gewalt bis zur letzten gedanklichen Konsequenz. Er läßt uns nicht aus, selbst kleinste Schlupfwinkel werden mit immer neuen Hinweisen versperrt. Am Schluß haben wir für uns zu entscheiden, was wir selbst wollen, was für uns als Maßstab gelten soll. Jeder für sich. Individuell." (Bissinger 1987:7-8)

Als Individuum kam Günther Anders zu einem klaren Ja und eröffnete sozusagen nach Wackersdorf und Tschernobyl eine Debatte um das staatliche Gewaltmonopol. Heute wie damals ist die Debatte zu führen, gerade in der Terrorismusfrage, die Günther Anders ja ebenfalls eindeutig beantwortete und feststellte, wer die eigentlichen Terroristen seien, in dem er dem Staat und seinen Vertretern eindeutig die stärkeren Terrorismusabsichten unterstellte: "Terrorist, widersprach ich, wäre allein derjenige, der Millionen, wenn nicht gar die Menschheit als ganze, durch atomare Erpressung; also durch Drohung mit Ausrottung, terrorisierte und der eingestandenermaßen dazu bereit wäre, die ‚Atomwaffe‘ auch wirklich einzusetzen. Den zu töten, das bedeutet vielleicht, nein: wahrscheinlich Abermillionen retten. Und wer diese Möglichkeit der Rettung aus Prinzipienreiterei verneint, also verhindert, der steht auf der Seite dieses Verbrechens." (Anders 1992:337)

Damit ging er auf direkten Konfrontationskurs mit der Friedensbewegung. Daß die Debatte, die er damals der Antiatombewegung aufzwang, nach wie vor zu keinem Ende gekommen ist, zeigen die Vorgänge rund um die heutigen Atomstaaten. Wenn wir uns den neuen Hegemonialkolonialismus der USA und anderer Staaten gegenüber aufstrebenden Atommächten ansehen, dann zeigt sich einmal mehr, daß Günther Anders‘ Thesen nicht von der Hand zu weisen sind. Die Doppelbödigkeit der bestehenden Atommächte gegenüber jenen Staaten, die Atomwaffen als Drohpotential entwickeln wollen, entspricht der Debatte um das Gewaltmonopol. Der, der Waffen besitzt, kann Terror gegen die Bevölkerung ausüben. Der, der von der Waffengewalt des Stärkeren bedroht ist, darf dies im Umkehrschluß nicht, weil der Stärkere dem Schwächeren vorgibt, daß es nicht rechtens sei. Die Rechtshoheit über die Gewaltanwendung liegt nun beim Staat (insbesondere den guten Staaten) und nicht bei seinen Bürgern. Die Mehrheit muß sich per Gesetz von der gewählten Minderheit bedrohen lassen.

Günther Anders wollte seine Thesen jedoch nicht als bloße Worthülsen, sondern seine Schriften – vor allem jene zu Gott, zur Atompolitik, zum Krieg im allgemeinen und zur Verwüstung und Vernichtung des Menschen – als Kampfthesen verstanden wissen: "Mit dem Titel ‚Ketzereien‘ möchte ich doch anzeigen, daß ich nicht wünsche, als Verfasser von unverbindlichen, mehr oder minder unüblichen Beobachtungen oder von mehr oder minder genau geschliffenen Glossen klassifiziert zu werden […] vielmehr als Vertreter von Kampfthesen, der es mindestens verdienen würde, attackiert zu werden – eine Ehre, die man meinen früheren Schriften niemals zugebilligt hat, da man sie, statt sie zu verfolgen, preisgekrönt und dadurch entkräftet hat." (Anders 1992:5) Attackiert wurde Günther Anders ganz sicher wegen seiner Ansichten, denn sie waren gegen den Trend der Zeit gesetzt, und die Heftigkeit der Angriffe, auch aus befreundeten Kreisen, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß er sich mit seinem Buch Gewalt – ja oder nein ins Abseits gespielt hatte.

In seine Überlegungen zur Gewaltfrage mündete der Buchtitel Hiroshima ist Überall schließlich in den Slogan Tschernobyl ist Überall. Und gerade heute, da wieder darüber nachgedacht wird, neue Atomkraftwerke zur Krisenbewältigung zu bauen oder alte wieder in Betrieb zu nehmen, oder die USA als Atommacht dem Iran den Bau verbieten will und mit Vergeltung (für welchen Angriff eigentlich?) droht, zeigt sich, wie aktuell die Debatte rund um Günther Anders nach wie vor ist. Erstaunlich wenige Menschen greifen in diesem Zusammenhang auf Günther Anders‘ Thesen zurück. Vielleicht weil sie zu radikal, zu fordernd, zu konsequent sind. Sie anzunehmen würde bedeuten, in denselben Entscheidungsnotstand zu geraten, wie die Menschen in den Widerstandsbwegungen der achtziger Jahre.

