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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 8 | Ein sanftes Mütterchen

Das Verhältnis zur Mutter war ein viel unmittelbareres als jenes zum Vater. Trotz der Anwesenheit des Vaters in der Familie war die Mutter die familiäre Bezugsperson für die Kinder, und so auch für Günther Anders. Wie er seine Mutter sah, ist im wesentlichen aus zwei Quellen zu erschließen: aus ihren Tagebüchern, wo sie auch über das Verhältnis des Sohnes zu ihr schrieb, und aus dem Buch Besuch im Hades, wo Günther Anders sein Bild von der Mutter neu entwarf und rückblickend seine Beziehung zu ihr neu ausrichtete. Im ersten Fall erschien die Mutter als sanftes Mütterchen, im zweiten Fall beschrieb er die Mutter als selbstgerecht und korrekt. Im Vergleich dieser beiden Texte zeigt sich die Wandlung des Verhältnisses; es wird sichtbar, daß zwischen den beiden ein besonderes Band bestand, eine Beziehung, die die Schwestern nicht zu ihrer Mutter entwickeln konnten. Ich vermute, daß Günther Anders in all seinen späteren Frauenbeziehungen versuchte, ein Stück dieser Mutterbindung zu wiederholen.

In der Sternschen Kernfamilie spielten Frauen eine besonders bedeutsame Rolle. Die Mutter war vor ihrer Ehe eingebunden in eine von Frauen dominierte Familienstruktur, die vor allem durch die Abwesenheit von Männern gekennzeichnet war. Dies hatte natürlich Einfluß auf ihre Entwicklung als junge Frau. Sie ist aufgewachsen „in einem […] Weiberreich […], beherrscht von einer Urmutter und umgeben von einer Mutter und fünf Schwestern, wozu natürlich, da ja die aus Wäschekörben, Sonatinen, Strickrahmen, französischen Sprachlehrerinnen, Unterröcken, Tabus, Hüten und von Kaulbach illustrierten Klassikerausgaben bestehende Welt nicht von allein und perpetuum-mobile-haft in Gang blieb, sondern zum Funktionieren noch ein ganzes Rudel von weiteren Weibern, nämlich von Bonnen und Dienstmädchen und Französischlehrerinnen und Klavierlehrerinnen und Weißnäherinnen erforderte.“ (Anders 1979:95)

Dieser weibliche Kosmos führte dazu, daß Clara Stern schon als junges Mädchen mit zahlreichen Aufgaben betraut wurde und lernte, einen Haushalt zu führen. Schließlich erfüllte sie die Funktion der Tochter aus gutem Hause auch in ihrer eigenen Familie – als ihrem Mann ebenbürtige Ehefrau, als den Kindern sorgsame und umsichtige Mutter. Die Kinder und der Haushalt standen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, insbesondere Günther, der einzige Sohn. Dies hatte neben gesellschaftlich-traditionellen Gründen auch individuelle, da Günther derjenige war, der am stärksten die Nähe zur Mutter suchte, sich an sie anlehnte und die Beziehung zu ihr immer wieder von sich aus neu begründete. „Als Hilde heute in einer Liebesanwandlung zur Mutter sagte: ‚Du bist die allerliebste Mutter, die allerbeste Mutter, die es gibt!’ – da sagte er, wie schon so manches Mal aus innerster Ueberzeugung: ‚Und du bist die allerschönste Frau auf der Erde.’ Und wenn ich das lachend abwehre, wiederholt er dringlich: ‚Ja ganz bestimmt, du bist die allerschönste Frau auf der Erde.’“ (Tagebuch VI / Günther / 21.5.1909)

Daß er seine Mutter für schön hielt, ist ja an sich noch nicht außergewöhnlich, die radikale Korrektur des Bildes in späteren Jahren schon eher: „Nun, so lebt man nicht folgenlos, und so tut man Gutes nicht ungestraft – und damit wäre wohl Mutters sonderbares Gesicht erklärt, das eigentlich so schön hätte werden können wie das ‚schöne und liebliche’ des Hohen Liedes, in das sich aber Züge eingezeichnet hatten, die in dieses Gesicht überhaupt nicht hineingehörten: nämlich Züge von Höherertochter, von Altjüngferlichkeit, von Überkorrektheit und von Selbstgerechtigkeit.“ (Anders 1979:97)

Dennoch: als Junge war Günther Anders vom Liebreiz der Mutter, von ihrer Gutmütigkeit und Sorgfalt überzeugt. Die Abwesenheiten des Vaters waren auf Grund beruflicher Notwendigkeit durchaus legitimierbar, doch die langen Phasen, in denen die Mutter – vor allem krankheitsbedingt – oft wochenlang nicht im Haus weilte und die Kinder bei einer Tante untergebracht waren, führten zu Verlustängsten, die Günther Anders nicht durch Abschottung verarbeitete, sondern durch eine engere Bindung an die Mutter. Diese Anhänglichkeit schmeichelte ihr natürlich: „Einen liebenderen Bewunderer kann ich mir nicht wünschen.“ (Tagebuch VII / Günther / 13.11.1911) Vielleicht begründete sich in dieser Bewunderung auch der besondere Status, den der Sohn innerhalb der Geschwisterkonstellation einnahm.

