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Marie Langer
31. 8. 1910 Wien | Buenos Aires 22. 12. 1987



Köln | Die enthaupteten Frösche

Während ihrer Jugend entwickelte sich Marie Langer zu einer Persönlichkeit, die die Einflüsse aus ihrer Kindheit in Kreativität sowie politisches und berufliches Engagement verwandeln konnte. Obwohl sie mit ihren Beziehungskisten beschäftigt war, dürfte ihr der Wandel, der sich im politischen Klima Österreichs in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vollzog, nicht verborgen geblieben sein, denn als Schülerin der Schwarzwaldschule kam sie mit sozialistischen und austromarxistischen Ideen in Berührung, die im Roten Wien ihren unmittelbaren Ausdruck fanden. Die sozialen Reformen des Roten Wien müssen Marie Langer sehr beeindruckt haben, wenn sie sich angesichts der peronistischen Sozialreformen der Jahre 1944-1949 an das Rote Wien erinnert fühlte.

Mit dem Jahr 1927 trat durch die Ereignisse in Schattendorf, die darauffolgenden Arbeiterunruhen und den Justizpalastbrand eine Schwächung der Sozialdemokrat/inn/en ein, da sie keine klaren Absagen an die reaktionären Kräfte formulierten. Das Zurückweichen der Sozialdemokratie spielte vor allem den Nationalsozialist/inn/en in die Hände und führte schließlich über die Selbstausschaltung des Parlaments (1933) zu den tragischen Ereignissen des 12. Februar 1934. Von diesen Ereignissen war auch die Familie Glas/Hauser unmittelbar betroffen, denn die ersten Anzeichen der Wirtschaftskrise machten es notwendig, daß Marie Langers Eltern im Jahre 1927 nach Sudetendeutschland zogen, wo sich im Gerichtsbezirk Zwickau ihre Textilfabrik befand. Marie Langer blieb siebzehnjährig allein in Wien zurück und hatte kurzzeitig die große Wohnung im Hauser-Palais ganz für sich (später wurde ein Teil davon abgetrennt und vermietet). Noch im selben Jahr lernte sie Herbert (Teddy) Manovill kennen, den sie 1929 in einer kirchlichen (auf besonderen Wunsch Herbert Manovills) und zivilen Trauung heiratete. Diese Heirat löste in ihrer Umgebung einige Verstörung aus, da sie kurz vor ihrem Abitur stand und daher noch Schülerin war. Neben einer Hochzeitsreise, die ihr ihre Großmutter schenkte und die sie nach Rom und Nordafrika (Tunis) führte, also zum ersten Mal über die europäischen Grenzen hinaus, bedeutete die Heirat ein einschneidendes Erlebnis für ihre psychische Situation. Die dreijährige Eheepisode und die daran anschließende Scheidung befreiten sie aus vielfältigen Zwängen, denen bürgerliche Mädchen unterworfen waren (und sind), denn die Heirat ermöglichte ihr endlich, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren und die Diskussion: Ehe, ja oder nein, nahm ein Ende. Die Ehe selbst dürfte recht ausgeglichen und harmonisch, wenn auch langweilig verlaufen sein, deshalb ließen sich Herbert Manovill und Marie Langer 1932 wieder scheiden. Die Scheidung während ihres ersten Studienjahres erleichterte sie neuerlich, denn nun würde niemals wieder ein Mann von ihr Jungfräulichkeit oder eine Mitgift fordern können. Sie wurde dadurch von zwei wesentlichen Bedingungen befreit, die Frauen des Bürgertums bestimmten und bestimmen.

Ich denke, daß diese Befreiung gleichzeitig mit ihrem aktiven, politischen Engagement in der KPÖ bzw. ihrem Beitritt im April 1933 zusammenfiel, ist kein Zufall. Ich würde Marie Langers Eintritt in die KPÖ und ihre daraus resultierende double-bind Situation mit der Psychoanalyse nicht nur mit der Sehnsucht nach der sozialen Revolution - die sie bis ins hohe Alter nie verließ - und dem Gegensatz von KPÖ und Sozialdemokratie erklären, sondern mit einer tieferen Erfahrung während ihrer Jugendzeit. Ein Schlüssel für die vehemente Forderung nach einer Revolution, auch nach einer revolutionären Psychoanalyse, könnte in ihrer bereits als Mädchen entdeckten Vorliebe für die russischen Revolutionärinnen liegen, wie z.B. Alexandra Kollontai, Vera Figner und Vera Sassulitsch, deren revolutionäre Haltung ihnen ermöglichte, dem typischen Frauenlos (Mutter/Geliebte/Hausfrau) zu entgehen.