Daran liegt es wahrscheinlich auch, daß in der Günther-Anders-Forschung so wenig über dieses Buch geschrieben und nachgedacht wird – abgesehen davon, und darin liegt wohl ein weiterer Grund, daß das Buch vergriffen ist. Darüber hinaus verknüpfte Günther Anders in den achtziger Jahren die Atomfrage und die Gewaltdebatte unmittelbar mit unserer Konsumgesellschaft, die er als das eigentliche Problem unserer heutigen Krisen identifizierte, und trat damit eine allgemeine Demokratiedebatte los, die aus heutiger Sicht seltsam aktuell anmutet. Bevor ich jedoch zu seinem Totalitarimusbegriff komme, noch einige Gedanken zu den Gegenpositionen zu Günther Anders‘ Thesen, die wie kaum andere zeigen, wie aktuell sein Denken nach wie vor ist.

Die meisten Kritker greifen Günther Anders‘ Aufruf zur Gewalt vor allem mit dem Vorwurf an, daß er ja selbst auch nicht bereit wäre, diesem Folge zu leisten und somit sein eigenes Denken in Frage stellen würde, wie Hans Christoph Buch feststellte: "Mit seinem Plädoyer für Gewalt fällt Günther Anders hinter alles zurück, was er selbst geschrieben und gesagt, und was die Friedens- und Ökologiebewegung mit ihren Aktionen in politische Praxis umgesetzt hat." (Anders 1987:42) Gemessen werden müssen die Aussagen Günther Anders‘ und seiner Kritiker an den historischen Entwicklungen: Ist die Welt friedlicher als 1987, ökologisch stabiler und ihre technologischen Errungenschaften unter Kontrolle? Ich denke, daß wir diese Fragen leicht beantworten können. Die Kritik an Günther Anders‘ Thesen ist ja gerade deswegen nicht gerechtfertigt, weil er eben nicht zur Gewalt aufgerufen hatte. Er hatte ja nicht gesagt, gehet hin und schießt auf alles, was sich bewegt, sondern er sagte lediglich, daß gewaltfreier Widerstand nicht zum Ziel, das heißt zur Beseitigung des Atomstaates, heute müßte man erweitert sagen, des technokratisch handelnden Staates, führen wird. Und er hat vorerst recht behalten. Der Atomstaat feiert fröhlich Urständ, allüberall! Was Günther Anders meinte, war, daß im Falle einer existentiellen Bedrohung, die vom Staat gegen seine Bewohner ausgeht, diejenigen Menschen, die sich zur Gewaltanwendung gegen den Staat durchringen, nicht als Kriminelle diffamiert werden dürfen, sondern daß deren Mut und Engagement durchaus legitim und zu würdigen sei. Die reaktionären Antworten, die Günther Anders nicht unvorbereitet trafen, griffen also zu kurz, wenn sie ihn persönlich attackierten, ihm selbst Handlungsunfähigkeit vorwarfen und Gewaltverherrlichung unterstellten. So hat die Kritik die Debatte beendet, noch bevor sie richtig in Schwung kommen konnte.

Heute wird Widerstand von Aktivisten gegen Kernkraftwerke, gegen Atomtransporte belächelt oder kriminalisiert. Andererseits wird dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama applaudiert und sogar der Friedensnobelpreis verliehen, wenn er sich gegen Rüstungspläne des Iran stellt. Dabei wird jedoch übersehen, daß Barack Obama als Oberbefehlshaber einer der potentesten und gewaltbereitesten Armeen weltweit agiert. Auch in dieser Frage hat Günther Anders recht behalten, wenn er schrieb: "Das ist die Gretchenfrage: Gewalt wird so lange nicht nur erlaubt, sondern gilt als moralisch legitimiert, als sie von der anerkannten Macht gebraucht wird. Macht selbst beruht ja stets auf der Möglichkeit der Gewaltausübung. Für jedermann war es ja 1939 selbstverständlich gewesen, mit in den Krieg zu ziehen und ‚mitgewalttätig‘ zu werden; wenn man da ‚mit war‘, hat man ja sogar, wie ein gewisser Präsident gerne betont, ‚nur seine Pflicht getan‘. Auf Befehl der Macht darf man nicht nur gewalttätig sein, man soll und muß das sogar." (Anders 1987:25) Auch heute noch müssen wir in vielfältigen Konflikten, Kriegen und staatlichen Polizeiaktionen mitgewalttätig sein. Selbst und individuell zu entscheiden, wann es gerecht sei, Gewalt anzuwenden, ist nicht mehr legitim, also kriminell. Das bedeutete für Günther Anders aber, daß der totalitäre Staat bereits verwirklicht sei: "Was wir ‚erreicht‘ haben, ist bereits der totalitäre Staat. Der wiederum gibt vor – denn Selbstableugnung des eigenen Charakters ist ja sein Charakteristikum –, seine Maßnahmen seien unentbehrliche Mittel zur Rettung der ‚Freiheit‘ – was immer dieses vielgeplagte Wort bedeuten mag. Umgekehrt sind diese Maßnahmen natürlich die der totalen Freiheitsberaubung. Jungks Terminus ‚Atomstaat‘ ist rechtmäßig. Die Frage: ‚Was wird aus unserem Staat?‘ ist in der Tat bereits verspätet, weil er ‚totalitär‘ bereits geworden ist." (Anders 1987:28)

