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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 6 | Das Haus der Tagebücher

Das Wort drang sehr früh in das Leben der Sternkinder ein. Nicht nur weil der Vater ein Intellektueller und eifriger Schriftsteller war, sondern vor allem auch der Mutter wegen, die sich das Leben der Kinder nicht nur emotional aneignete, sondern immer auch über das Wort, durch die Schrift in den von ihr geführten Tagebüchern. Das Schreiben von Tagebüchern spielte in der Familie von jeher eine große Rolle. Leben und Denken waren in der Familie Stern immer eins, nicht durch Barrieren des Alltages getrennt. Am besten läßt sich dieses Verhältnis zum Leben, zum Wort, zum Denken an Hand der Tagebücher nachweisen. Wir Nachgeborenen, für die diese Bücher geführt wurden, erfahren unterschiedlichste Dinge aus ihnen. Insbesondere für Entwicklungspsychologen sind sie eine unerschöpfliche Quelle, um einerseits zu studieren, wie sich Kinder entwickeln, und andererseits, wie teilnehmendes Tagebuchschreiben gelingen kann. Wir erfahren zahlreiche Details über den Lebensalltag der Familie Stern, über das Verhältnis der Geschwister zueinander und der Kinder zu ihren Eltern.

Günther Anders‘ frühe Prägung auf das Schreiben als Möglichkeit der Weltaneignung begann bereits bei seiner Geburt, auch wenn er selbst naturgemäß zu diesem Zeitpunkt noch kein Bewußtsein von seinem Denken, von seinem späteren Sprechen und Schreiben haben konnte. Bereits der Vater verfaßte in frühester Kindheit und in seiner Jugendzeit Tagebücher. Dies ist noch nichts Außergewöhnliches, das war in vielen Familien so, doch bei den Sterns verhielt es sich ein wenig anders. Nach der Heirat und mit der Geburt der ersten Tochter Hilde Stern begann ein Projekt, das einen Höhepunkte in der Erforschung der frühkindlichen Entwicklung markierte. Das Projekt, das „mit der Geburt des ersten Kindes ungeplant vom Himmel fiel, markiert einen oder vielleicht sogar den Höhepunkt dieses Verfahrens in der Entwicklungspsychologie. Die Sternschen Tagebücher, die für jedes Kind einzeln geführt wurden, sind in ihrem Umfang, ihrer Anschaulichkeit und ihrem Detailreichtum weder zuvor noch danach von irgendeiner anderen entwicklungspsychologischen Tagebuchstudie übertroffen worden.“ (Deutsch 2002:2)