Marie Langer schloß sich dem großen Kampf an, und es gelang ihr, dem Schicksal vieler Frauen und im speziellen jenem ihrer Mutter zu entrinnen. Einerseits wurde ihr durch die familiären Verhältnisse eine Abkehr von der bürgerlichen Treibhauskultur ermöglicht, da ihre ältere Schwester Eva im Mittelpunkt des Interesses ihrer Mutter stand. So konnte sie sich von der Mutter lösen, und es blieb ihr erspart, in einer ähnlich symbiotischen Haß-Liebe-Beziehung zu verharren, wie ihre Schwester. Andererseits gelang es ihr, den verlorenen Traum ihrer Mutter von höherer Bildung zu verwirklichen, d.h. sie konnte einen Beruf erlernen, jenen der Ärztin, wodurch sie ein gewisses Maß an Unabhängigkeit in sozialer und finanzieller Hinsicht erreichte. Darüber hinaus gelang es ihr auch, trotz ihrer beiden Ehen (Herbert Manovill/Max Langer) und der Liebe zu Männern, sich sehr intensiv der Politik und der Öffentlichkeit zuzuwenden: Ich habe einige Entdeckungen gemacht, zum Beispiel, daß das sexuelle Rebellentum meiner Jugend der erste Schritt nach links wurde (Reich wäre es vorgekommen, als hätte ich eine Binsenweisheit entdeckt...), aber auch, daß - während meine Sexualität sich lange auf die ‚weibliche Sphäre’, daß heißt auf die Liebe, den Mann und die Mutterschaft konzentrierte - dies die Realisierung der ‚anderen Seite’ nicht ausschloß. (Langer 1986:20-21) Ihr aktives politisches Engagement begann gleichzeitig mit ihrer Trennung von Herbert Manovill, und hat, außer vielleicht in den fünfziger Jahren, nie wieder nachgelassen.

Diese Trennung ermöglichte ihr über das politische Engagement hinaus ein halbes Jahr Studienaufenthalt in Kiel. Studien jeder Art, vor allem auch das Medizinstudium, waren in den dreißiger Jahren durchaus noch keine Selbstverständlichkeit für Frauen, obwohl das Studium seit der Jahrhundertwende auch ihnen offenstand und dieses Angebot gerade von Jüdinnen aus dem assimilierten Bürgertum auch häufig genützt wurde. Sie standen damit durchaus im Einklang mit den Vorstellungen über eine Frauenkarriere, die in Teilen des bürgerlichen bzw. großbürgerlichen Milieus herrschten. (Vgl. Embacher 1991) Trotz höherer Zahl an Studentinnen und Absolventinnen nahmen die Frauenfeindlichkeiten seitens der Professoren und der Kommilitonen nicht ab, und auch der stark agitierende Antisemitismus an der Universität, der gegen Ende von Marie Langers Studium (1934) durch massive Übergriffe auf das Unigelände seitens der Nationalsozialist/inn/en gekennzeichnet war, machte den Frauen zusätzlich zu schaffen.

Marie Langer schildert die Überfälle recht drastisch, bei denen sich die Polizei sehr passiv verhielt. Für diese Passivität hat die Neutralität und Unantastbarkeit von Universitätsboden einen willkommenen Vorwand geboten, denn trotz Verbot der nationalsozialistischen Partei konnten ihre Terrorbanden Aktionen vortragen, die vor allem zur Einschüchterung der jüdischen Bevölkerung dienten. Durch eine Reise nach Deutschland und einen Studienaufenthalt in Kiel sollte Marie Langer aber das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Grausamkeit bewußt werden. Von dem Physiologen Höber wurde sie beauftragt, männliche Frösche mit einer farbigen Flüssigkeit voll zu spritzen, sie dann zu enthaupten sowie die im Harn verbliebene Flüssigkeit zu messen. Dies alles spielte sich in einem dunklen, feuchten Kellerlabor ab. Im Zusammenhang mit den Reden Hitlers und dem immer stärker werdenden Antisemitismus muß Marie Langer die Laborerfahrung recht bizarr und bedrohlich erschienen sein. Jedenfalls trat sie kurz nach ihrer Rückkehr aus Kiel der KPÖ bei, der ihrer Meinung nach einzigen Partei im damaligen Österreich, die weitsichtig genug war, um die Menschen vor der drohenden Gefahr des aufkommenden Faschismus zu warnen. Diese Warnungen gingen auch an Marie Langer nicht spurlos vorüber und sie meint, daß die Partei ihr bereits damals das Leben gerettet habe.

Zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die KPÖ hatte sich Marie Langer bereits von ihrer Familie und ihrer bürgerlichen Erziehung gelöst, gerade eine Scheidung hinter sich gebracht, und die Partei holte sie nun aus ihrer politischen Isolation. Der Beitritt bedeutete für sie eine neue Umgebung, so etwas wie eine Familie, hob sie aus dem individuellen Leben heraus, gab ihr eine kollektive und politische Persönlichkeit und damit die Möglichkeit, sich für und mit anderen gemeinsam auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen. Gemeinsam für eine gemeinsame Sache aktiv zu kämpfen war eine ihrer zentralen Lebensaufgaben, der sie bis ins hohe Alter treu blieb. Ihre Aufgabe in der Partei und damit seit Mai 1933 in der Illegalität sah sie als eine Art Ameisenarbeit. Als Deckname behielt sie ihren Namen aus erster Ehe bei: Manovill und fügte ihren Spitznamen Mimi hinzu. Unter dem Namen Mimi Manovill war sie später auch im Spanischen Bürgerkrieg tätig und in Argentinien wurde sie von vielen einfach nur la Mimi genannt.

Die KPÖ war eine zahlenmäßig relativ kleine Organisation, wofür die Gründe in den Anfangszeiten der Partei zu suchen sind, denn die KPÖ gründete sich nicht wie in anderen europäischen Ländern durch eine Spaltung der Sozialdemokratie, sondern durch eine Neugründung, da die führenden Parteigänger/innen der Sozialdemokratie nicht für die KPÖ gewonnen werden konnten, wodurch die Partei relativ schwach in der Bevölkerung verankert war. Trotz diesem zahlenmäßig kleinen Organisationsgrad war die Partei, was die Mobilisierung des Widerstandes betraf, sehr effizient. Die KPÖ lehnte die Politik der Rückzugsgefechte ab, wie sie von der Sozialdemokratie verfolgt wurde und schließlich zu den Ereignissen am 12. Februar 1934 führte - den sogenannten Februarkämpfen. Die KPÖ gab sich ein radikal-marxistisches Image, mit revolutionären Parolen, was sie gerade auch für Marie Langer interessant machte. (Vgl. Kreissler 1970)

Marie Langers Beitritt im April 1933 erfolgte zu einer Zeit, als die Lage der KPÖ bereits sehr prekär war und ihre Funktionär/inn/e/n unter zahlreichen Unterdrückungsmaßnahmen litten, wie z.B. der Überwachung und Inhaftierung. Die Partei teilte Marie Langer der Abteilung für Propaganda und Agitation zu, da sie einerseits durch ihre bürgerliche Umgebung nützliche Kontakte hatte und andererseits allein in der elterlichen Wohnung lebte und es daher die Möglichkeit gab, dort Versammlungen des Zentralkomitees abzuhalten, solange sie nicht polizeibekannt war. In Marie Langers Wohnung fand auch der letzte Kongreß der österreichischen KP vor dem Krieg statt. Ihre Arbeit beschreibt sich durchaus mit gemischten Gefühlen: Die Verfolgung war manchmal sehr schwer, manchmal relativ leicht zu ertragen. In der Erinnerung überrascht mich eher die Art, wie wir damals miteinander umgegangen sind: jene strenge Ernsthaftigkeit. (...) In der Partei und besonders dann im Untergrund war alles Frivole verschrien (und frivol war in meiner damaligen Umgebung manches); als frivol galt es auch, Literatur zu lesen, von Kunst zu sprechen, Musik zu hören, Bridge zu spielen, über die Nichtigkeiten des Lebens zu reden (...) Ansonsten lebte ich zu dieser Zeit in einer gewissen Gespaltenheit. Manchmal ging ich noch Ski fahren, wie ich es gewohnt war; aber jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen dabei, weil Skifahren seit der Illegalität als leicht verwerflich, ‚unseriös’ galt. In Unterhaltungen mit Freunden hat immer ein wesentlicher Teil meines Lebens - nämlich die Politik - gefehlt; so erschien ich (...) merkwürdig. Ich mußte mich nie in fremden Wohnungen verstecken oder unter einem anderen Namen leben, aber meine Gedanken versteckte ich fast immer. (Langer 1986:75-76)

Neben dieser Agitprop-Tätigkeit hatte Marie Langer durch die Verlegung des Zentralkomitees nach Prag den Generalsekretär Koplenik und Friedl Fürnberg in die Tschechoslowakei zu bringen. Bei ihrer Tätigkeit riskierte Marie Langer nicht nur langjährige Gefängnisstrafen, sondern sie war auch von der Einlieferung in eines der austrofaschistischen Konzentrationslager bedroht und dadurch in weiterer Folge auch von der Ermordung.