Insofern ist auch hier ein früher Grundgedanke von Günther Anders aus den vierziger Jahren wieder aufgegriffen: die Freiheit des einzelnen ist nicht nur im Atomstaat eine Fiktion, sondern vor allem auch, weil der Atomstaat sich in eine Mediengesellschaft mit atomarem Bedrohungspotential verwandelt hat: "Der Mensch ist kein ‚mündiges‘ Wesen mehr, keines mehr, das mit seinem Munde eine eigene Meinung äußern könnte. Vielmehr ist er ein ‚höriges‘ Wesen, das nämlich immer nur hört; und zwar das hört, was ihm von Rundfunk und Fernsehen eingeflößt wird, aber worauf er […] nicht antworten kann. Diese Hörigkeit ist charakteristisch für die Unfreiheit, die er durch seine eigene Technik hergestellt hat und der er dann anheimfällt." (Anders 1987:31) Meinungmachen können in den Medien nur die Lobbyisten, nicht die Bürger. Diese Situation hat sich mit dem Web 2.0 massiv verändert. Doch ob das Web 2.0 die Bürger wieder in die Lage versetzen kann, staatliche Entscheidungen zu beeinflussen, wird sich erst zeigen. Die Frage wird sein, ob das Web 2.0. tatsächlich emanzipatorischen Charakter entwickelt oder die realen Machtverhältnisse zementiert? Kriege, Terroraktionen und Atomkraftwerke existieren in der realen Welt. Widerstand muß also auch real stattfinden, nicht nur virtuell. Die Materialität der Vernichtung kann nicht allein mit virtuellem Widerstand bekämpft werden. Günther Anders kann uns dabei helfen, unsere Entscheidungen fundierter zu treffen und konsequenter durchzuhalten. Er gab uns keine Handlungsanleitungen zum Widerstand, sondern ein Verständnis dafür, wie die Gesellschaft derzeit auf unterschiedliche Formen des Widerstandes reagiert. Günther Anders rief nie zur Gewalt auf, sondern wollte vor allem die gesellschaftlichen Konsequenzen aufzeigen, die eintreten würden, wenn wir auf Gewaltaktionen gegen eine staatliche Bedrohung grundsätzlich verzichten.

Die Gewaltdebatte rund um Günther Anders' Buch Gewalt – ja oder nein hat eines bewiesen: das intellektuelle Deutschland war sich nicht einig. Niemand würde ja rückwirkend den Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg ihre legitimen Ansprüche abstreiten. Für sie war der Tatbestand des Notstandes erfüllt. Die Kritiker von Günther Anders waren der Meinung, daß in einem demokratischen Staat per se kein Notstand vorliegen könne, der Gewalt legitimieren würde. Letztlich ging es in der Gewaltfrage tatsächlich um die Grundlage des Widerstandes an sich: Kann mit Gewalt ein Gewaltregime beseitigt werden? Und da mußte Günther Anders nach seinen Erfahrungen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg mit einem klaren Ja antworten, denn auch der Nationalsozialismus und sein Vernichtungssystem wurde ja nicht mit gewaltfreiem Widerstand beseitigt. Die heutige EU ist Folge dieses Gegenschlages.

Zu diskutieren wäre vielmehr das, was Günther Anders forderte: Wann liegt ein Notstand vor? 1987 zum Erscheinungszeitpunkt des Buches lag rückblickend gesehen durchaus ein Notstand vor, denn der Atomstaat war damals wie heute bereit, Atombomben in kriegerischen Auseinandersetzungen einzusetzen und damit eine große Zahl von Menschen auszulöschen. Ob Gegengewalt in einem derart vernetzt handelnden System, wie wir es heute vorfinden, überhaupt noch Erfolg hätte, sei dahingestellt. Was wir aber von Günther Anders in diesem Zusammenhang (und auch in anderen) lernen können, ist, einem Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz nachzugehen, ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Reaktionen. Hier kam seine Wahrheitssuche in ihrer Radikalität noch einmal zum Ausdruck: Die Richtigkeit einer Annahme mißt sich nicht an der Heftigkeit der Gegenreaktion, sondern an der Plausibilität der ausgetauschten Argumente.

Die gegen Günther Anders' Notstandsthese gerichteten Argumente griffen deswegen zu kurz, weil sie sich immer nur an einer einzelnen Aussage in einem einzigen historischen Moment entzündeten. Erst wenn wir Günther Anders‘ Ansichten zur Legitimität von Gewalt in Zusammenhang mit seiner Demokratiekritik bringen, ergibt seine politische Einsicht Sinn. Für ihn war der Totalitarismus des deutschen Nachkriegsstaates ja nicht nur in der atomaren oder medialen Ausformung verwirklicht, sondern in dem grundsätzlichen Postulat, daß der demokratische Nationalstaat gegen gewalttätigen politischen Widerstand immunisiert wurde, indem man jede Handlung, die gegen den Staat gerichtet war, kriminalisierte, weil sich in dieser Form des Staates die Freiheits- und Grundrechte des Menschen bereits verwirklich hätten.

