20.220.123:1.147 Zum Archiv

Mit dem zwanzigsten Jahrhundert verliert die Natur in der Literatur an Bedeutung. Bei Kafka, dem modernsten Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, verkommt sie zur bloßen Statistin. Nehmen wir nur den Beginn des Romanfragmentes Das Schloss, das mit den Worten eingeleitet wird: Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.

Bei Kafka ist die Natur eine Leerstelle, ein undurchdringlicher Nebel, Finsternis. Die Natur ist wie ein Vorhang in einem Theaterstück, der sich hebt, kurz bevor das Stück mit dem ersten Satz, dem ersten Auftritt beginnt. Ansatzlos beginnt der Text: Dann ging er, ein Nachtlager suchen. Die Natur endet, wo das Leben beginnt. So könnte man es zusammenfassen.

An anderer Stelle im Text Ein Landarzt ist die Natur nur Kulisse, um die Dramatik zu steigern, um den Raum sichtbar zu machen, den der Protagonist durchqueren muss: Starkes Schneegestöber füllte den Raum zwischen mir und ihm. Und dann, wie um zu bestätigen, zu bekräftigen, dass dieser Raum mehr als nur ein eisiger Winter ist, verdammt er den Landarzt durch den Schnee zur Unbeweglichkeit. Die Natur ist somit kein Ort des Aufbruchs, sondern der Erstarrung, der Aussichtslosigkeit und die Welt dadurch ein Ort ohne Hoffnung.

Konsequenterweise stirbt nicht nur der Patient des Landarztes, sondern auch er geht all seiner Existenz verlustig, mehr noch, auch die ihm Anvertrauten werden Opfer, dieser einen Winternacht. Keine Hoffnung nirgends. Die Natur ist also kein utopischer Raum bei Kafka, sondern wird als dramaturgisches Elemt genutzt, um Raum, der ja bei Kafka endgültig verloren geht, überhaupt noch erzählerisch sichtbar zu machen.


20.220.122:1.805 Zum Archiv

Der Tag vor dem heutigen Tag war ein Tag, der rascher vergangen war, als alle anderen Tage in diesen Tagen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Tage aus diesen Tagen verflüchtigte, beängstigte die alte Frau, denn sie wusste, wenn der letzte Tag dieser Tage gekommen sein würde, wäre es der letzte aller Tage und sie müsste sich dann die ultimative Frage stellen, die sich jeder Mensch in den letzten Tagen seiner Tage stellt, ob nicht all die Tage, die sie von ihrem Schicksal, der Vorsehung, der Schöpfung, oder wie auch immer man es nennen wollte, zur Verfügung gestellt bekommen hatte, von ihr vergeblich gelebt worden waren. Sie musste sich fragen, ob sie nicht zu der Zeit, als sie noch über genügend Tage verfügen konnte, also ihrem Gefühl nach eine unbegrenzte Zahl an Tagen ihr eigen nennen konnte, diese ausreichend gewürdigt hatte. Würde sie diese Frage mit einem Ja beantworten, könnte sie noch am selben Tage in Ruhe und Gelassenheit beschließen, an einem der nächsten, möglicherweise letzten Tage, abzutreten, zu sterben. Sollte diese Frage aber mit einer Verneinung beantwortet werden, dann würde sie möglicherweise von einer großen Unruhe ergriffen und selbst die letzten ihrer letzten Tage damit verschwenden, sich die Frage zu stellen, was sie in ihrem Leben verpasst haben könnte und selbst in diesen Tagen noch einen Tag nach dem anderen verpassen, wie sie all die Tage ihrer Tage möglichwerweise verpasst hatte.


20.220.115:1.550 Zum Archiv

Wie im Frühling der Regen die Felder und Wiesen befruchtet, aus den Bäumen der Samen auf brauchbare Böden fällt, so taumeln im Herbst die vergilbten Blätter durch den Himmel, angetrieben von südlichen Fallwinden, um sich am Ende, bedeckt von Schnee, in ertragreichen Acker zu verwandeln.