Den Sowjetkommunismus und die Kommintern heroisierte und sah sie bis ins hohe Alter sehr positiv, selbst der Stalinismus konnte sie nicht wirklich vom realen Sozialismus abbringen. Vielleicht eine der wenigen Fehleinschätzungen, die sie in ihrem Leben getroffen hatte, denn sie verurteilte zwar den skrupellosen Drang zur Macht, aber Stalin konnte sie nicht global verurteilen. (Langer 1986:74)

Nach Beendigung ihres Studiums (1935) konnte sie schon keine richtige Ärztin mehr werden. Ein Jahr zuvor wäre es ihr vielleicht noch gelungen, jedoch fehlte ihr nun jenes Jahr, in dem sie ihre Mutter von der Schule nahm, weil sie eine schwere Erkrankung Marie Langers fürchtete. 1935 war es für eine aus der israelitischen Kultusgemeinde ausgetretene Jüdin unmöglich, eine Anstellung zu finden. Ihrer Hinwendung zur KPÖ folgte der Beginn einer Analyse bei Richard Sterba, einem Lehranalytiker der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), mit dem sie später in der Emigration (Sterba emigrierte in die USA) eine tiefe Freundschaft verband. Richard Sterba war es auch, der ihr nahelegte, eine analytische Ausbildung zu beginnen. Nach einem Aufnahmegespräch mit Anna Freud wurde Marie Langer in die WPV aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die WPV und die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) bereits ihre Entwicklung von einer Bewegung zu einer Institution abgeschlossen. Diese Entwicklung begann 1902 mit der Gründung der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft (PMG), leitete 1908 in die WPV über und führte schließlich 1910 auf dem Nürnberger Kongreß zu einer strafferen Organisierung der Bewegung als Reaktion auf die Auseinandersetzungen zwischen Alfred Adler und Sigmund Freud. Seit diesem Kongreß kam es zu einer schrittweisen Aufsplitterung der Psychoanalyse in drei Funktionsbereiche: in die Vereinigungen (Verwaltung), die wissenschaftlichen Publikationsorgane und Kongresse (Theoriebildung) und die Lehrinstitute (Therapieausbildung). In den Lehrinstituten fand die Erziehung der Psychoanalytiker/innen zu loyalen Mitgliedern ihrer Gesellschaften statt, und auch Marie Langer blieb davon nicht unberührt, denn auch sie vollzog in Argentinien 1942 das ursprüngliche Muster der institutionellen Psychoanalyse, als sie gemeinsam mit fünf Kollegen die Asociación Psicoanalítica Argentina (APA) gründete und den Aufbau der Organisation mittrug.

Im Wien der dreißiger Jahre war es für sie selbstverständlich, einer analytischen Institution anzugehören und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen ihre Ausbildung stattfand, anzuerkennen. Eine Abkoppelung von dieser starren Form der psychoanalytischen Praxis gelang ihr erst im Zuge der antiinstitutionellen Jugendbewegung Ende der sechziger Jahre, die auch in Argentinien Fuß faßte und die psychoanalytischen Institutionen erschütterte. Doch 1935/36 ahnte Marie Langer davon nichts, denn sie engagierte sich in der KPÖ, und als sie ihre Lehranalyse bei Richard Sterba begann, verkomplizierte sich auf Grund ihrer politischen Illegalität ihr Leben zusehends.

Vielleicht wäre Marie Langers weiterer Weg geradliniger, weniger anti-institutionell verlaufen, wenn sie sich statt den Kommunist/inn/en der Sozialdemokratie angeschlossen hätte, denn im Gegensatz zur KPÖ lehnte die Sozialdemokratie die Psychoanalyse nicht von vornherein ab. Marie Langers Eintritt in die WPV erfolgte zu einem Zeitpunkt, als das gesellschaftliche Klima in Wien bereits gegen eine legale Doppelbetätigung in der Psychoanalyse und der KPÖ sprach. Das aufgeklärte Verhältnis zwischen den Linken und der Psychoanalyse war längst beendet, was nicht ohne Folgen auf Marie Langers Leben in den Jahren 1935 und 1936 bleiben konnte. Auf Grund der eben angesprochenen politischen Konstellation in Österreich waren diese eineinhalb Jahre in der Wiener Vereinigung durch eine Art Leben im doppelten Untergrund gekennzeichnet. Ihre Tätigkeit in der KPÖ mußte sie vor der Öffentlichkeit und der Vereinigung verbergen und ihre berufliche Arbeit vor den Genoss/inn/en, da die Partei der Psychoanalyse ebenso verständnislos gegenüberstand, wie die Analytiker/innen der Wiener Vereinigung der KPÖ.