Darüber hinaus betrachtete Günther Anders unsere Gesellschaft auch unter dem Aspekt der Herstellung von Produkten und ihren Absatzkreisläufen. Womit ich bei dem wohl radikalsten Text von Günther Anders seit der Weltfremdheit des Menschen angelangt bin.

In der Einführung zum Buch Mensch ohne Welt, in der seine kunsttheoretischen Schriften zusammengefaßt sind, beschäftigte er sich vor allem mit der Frage des Totalitarismus der Demokratie und der in ihr scheinbar verwirklichten bürgerlichen Freiheit. Er kam in seiner Analyse zu keinem schmeichelhaften Urteil über unsere demokratisch organisierte Produkte- und Konsumgesellschaft. Er nahm noch einmal den Begriff der Weltfremdheit aus den späten zwanziger Jahren auf und versuchte begreiflich zu machen, wie das Verhältnis von Mensch und Welt tatsächlich gestaltet ist: Für ihn ist das Entscheidende "[…], und darin besteht das ‚negativ Ontologische‘, daß die Welt, die er selbst herstellt, mindestens mit-herstellt, nicht seine Welt ist, daß er in dieser nicht zuhause ist, so wenig zuhause ist, wie der Bauarbeiter in dem von ihm mit-errichteten Gebäude zuhause ist." In diesem Zusammenhang räumt Günther Anders den Waren/Produkten und der Arbeit, durch die diese entstehen, eine wichtige Bedeutung ein und beweist einmal mehr seine Affinität zum Marxismus: "In anderen Worten: da er nur für die Welt Anderer lebt, für eine Welt, in der andere sich zuhause fühlen sollen, trifft auf ihn Heideggers Grundcharakterisierung menschlichen Seins: daß dieses eo ipso ‚In-der-Welt-Sein‘, nicht eigentlich zu; lebt er nicht eigentlich ‚in‘, sondern nur ‚innerhalb‘ der Welt – innerhalb der Welt anderer, eben der ‚herrschenden Klasse‘, auch wenn die ‚Ketten‘, die ihn an diese Welt der anderen ketten, so weich und geschmeidig gemacht worden sind, daß er sie für die ‚Welt‘ hält, sogar für seine Welt, und er sich eine andere Welt schon gar nicht mehr vorstellen kann, und er diese auch unter keinen Umständen ‚verlieren‘ will, sie als die seine sogar mit Zähnen und Klauen verteidigt. Durch seinen Kampf um den Arbeitsplatz, an dem der Arbeitende oft Sinnloses und Katastrophales herstellt, und auf den er ein Recht, gar ein heiliges, zu haben beteuert, beweist er, wie wenig er in seiner Welt lebt; daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein, ‚weltlos ‘ ist." (Anders 1984b:XII)

Diese nach Günther Anders weltlos gewordenen Menschen sind jetzt aber nicht mehr bloß Arbeiter, sondern eben auch Konsumenten und so Teilhabende an der Warengesellschaft. Und diese Warengesellschaft erhebt den Anspruch der Gleichheit im Konsumprozeß. In der Unterhaltungsgesellschaft pervertiert die Gleichheit der Konsumenten schließlich zu einer Gleichheit aller Angebote, letztlich auch der Weltanschauungen. Was durch die Medien- und Konsumgesellschaft hervorgerufen wird, ist nach Günther Anders nicht die Gleichheit aller Bürger, sondern vielmehr die Gleichberechtigung aller Weltanschauungen. Die demokratische Toleranz zwingt uns beinahe dazu, "alle konkurrierenden Götterwaren und Warengötter gleichberechtigt" nebeneinander stehenzulassen und zu konsumieren. (Anders 1984b:XVIII)

Günther Anders führte diesen Gedanken weiter und meinte, daß wir als Bürger gar nicht mehr auf die Idee kämen, Pluralismus als ein Problem unserer Gesellschaft zu sehen. Nicht-Pluralismus sei für uns von vornherein Totalitarismus. Durch den Ausschluß einer Wahlmöglichkeit in den freien, westlichen Demokratien, nämlich sich für autoritäre Strukturen zu entscheiden, werde gleichzeitig der Freiheitsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft relativiert: "Nun werden vermutlich viele meiner Kollegen befremdet oder gar empört auffahren und mich als Fürsprecher des Totalitarismus verdächtigen. [...] Sollen sie mich verdächtigen! Was ich meine, ist allein, daß wir, durch den heimlichen Totalitarismus der Medien in der sog. ‚freien Welt‘ dazu gezwungen sind, uns für ‚frei‘ und für ‚Gegner des Totalitarimus‘ zu halten." (Anders 1984b:XIX)