Die Tagebücher bildeten schließlich die Basis für zahlreiche Publikationen von Clara und William Stern. Die Aufzeichnungen flossen als Zitate direkt oder als Inhalte indirekt in ihre Texte ein. Treibende Kraft beim Tagebuchprojekt war Clara Stern. Sie führte gemeinsam mit ihrem Mann William von 1900 bis 1918 Tagebuch über jedes ihrer drei Kinder Hilde, Günther und Eva. Am Anfang der Arbeit mag erkenntnistheoretisches Interesse gestanden haben, vor allem für William Stern, doch gegen Ende, als die Kinder in die Pubertät kamen und sich die Lebensumstände von Clara Stern änderten, ging es vor allem darum, ein Werk zu vervollständigen. In dieser Zeit wurde das Tagebuch auch zur erzählten Geschichte über die Familie. Clara Stern ging von täglichen, wörtlichen Notaten zu interpretativen Aufzeichnungen, zu Erinnerungsnotizen über. Das hatte mehrere Gründe. Die Kinder wurden größer und entzogen sich zum Teil der Kontrolle der Eltern, da sie sich viel außer Haus aufhielten. Die Lebensumstände der Familie Stern waren zunehmend von Unruhe und Unsicherheit geprägt, und der Erste Weltkrieg brachte es mit sich, daß der regelmäßige Zeitfluß im Hause verlorenging. Dieser Wechsel im familiären Zusammenleben veränderte auch die Beobachtungen von Clara Stern. Daß sie trotz der widrigen Umstände an ihrem Projekt festhielt, hing mit dem Wunsch zusammen, ein vollständiges Bild der Entwicklung ihrer Kinder bis zum Erwachsenenleben zu geben. Erschwerend kam hinzu, daß die Familie 1916 von Breslau nach Hamburg übersiedelte. Der Krieg und der Ortswechsel hatten tägliche Eintragungen verhindert. Erst nach einer zweijährigen Pause war es Clara Stern möglich, sich wieder an Günthers „Aufzeichnungen zu machen. Nachholen lässt sich natürlich das Versäumte nicht; vieles wird sprunghaft erscheinen, was doch stete Entwicklung gewesen ist, vieles wird ungesagt bleiben, was zum Verständnis des Status Quo hätte gesagt werden müssen, vieles wird schattenhaft wirken, weil die Lebendigkeit der Worte, der selbstgesprochenen Worte fehlt. – Schwerwiegende Gründe rissen diese Lücke ins Tagebuch. Der schwerste Grund ist der Krieg. Mit Ausbruch des Krieges stellte ich mich in den Dienst des Nationalen Frauendienstes und führte bis zum Januar 1916 ein überaus angestrengtes Leben. Muße gab es fast nie. Vor Ausbruch des Krieges hinderte mich ein Weilchen der Umzug mit allem Drum und Dran an meiner gewohnten lieben Tätigkeit – und im Januar 1916 war es wieder ein Umzug, der uns bevorstand – diesmal ganz anderer Natur. Im März sind wir nach Hamburg übergesiedelt, im April kamen die Kinder nach – und jetzt beginnt es für mich ruhiger zu werden. – Da kehre ich fast erregt zu meinen Kinderbüchern zurück, mit dem Wunsche, dass nun wieder eine stetige Epoche einsetzen möge, damit das begonnene Werk nicht allzusehr Stückwerk bleiben möge.“ (Tagebuch VIII / Günther / 6.5.1916)

Und am selben Tag notierte sie weiter: „Aber die innere Stimme, die mich stets dazu drängte, das Leben und Sein meiner Kinder im Worte festzuhalten, ist nicht verstummt. Sie ruft mich immer wieder – ich folge ihr, in der Hoffnung, dass ruhige Zeiten es mir ermöglichen werden, die letzten Jugendjahre meiner Jüngsten schriftlich zu begleiten – ihnen und den Eltern zur Erinnerung!“ (Tagebuch VIII / Günther / 6.5.1916)

So wie Clara und William Stern Tagebücher nutzten, um später ihre Theorien zur frühkindlichen Entwicklung zu untermauern, wird Günther Anders später seine Tagebücher dazu nutzen, Bücher über den Zustand der Welt zu verfassen. Er begann bereits 1915 während eines Ferienaufenthaltes in Koserow sein erstes Tagebuch, wobei ihm die äußere Form des Buches unwichtig schien, denn „jeder andere Knabe hätte sich vielleicht ein schönes Buch schenken lassen und fein säuberlich eingeschrieben; er griff zu einem Oktavenheft, zu dem er später eigenhändig andere Hefte hinzunähte und in das er in fliegender Hast fast im Telegrammstyl hineinschreibt, meist abends vor dem Zubettgehen, im Nachthemd, stehend; aber alles, was er schreibt, trägt seine persönlichste Note, ist nicht blosser Tatsachenbericht, sondern Ausdruck seiner Gemütsreaktion. Leidvolle und freudvolle Erlebnisse füllen die Blätter in bunter Abwechslung. Und es ist unzweifelhaft, dass seine Seele durch das Niederschreiben sich oft so entlastet, wie durch mündliches Aussprechen. Meist folgt das schriftliche Reagieren der Aussprache mit Vater oder Mutter oder beiden Eltern – besonders dann, wenn es sich um ein nichtalltägliches Erlebnis handelt – und ich beobachte, wie es neben dem mündlichen Bekenntnis dem Knaben zum ‚Abreagieren’ verhilft.“ (Tagebuch VIII / Günther / 21.5.1916)