20.220.114:1.035 Zum Archiv

Aus der Natur bin ich geboren und ich musste mich aus Notwendigkeit und mit allerlei Bemühungen in der Kultur meiner Ahnen einleben. Eingeschrieben habe ich mich in ihren kulturellen Gepflogenheit nie, auch wurde ich nie in ihren Riten heimisch, ein Zugehörigkeit zu ihrer Welt zu entfalten, war mir nicht vergönnt. Was ich zu Wege brachte, war einen freundschaftlichen Umgang mit meiner kulturellen Umgebung zu pflegen, wie mit einem guten Bekannten, den man ab und an irgendwo an einiger zugigen Ecke trifft, um mit ihm einen kurzen Meinungsaustausch über das Wetter, die allgemeine politische Lage oder das Ableben eines viel zu früh von uns Gegangenen zu pflegen. Mit dem, was meine Ahnen mir hinterließen, konnte ich so ein friedliches Auskommen finden.

Und was ich an Kunst in all den Jahren hervorbrachte, in denen ich als kulturloser Heimatvertriebener durch die Welt vagabundierte, entspricht meinem Wesen, meiner Natur, ist meine schützende Haut, mein Atem, denn was ich schreibe, bin ich. Und was ich gedichtet habe, wäre ich geworden, wenn ich von Natur aus nicht derart mutlos gewesen wäre.

Doch vielleicht ist meine Mutlosigkeit ja nur meiner Unfähigkeit geschuldet, in meiner kulturellen Herkunft heimisch zu werden, denn durch allerlei Anpassungsnotwendigkeiten und einem unbändigen Überlebenswillen, einer körperlichen Robustheit, der mein seelisches Fundament nicht immer standhalten konnte, war mir eine vollkommene Abkehr von der äußeren Welt und ihren verführerischen Genüssen nicht gestattet.

Und wenn eines Tages einer an mein Grab tritt, wo auch immer es zu liegen kommen mag, soll er sprechen über den, der ich war und nicht über den, der ich sein hätte können und wer dazu nicht in der Lage ist, solle schweigen.


20.220.112:1.703 Zum Archiv

Die Natur war nie das Wesen des Menschen, nie seine Heimat hat ein anderer einmal gesagt, sondern das Wesen des Menschen ist seine Künstlichkeit, seine Einsamkeit, seine Weltverlorenheit und ein weiterer, der genannt sein soll, hat vor Äonen schon davon gesprochen, dass der Mensch sich die Erde unterwerfen solle, Tag für Tag, im Schweiße seines Angesichts.


20.220.106:0.738 Zum Archiv

Am Meer möchte ich siedeln, nicht wegen der Lebensweise, die die südlicheren Menschen pflegen, sondern wegen seiner Würze, wegen des Oleanders, der am Straßenrand gedeiht wie bei uns der Klee auf saftigen Weiden. Wegen des Sandes, der einem auf dem Fuß folgt wie ein lebendiges Wesen. Wegen der Weite, die nichts kennt als den Horizont. Wegen der Wellen, deren Rauschen, dem nichts in der Welt gleicht, deren Rhythmus mich berührt - im Innersten - und das mich zum Klingen bringt.

Am Meer möchte ich hausen, weil mir dort die Natur in ihrer ursprünglichsten Form erscheint, als Wasser und Himmel, Erde und Luft, mehr Licht als Schatten, immerwährender Aufgang ohne Untergang.


20.220.103:0.648 Zum Archiv

Bei Werther will ich beginnen. Beim Anfang von allem und der Natur der kleinen Bürger, denen ich angehöre nicht durch Stand oder Geburt, sondern durch Erziehung und Bildung, wie Kant es sich gewünscht hätte. Bei Werther will ich beginnen, dem ersten in einer langen Reihe, die die Natur vergötterten, ihre Freude und ihren Schmerz in ihr fanden, aus ihr geboren, in ihr untergingen. In einer Natur, die damals noch roh und gottgleich bestialisch war und heute doch nur noch ein Spiegelbild, in dem der Mensch sich sehen will, als wäre er noch Teil von ihr und nicht längst von ihr entfremdet.