Gerade diese Freiheit, dieser Glaube an den unabdingbaren Pluralismus in einer Gesellschaft, die mit dem Slogan arbeitet: alles, was machbar ist, soll auch gemacht werden, ermöglicht überhaupt erst den Konsumkapitalismus, begründet seinen Erfolg. Ohne die totalitäre und alle gesellschaftlichen Bereiche erfassende Medienkultur wäre ein Konsumkapitalismus westlicher Prägung gar nicht möglich. Denn nur freie Konsumenten, die akzeptieren, daß ihre Freiheit die Freiheit des Konsums ist, können einen globalen, multimedialen Warenstrom überhaupt in Gang halten. Dazu war es notwendig, den Arbeiter, der in den Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts ja zumeist unter dem Blickwinkel des Ausgebeuteten gesehen wurde, in einen Konsumenten und damit Profiteur der Konsumgesellschaft, die er mit allen Produkten, die dazugehören (Waffen, Nahrungsmittel, Umweltgifte usw.), mit hervorbringt, zu verwandeln. Nur Arbeiter, die akzeptierten, daß alle Produkte, aber nicht alle Menschen gleich zu sein haben, waren tauglich, in diesem Prozeß eine treibende Kraft und Rolle zu spielen. Nur so ist zu erklären, warum die Sozialdemokratie systemstabilisiernd wirkte: "Da eben alle Waren als Waren der einen Welt des Kommerzes gleichberechtigt zugehören, wobei "gleichberechtigt" bedeutet, daß alle das gleiche Recht auf Gekauftwerden haben; sogar das gleiche Recht, an die Kaufpflicht zu appellieren, da ja Ermäßigtes nicht zu kaufen Vergeudung und damit unmoralisch wäre. Die Grundlage der Demokratie im Kapitalismus ist nicht die Gleichberechtigung aller Bürger, sondern die aller Produkte." (Anders 1984b:XXIV)

Dieses Zitat von Günther Anders erhält vor allem im Zusammenhang mit der Krise des Konsumkapitalismus in den Jahren seit 2008 eine besondere Bedeutung. In der Wirtschaftskrise werden ja die Firmen, Banken und die von ihnen hergestellten und zum Kauf angebotenen Produkte nicht gerettet, um Menschen zu ernähren, zu behausen oder zu kleiden, sondern um den Kreislauf des kapitalistischen Geldsystems nicht kollabieren zu lassen. Der Arbeiter spielt auf Grund der Technisierung der Warenproduktion kaum noch eine Rolle in diesem System, als Konsument ist er jedoch unerläßlich. Nur der unabdingbare Konsumwille des Menschen hält in der Krise das System davon ab, zu kollabieren. Die theoretische Konzeption zu den Themenbereichen Arbeit – Produktion – Technisierung von Günther Anders gehört zu den aktuellsten und radikalsten Überlegungen über unsere heutige Konsumgesellschaft. Leider diese auf zahlreiche verschiedene Texte verstreut und nur durch konsequentes Lesen seiner Bücher in Zusammenhang und daher Wirksamkeit zu bringen.

Die Rezeption von Günther Anders in der heutigen Zeit hat vor allem mit dieser Segmentierung seines Werkes zu tun. Jeder Leser rezipiert immer nur den Teil seines Werkes, der zu seinem Themengebiet paßt. Erst in den letzten Jahren scheint mir ein Diskurs in Gang gekommen zu sein, der Günther Anders mit all seinen Thesen seit den zwanziger Jahren in den Blick nimmt und so jene Kulturtheorie sichtbar macht, die nicht nur apokalyptisch gemeint, sondern kritisch gegen jede Form des Totalitarismus gesetzt war, ob dieser sich nun als demokratisch, sozialistisch, technokratisch oder kapitalistisch tarnte. Für Günther Anders war immer klar, daß wir nur, wenn wir die Welt immer wieder neu analysieren, sie neu bewerten mit ihren Erscheinungen, verhindern können, daß sie sich in eine totalitäre, von Medien-, Waren- und Waffenlobbys beherrschte Diktatur, also in eine Welt ohne Menschen verwandelt.

So sehr Günther Anders auf der einen Seite in seiner schriftstellerischen Arbeit und in der Präzisierung seines Denkens in den frühen achtziger Jahren einem letzten geistigen Höhepunkt zustrebte, noch einmal einen Entwurf der Gesellschaft wagte, so rapide traf ihn sein körperlicher Verfall. 1991 folgte er seiner ehemaligen Frau Elisabeth Freundlich in die Confraternität, ein Pflegeheim im siebzehnten Wiener Gemeindebezirk. Seine Bewegungsunfähigkeit nahm zu, und er litt unter starken Schmerzen. Lange davor war er bereits auf fremde Hilfe angewiesen: Essen auf Rädern; Nachbarn, die ihn versorgten; Freunde, die ihm die schwersten Arbeiten des Alltags abnahmen.