Daß Schwangerschaft und Geburt von Günther nicht ganz einfach für Clara Stern gewesen sein dürften, zeigt eine der Totenpost-Elegien, in der er sich auf einen Brief bezog, den er unter all den hinterlassen Dokumenten fand:
„Und dann ein Brief aus ihrem achten Monat,
ein Tochterbrief, geschrieben kurze Zeit
bevor ich ankam. Doppelt unterstrichen
und ominös die Aufschrift: ‚Ganz privat,
nur für Mama! Und später erst zu öffnen!’
[...] Also ward der Brief
sehr spät erst aufgebrochen. Denn kein Auge
hat je die sieben Seiten, bis zum Rand
mit Schwermut angefüllt und Dunkelheiten,
mit Widersinn und Unsinn, und diktiert
von Haß auf mich und Abscheu vor sich selber,
jemals vor mir gelesen. […]
Und erst ich,
und ich alleine, heut nach fünfzig Jahren,
bereits ergraut, zwei Mal so alt wie sie
in jenen Tagen […] – ich alleine
bin Zeuge dieses Jammers, den ich schuf.
O, junge Frau: O ärmste Mutter! Gerne,
wie liebend gerne, käm ich heute noch,
Abbitte tun. Begriff ich nur, womit
ich dies Dir damals antat. Schuld und Bosheit
such ich vergebens. Was ich finde, ist
ein Würmchen nur, ein Engerling, nicht ich,
mir fremd und unerreichbar, ohne Namen
im Dunkel hockend. Und sein Dasein hatte
nicht ich gewünscht: wie kräftig auch sein Leben
ins Licht nun drängte. Ach, wie schlimm der Wurm
Dein Erdreich unterwühlte, liebste Mutter,
in vierzig langen Jahren hast Du´s nie
mich wissen lassen. Sicher hast Du´s eilig
vergessen, als ich da war. Herrlich schien
mir immer Deine Nähe: schon die Fußbank
vor Deinem Stuhl: und Winters Hand in Hand
das Schlittschuhlaufen.“
(Der dunkle Rest / Totenpost / LIT)

Was Günther Anders in seinem Verhältnis zur Mutter – auch in späteren Jahren – nicht reflektierte, war der intellektuelle, der ehrgeizige auf die Welt und nicht auf die Familie gerichtete Blick, der durchaus zu inneren Konflikten bei Clara Stern in Bezug auf ihre Rolle in der Familie geführt haben kann. Sie war oft ungeduldig mit sich selbst, fühlte sich zwischendurch der Situation nicht gewachsen und hätte vielleicht gern mehr erreicht, als ihr von den Umständen zugestanden wurde, vor allem auf Grund ihrer Erziehung und des Berufes ihres Ehemanns, der rasch zum berühmten Professor aufstieg und dem all ihre Unterstützung galt. Für Günther Anders blieb die Mutter immer das soziale Oberhaupt der Familie, der emotionale Bezugspunkt, die Welt-Erfahrung in sozialen und persönlichen Beziehungsfragen: „Beim Gutenachtkuss schaute mich G. so innig an und erklärte mir dann mit bewunderndem Ausdruck: ‚Ich weiss nicht, Mutti, Du wirst immer schöner.’ Als ich laut auflachte, untersagte er mir das – aus Schönheitsgründen. Dann kämen solche Falten von Nase zu Mund, das soll nicht sein. Er glättete mein Gesicht wieder liebkosend und sprach: ‚Ich will solch ganz sanftes Mütterchen haben.’“ (Tagebuch VIII / Günther / 8.1.1913)

Erst nach dem Umzug von Breslau nach Hamburg, und vor allem in der Zeit, als er in Freiburg zu studieren begann, löste er sich von der Mutter, wurde vom Jungen zum Mann, behielt aber, was Frauen betraf, immer den Wunsch, ein sanftes Mütterchen zu finden, das jedoch auch die intellektuelle Kraft mitbringen sollte, ihn zu verstehen, denn in seiner gesamten Existenz verstanden fühlte er sich nur von der Mutter. Erst mit ihrem Tod riß das Band zwischen ihnen endgültig. Es blieb keine Möglichkeit der Auseinandersetzung wie beim Vater, in der sich das Verhältnis auch über das Politische, das Gesellschaftliche definierte. Den Vater konnte er in seine Zeit herüberretten, über die eigene Arbeit lebendig halten. Die Mutter ging mit dem Tod in einem ihm verhaßten Land, den USA, verloren. Er trug schwer an ihrem Tod, denn er hatte das Gefühl, daß ihm nichts von ihr geblieben war:
„Und daran hing […] reinlich beschriftet
ein kleiner Umschlag: ‚Clara, sieben Monat’.
Und darin eine Strähne, weißlich blond.
[… Ach, von Deinem letzten
und längst schon wieder weiß gewordnem Haar
verblieb mir nichts. Und nicht einmal die Asche.“
(Anders 1952a / Das Haar / Totenpost / LIT)

Vom Vater blieb das Liebesamulett, vom Vater blieb das Werk, blieb das Denken, blieb das Wort. Von der Mutter blieb nicht einmal die Asche. Den Vater konnte er durch das eigene Schreiben, durch das eigene Denken wiedergewinnen, die Mutter, die Heimat, Breslau konnte er nur durch Beziehungen zu Frauen in Erinnerung halten. Die Beziehung zur Mutter war intakt, vor allem als Kind war er ihr und sie ihm wohlgesonnen. Es gab eine gegenseitige Anerkennung, die ihn einerseits stark machte in der Welt, andererseits aber gleichzeitig auch starrsinnig gegen die Welt. Wie der Vater sein intellektuelles Leben geprägt hatte, hatte die Mutter dies im Sozialen getan.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 19.7.2019 | zuletzt aktualisiert: 19.7.2019
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