Schon sehr früh war das Tagebuch für ihn nicht bloße Abbildung, sondern vor allem auch eine Reaktion auf die Welt, mehr noch eine Erinnerungsstütze, denn regelmäßig las er die alten Eintragungen wieder oder bezog sich an späteren Stellen auf diese: „17. Mai. Herrlich: Friedensnachrichten von deutscher und englischer Seite. Lange Artikel. Wunderbar. Ich bin erregter als auf Seite 39. Wenn auch nicht so ein lumpiger Feind wie Montenegro weg ist, so sind vielleicht wir alle im Frieden! Das wird wieder Anlässe für Bilder geben. Vielleicht eine Verkörperung des Friedens oder ein zweiteiliges Bild, Krieg und Frieden. Es ist herrlich.“ (Tagebuch VIII / Günther / 19.5.1916)

In diesem Wiederlesen und Reflektieren früherer Erlebnisse übte er eine spätere Praxis im Gebrauch seiner Tagebücher ein. Günther Anders nahm auf diese Weise das Schreiben von Tagebüchern aus der Kinder- und Jugendzeit ins Erwachsenenleben mit. Sie bildeten später die Basis der meisten seiner Bücher, wodurch sein Schreiben auch einen unverwechselbaren Stil erhielt.

Zu Beginn war das Notieren von Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen großen Schwankungen unterworfen, und das Tagebuch wurde zeitweise beseite gelegt. Es war ein Buch, in das er Notizen über seine Sicht der Welt eintrug, Begegnungen, Beobachtungen und Reflexionen, die in keiner anderen literarischen Form verarbeitbar gewesen wären, und immer wenn er das, was er sah, „nicht mehr mit Tagebuchaugen“ sehen konnte, schloß er das „Haus des Tagebuches“ ab. „Der Hauptgrund ist aber wohl der, daß die Welt weitergeht, daß ich Entschlüsse zu fassen habe, daß neue Arbeiten am Horizont auftauchen, kurz daß ich wieder in Gang komme. Und wer in Gang ist, ist für Zustandsberichte nicht der rechte Mann. – Völlig verändert hat sich auch meine Reaktion auf das, was ich sehe. Nicht mehr mit den Fragen ‚so ist es also?’ und ‚warum ist es so?’ antworte ich auf die Reize, sondern mit der Frage: ‚Welche Stellung habe ich dazu zu nehmen?’“ (Anders 1985c:213)

Neben seinen Tagebuchaufzeichnungen begann Günther Anders früh Gedichte zu schreiben, die mehr waren, als nur Gelegenheitsgedichte oder schwülstige Naturbetrachtungen, sie waren die Fortsetzung der eloquent geschriebenen Briefe und Tagebücher des jungen Günther Stern. Ein Teil der Gedichte floß in das Buch des Vaters mit dem Titel Jugendliches Seelenleben und Krieg ein. (W. Stern 1915)

Gerade die Übernahme einiger Texte des jungen Günther Stern durch die Eltern und ihre Platzierung in ihren Publikationen könnte dazu geführt haben, daß das geschriebene Wort für ihn selbst Weltmächtigkeit entwickelte. Wenn sein Leben mit Worten beschreibbar war, in Büchern seine frühen Texte transportiert wurden, dann mußte es doch auch möglich sein, mit eigenen Worten etwas über die Welt zu schreiben und es zu publizieren. Über sich selbst, seine Kindheit und Jugend, mußte er nicht mehr schreiben, das hatten Vater und Mutter zum Zeitpunkt seiner Berufswahl bereits für ihn erledigt. Doch darüber, wie die Welt mit ihm zusammenhing, war etwas, das er selbst erledigen mußte. Hier konnte er den Vater als Psychologen und die Mutter als Schriftstellerin überschreiten und sich als eigenständige Persönlichkeit bestimmen.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 28.5.2019 | zuletzt aktualisiert: 28.5.2019
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