Am Ende seines Lebens kehrte er in ein Frauenhaus, denn die Confraternität bestand hauptsächlich aus Pflegerinnen, zurück. Er war nicht glücklich, in ein katholisches Pflegeheim geraten zu sein. Doch er arrangierte sich damit. Schließlich hatten Frauen ihn durch gute und schlechte Jahre begleitet. Bis zum Schluß behielt er aber seinen Willen bei, die Verrichtungen seines Alltags selbst zu erledigen, keine fremde Hilfe zuzulassen. In Betreuung zu sein war ihm ein Greuel. Die Verfügungsgewalt über seinen Körper zu verlieren konnte er sich nicht zugestehen. Die Pflegerinnen in der Confraternität unterstützten ihn dabei und respektierten seinen Wunsch. Morgens wurde er an den Waschtisch gesetzt und erledigte mühselig, trotz verkrüppelter Hände und Finger, seine Morgentoilette. Damit verbrachte er einen großen Teil des Vormittags. Auch hier galt seine Losung aus der Kindheit: Nur was selbst gemacht ist, ist getan.

Interessant war die Anordnung der Räume, in denen Elisabeth Freundlich und Günther Anders untergebracht waren. Sie wohnte am Beginn des Flurs, hin zu den Gemeinschaftsräumen. Am Ende der Ganges, sozusagen im toten Trakt, lag sein Zimmer. Die Türen standen zumeist offen, und die beiden unterhielten sich über die Entfernung hinweg. Besucht haben sie sich kaum gegenseitig. Gerhild Traxel-Urtel, die Leiterin des Heimes, berichtete in einem Interview über eine morgendliche Szene: Günther Anders rief wie gewohnt: "Liesl, bist du wach?" Und Elisabeth Freundlich rief zurück: "Jetzt schon." (Interview / Gerhild Traxler-Urtel / 2006) Das Leben in der Confraternität, in einer gewissen Vergessenheit durch die Öffentlichkeit, in seiner nihilistischen Form, in diesem Urlaub vom Nichts, schien nichts an Komik eingebüßt zu haben.

Bis auf wenige Besuche führten Elisabeth Freundlich und Günther Anders ein Leben in Isolation. Nach seinem Tod verschärfte sich die Situation für Elisabeth Freundlich noch. Bis auf wenige Ausnahmen gab es, laut Leiterin des Heimes, kaum noch Besuche. Dies führte, aus der Sicht von Gerhild Traxler-Urtel, auch zu ihrer Demenzerkrankung. Demenz sei eine Erkrankung, die durch das Vergessenwerden durch die Gesellschaft zustande käme. Wenn die Gesellschaft, das eigene soziale Umfeld einen vergißt, bleibt dem Menschen gar nichts anderes übrig, als sich selbst zu vergessen. Günther Anders ist das Vergessenwerden erspart geblieben. Dazu beigetragen hat sicherlich, daß er seinen neunzigsten Geburtstag im Juli 1992 noch erleben konnte.

Anläßlich dieser runden Geburtstagsfeier wurde in Wien ein großes international besetztes Symposium zu Leben und Werk von Günther Anders abgehalten. Der Jubilar konnte selbst nicht mehr daran teilnehmen. Konrad Paul Liessmann berichtete mir, daß er Günther Anders zu seinem Geburtstag in der Confraternität besucht und ihn im Bett angetroffen habe. Neben ihm ein Glas Rotwein und ausgebreitet über das ganze Bett die internationalen Tageszeitungen aus dem deutschsprachigen Raum. In diesen wurde eingehend über ihn und seinen Geburtstag berichtet. Es war ihm sicherlich eine Genugtuung, endlich jene Aufmerksamkeit zu erhalten, die ihm aus seiner Sicht längst zugestanden hätte.

Im Jahr 1992 erschienen darüber hinaus noch zwei Bücher seiner Bücher. Viel zu spät sein einziger Roman Die molussische Katakombe und eine Zusammenstellung aus vielen unterschiedlichen Kurztexten aus drei Jahrzehnten, das Buch Ketzereien. Mit diesem Buch kehrte er nochmals zum Ausgangspunkt seines Denkens zurück. Er setzte noch einmal Wegweiser in sein Denken, das ihm seit seiner Kindheit das wichtigste Instrumentarium zur Welterkennung und -aneignung gewesen war. Die Philosophie war die Grundlage all seiner Betrachtungen. Seine gesamte literarische Textproduktion entsprang einem philosophischen Erkenntnisinteresse an den verschiedenen Zustandsformen der Welt und Seinsformen des Menschen. Nachdem ihn nun sein Körper in den siebziger Jahren auf Grund zahlreicher Krankheitssymptome in den Seinszustand der Bewegungslosigkeit gezwungen hatte, ihm nur noch eingeschränkte Bewegungsfreiheit zugestand, gelang ihm endlich das, was er schon in den späten sechziger Jahren gerne getan hätte und gegenüber Paul Weber wie folgt formulierte: "Sie glauben gar nicht, wie gerne ich einmal den ganzen Misthaufen der Politik hinter mich würfe, um Bilder, und in diesem Falle Ihre Bilder, in Sprache zu übersetzen. Ich glaube sogar, dass in dieser Übersetzung von Bild in Wort meine eigentliche Begabung liegt. Aber moralisch erforderlich ist leider das andere, denn damit kann ich u.U. Menschen von Gemeinheiten abhalten." (Anders an Weber / 5.1.1969 / LIT)