Eine von Paul Federn ausgegebene Parole, daß keine Angehörigen der Vereinigung sich in einer illegalen Organisation oder Partei betätigen durften, brachte Marie Langer zusätzlich in Schwierigkeiten und hätte beinahe zu ihrem Ausschluß aus der Vereinigung geführt. Durch ihre Verhaftung nach der Versammlung einer pazifistischen Ärzt/inn/e/ngruppe wurde Marie Langer polizeibekannt und für einige Analytiker/innen in der Vereinigung untragbar. Im Gefängnis lernte sie Max Langer kennen, der sich wie sie bei dieser Versammlung aufgehalten hatte. Mit ihm gemeinsam ging sie 1936 nach Spanien und heiratete ihn kurz nach der Emigration in Uruguay. Einen Ausschluß Marie Langers konnte Richard Sterba nur durch ein persönliches Gespräch mit Paul Federn verhindern, der ihr eine Strafpredigt hielt und so die Angelegenheit bereinigte. Diese sehr unsolidarische Haltung trübte Marie Langers Verhältnis zur Vereinigung, und vielleicht ist in diesen Ereignissen und in der Negierung der politischen Vorgänge durch die meisten jüdischen Analytiker/innen in Wien ihr tiefes Mißtrauen gegen die analytischen Vereinigungen zu suchen, das sie schließlich zu einer der heftigsten Kritikerinnen der internationalen Vereinigung und der nationalen argentinischen Vereinigung Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre werden ließ.

Abgesehen von ihrer Arbeit an der Klinik für Psychiatrie nahm sie mit wenig Euphorie an den Seminaren von Helene Deutsch und den Supervisionssitzungen mit Jeanne Lampl de Groot teil, denn für Marie Langer blieb die politische Arbeit vorrangig. Das Dilemma, das sich aus ihrem Engagement in der Parteipolitik und ihrer analytischen Arbeit ergab, wurde schließlich durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges beendet. Da sie durch ihre Verhaftung nun polizeibekannt war, entschied sie sich nach Spanien zu gehen, um an einer anderen Front gegen den Faschismus zu kämpfen, wozu ihr die Partei die Erlaubnis erteilte: Meine spätere Abreise nach Spanien könnte wie ein heroischer Akt aussehen. In Wirklichkeit hat sie mir das Leben gerettet und mir erspart, bald darauf fliehen zu müssen. So konnte ich meine Heimat freiwillig verlassen. (Langer 1986:75)

Marie Langers Einsatz für das republikanische Spanien war ebensowenig eine Heldinnentat, wie ihr Engagement für die soziale Revolution in Argentinien oder Nicaragua. Ihre Geschichte liest sich manchmal wie die Aneinanderreihung vieler Heldinnengeschichten, dennoch glaube ich, daß ihr Engagement in Spanien, Argentinien und Nicaragua für eine gerechtere Gesellschaft nur die logische Konsequenz ihrer bewußten politischen Haltung war, gekennzeichnet durch eine im Alltag gelebte Solidarität und einen ausgeprägten Internationalismus, der sie in Wien ebenso wie später in Buenos Aires in Widerspruch zur offiziellen Psychoanalyse brachte.

In diesen letzten Wiener Jahren zwischen 1932 und 1936 wurde der Grundstein für Marie Langers lebenslange Suche nach einer Verbindung von sozialer Revolution und Psychoanalyse gelegt. Entscheidend dafür scheint mir die Tatsache, daß sie, bevor sie mit ihrer Lehranalyse begann, bereits in der KPÖ aktiv tätig war, wodurch sie den Druck der Wiener Vereinigung auf politisch Aktive abfangen und ihrem politischen Engagement treu bleiben konnte. So wurde sie zu einer Zeitzeugin der zwei wichtigsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts: der Psychoanalyse und des Marxismus.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 19.7.2019 | zuletzt aktualisiert: 18.7.2020
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