Die Gemeinheiten gingen weiter, doch er ließ sich nun nicht mehr beirren, sondern setzte noch einmal dort an, wo er durch den Krieg, Auschwitz, Hiroshima und Vietnam unterbrochen worden war, in den dreißger Jahren, bei der Weltfremdheit des Menschen, und versuchte die Welt noch einmal an der Wurzel zu packen und ihre Seinszustände in eine alltagstaugliche Sprache zu übersetzen. In den Ketzereien gelang ihm das in herausragender Weise. Noch immer stand er wie Noah in der Endzeit unserer Gesellschaft und wartete auf die Sintflut, den Untergang, gegen den er sein Leben lang angeschrieben hatte, bis zu seinem Tod am 17. Dezember 1992.

Der Tod des Ketzers kam nicht überraschend und ist nicht ohne mediales Echo geblieben. Von offizieller Seite wurden sein Werk und sein politisches Engagement gewürdigt. Davon zeugen zahlreiche Beileidsschreiben im Nachlaß von Günther Anders, die an Elisabeth Freundlich gerichtet waren. Sie sind der beredte Beweis dafür, welche Bedeutung dem Autoren der Antiquiertheit des Menschen und Hiroshima ist Überall beigemessen wurde und wie sehr er mit seinen Schriften eine ganze Generation geprägt und polarisiert hatte. Das offizielle Österreich reagierte durch die Kulturstadträtin Ursula Pasterk, die in wenigen Worten versuchte, den Umfang und die Weitläufigkeit seines Werkes zu fassen: "Die Nachricht vom Tod Ihres Mannes hat uns mit tiefer Trauer erfüllt. Die Welt des Geistes verliert mit Günther Anders einen herausragenden Denker und Schriftsteller unseres Jahrhunderts. Viele Probleme, die uns heute bedrängen, hat er schon früh erkannt und auf ihre soziale, politische und philosophische Bedeutung hin untersucht. Seine negative Anthropologie, seine Medien- und Techniktheorie, seine Analyse und Bekämpfung der Bedrohungen der Welt, seine Zivilisations- und Kulturkritik haben in vielen Menschen nachhaltige Spuren hinterlassen. Die Tiefe seiner Gedanken und seines Schreibens werden weiterwirken." (Pasterk / 1992 / LIT)

Klarer und detailierter brachte Richard von Weizsäcker, damaliger Bundespräsident von Deutschland, seine Ansichten auf den Punkt und appelierte an die Hinterbliebenen, sein Denken und seine Kritikfähigkeit wachzuhalten: "Sehr verehrte Frau Freundlich, die Nachricht vom Tod von Günther Anders erfüllt mich mit Trauer und dem Empfinden, daß mit ihm einer der Großen der Philosophie und eine ursprüngliche Stimme des Gewissens der Menschheit von uns gegangen ist. Günther Anders verdanken wir die Einsicht, daß der Mensch ‚zur Freiheit verurteilt’ ist und daß die Freiheit uns zu verantwortlichem Handeln zwingt. Er hat es verstanden, ganze Generationen über die Gefahr der Selbstzerstörung aufzuklären, die sich aus der Verwechslung des technisch Gekonnten mit dem Gewollten ergibt. Seine Warnungen vor dem Atomkrieg haben zu seiner Vermeidung bis heute beigetragen. Das Bewußtsein, das er geweckt hat, bleibt uns. An uns ist es, es wachzuhalten und zu schärfen." (Weizsäcker / 1992 / LIT)

Auch die offizielle Germanistik hatte sich zu seinem Tod mit einem Beileidsschreiben eingestellt. Eine Germanistik, die oft ratlos vor Günther Anders‘ Werk stand, da er kein typischer Schriftsteller war, obwohl seine Fabeln wohl zum Besten gehören, was auf literarischer Ebene zum Nationalsozialismus geschrieben wurde, und auch Teile seiner Lyrik durchaus lesenswert sind. Dennoch war er mehr im literarischen Essay zu Hause, und mit diesem fällt es noch heute schwer umzugehen: "Sehr verehrte Gnädige Frau, mit großer Trauer haben wir die Nachricht erhalten, daß Günther Anders gestorben ist. Ich möchte Sie im Namen aller meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Deutschen Literaturarchiv unserer Anteilnahme versichern. Es ist mit ihm einer der großen Denker unserer Zeit – und sie ist nicht reich daran – dahingegangen. Wir schätzen sein Werk hoch und sehen darin unserer Zeit einen klaren Spiegel vorgehalten." (Ott / 1992 / LIT)

Hildegard Unseld gab etwas zu bedenken, das für die Forschung zu Günther Anders charakteristisch war, nämlich das weitgehende Fehlen jeder biographischen Auseinandersetzung, das Ausblenden seiner Frauenbeziehungen, die neben seinen Versuchen, die Welt zu erklären, der Angelpunkt seiner Existenz waren: "Liebe Elisabeth Freundlich! Eben finde ich in der FAZ den Nachruf auf Günther Anders mit einem sehr beeindruckenden Bild. Ihren Namen vermisste ich. Mein Mitgefühl ist bei Ihnen. Die letzten Jahre waren sicher nicht einfach für Sie und Ihre eigene Kraft ist unerschöpflich. Bei allen Widerwärtigkeiten des Alterns weiß ich, daß Ihnen immer Ihre große Herzenswärme mit Klugheit gepaart geholfen hat – und auch jetzt helfen wird." (Unseld / 1992 / LIT)

Günther Anders‘ Familie sprach etwas an, das auch für ihn selbst von großer Bedeutung war und wofür er vielleicht mehr gekämpft hatte als für die Rettung der Welt vor dem Atomtod – den Erhalt seiner Arbeitsfähigkeit. Seit dem Tod seiner ersten Frau Hannah Arendt und nach der Trennung von seiner dritten Frau Charlotte Zelka focht er einen verbissenen Kampf gegen den körperlichen Verfall, der ihm durch seine schwere Arthrose zugefügt wurde. Er kämpfte bis zuletzt gegen den Verlust der Selbstbestimmtheit. Er versuchte produktiv zu bleiben bis zum Tod: "Liebe Elisabeth Freundlich, zum Ableben von Günther Anders möchten wir Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen. Wir werden sein Andenken in Ehren halten. Durch Rudolf Schottlaender haben wir immer so viel gehört und seine Bücher bekommen, die wir nun schon der jüngsten Generation ans Herz legen. Es ist schön, daß Günther – wie auch Rudi – bis ans Lebensende produktiv blieben." (Selle, Schottländer / 1992 / LIT)

Robert Jungk, einer der wohl wichtigsten Weggefährten nach Hans Jonas, ein Bruder im Geiste, trauerte nicht nur um den Freund, sondern auch darum, nicht am Begräbnis teilnehmen zu können. Diese persönliche Betroffenheit teilte er mit vielen anderen, da Günther Anders ein Begräbnis ohne Trauergäste wünschte. Seine Verbitterung über die Welt schien bis über den Tod hinaus zu wirken: "Liebe Liesl, G. O. [Gerhard Oberschlick] sagte mir am Telefon, dass heute am 30.12. das Begräbnis in aller Stille und nur im allerengsten Kreis stattfinden soll. Da ich dazu nicht mehr gezählt werde, bleibe ich zuhause, möchte aber auf diese Weise schreibend Dir und Günther doch nahe sein. Du weißt ja, wie sehr ich an ihm hing und immer noch hänge. Ich setze mich dauernd mit ihm auseinander und wieder zueinander. Bitte rechne auf uns, wenn Du uns brauchen solltest. Wir fühlen mit Dir und wollen Dir nahe bleiben. Nicht nur heute. Sei umarmt von Bob+Ruth." (Jungk / 1992 / LIT)

Und zum Schluß der letzte Zeuge aus einer Zeit, als Günther Anders tatsächlich noch mitten in der Welt lebte, in der Mitte einer möglichen Existenz, vor der Vertreibung durch den Nationalsozialismus, vor der drohenden Auslöschung durch die Atombombe, ein selbstbestimmtes Individuum auf dem Weg in eine philosophische Karriere, wie alle um ihn herum sie geschafft hatten; zum Schluß der letzte aus dem Marburger Kreis, aus dem inneren, heiligen Kreis um Heidegger, aus dem so viele berühmte, heute hoch im Kurs stehende Philosophen kamen; zum Schluß der letzte, der wie Günther Anders ein wenig in Vergessenheit geraten ist – Hans Jonas: "Liebe Lisl! Gestern gab mir David Michaelis aus Jerusalem Nachricht von Günthers Tod. So ist mein ältester Freund dahingegangen. Wir waren uns einst sehr nahe, haben uns als Freunde geliebt, sind dann räumlich und geistig verschiedene Lebenswege gegangen, aber noch seine späten Briefe an mich schloß er mit: ‚Sei umarmt’. Wir dienten auf unsere verschiedene Weise derselben moralischen und bedrängenden Sache, als ihre Sprecher wurden wir nebeneinander berühmt und von ferne vereinte sie uns immer wieder. Ich bewunderte, was er durch viele Jahre seinem leidenden Körper abzwang, ein wahrhaft Unbesiegbarer. Nun ist auch er aus der für mich immer leerer werdenden Welt alter Freundschaften verschwunden – der erste und der letzte von allen." (Jonas / 1992 / LIT)
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eingestellt: 12.4.2020 | zuletzt aktualisiert: 12.4.2020
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