Bei Werther will ich beginnen, als einem, der die Natur sammelt wie kleine Präsente, derer er sich erfreut, eine Erbsenschote, als wäre sie das Manna Gottes, das Himmelsbrot, das er sich selbst, als von den Göttern Berufener, zubereitet und am Herd und Tisch damit die Seele labt. Bei Werther will ich beginnen, für den die Natur ein Freund, ein Begleiter ist, die den Liebenden aufnimmt, bedingungslos, die nicht grausam ist und nicht schön, die keine Moral hat und kein Recht kennt, die dem Einsamen Schutz bietet, vor der Glückseeligkeit der Liebenden und den Schmerz der Verlorenen annimmt wie einen Bruder am Rande zur Nacht, bevor die Welt durch ein Feuer untergeht.


20.220.102:0.833 Zum Archiv

Aus Sicht eines Schülers ist der Lehrer sein natürlicher Feind. Hat man das erst einmal verstanden und hat man sich als Lehrer entschieden, diese innere Ablehnung überwinden zu wollen, die aus jahrelanger Unterwerfung durch und systematischen Demütigungsstrategien von Lehrern entstand, dann ist man beinahe gezwungen, an die Vernunft der Schüler zu appellieren, ist man gezwungen eine Allianz mit ihnen einzugehen, denn ein Lehrer, der Wissensvermittlung als kognitiven Aneignungsprozess versteht, ist ohne die Kooperationsbereitschaft von Schülern in seinem Bemühen um Diskurs zum Scheitern verurteilt.

Hat man sich als Lehrer entschieden, das System von Unterwerfung und Verurteilung zu durchbrechen, dann gibt es kein zurück mehr. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, liegt in der Unumkehrbarkeit dieses Vorgangs. Gibt man das Prinzip der Alleinherrschaft in einem Klassenverband als Lehrer auf, muss man darauf hoffen, dass die Schüler aus eigenem Antrieb, aus innerer Überzeugung am Unterricht teilnehmen. Doch das haben Schüler im Regelschulsystem nicht gelernt. Sie wissen zwar, was selbstständiges Arbeiten bedeutet, denn sie sind in der Lage, Arbeitsblätter auszufüllen und abzuarbeiten, aber das selbstständige, kritische, freie und lösungsorientierte Denken ist ihnen nicht in ausreichendem Ausmaß vermittelt worden. Eine Problemstellung solange zu bearbeiten, bis eine Lösung gefunden ist, sie zu drehen und zu wenden, sie von unterschiedlichen Seiten zu betrachten, wird zu selten praktiziert in einem Schülerleben. Warum? Diese Frage ist einfach zu beantworten: Es fehlt an Zeit und entspannter, herrschaftsfreier Lernatmosphäre.

Da unser Schulsystem geprägt ist vom Prinzip des Überwachens und Strafens, steht einer, dessen Unterricht darauf ausgerichtet ist, dieses System zu hinterfragen und im Grunde zu unterlaufen, auf verlorenem Posten, denn gezwungen zu urteilen über das Sprechen und Denken eines Menschen, fällt er vom Standpunkt des Beurteilten aus immer zugleich auch ein Urteil und damit ist ein Urteil immer auch ein Vorurteil. Vorurteilsloses Unterrichten bedeutet ja auch, den Schüler, mit dem, was er ist und sein kann, ernst zu nehmen, Leistungsäußerungen nicht permanent zu beurteilen, sein Verhalten nicht moralisch zu sanktionieren, sondern durch Befragung denkerisch aufzulösen.

Die schwierigste Aufgabe im heutigen Schulsystem, das sich den Anstrich von Freundlichkeit, Demokratie und Weltoffenheit gegeben hat, ist, diese Eigenschaften als Tarnung zu entlarven, dabei gleichzeitig ein Minimum an Rechtssicherheit zu schaffen, um als Lehrer in diesem System zu überleben, um den Unterricht weiterführen zu können, und gleichzeitig den Schülern die Gewissheit zu vermitteln, dass alles, was an Herrschaft, die in einer Klasse vom Lehrer ausgeht, nur dazu dient, innerhalb des Systems einen Ort zu schaffen, in dem man gut getarnt daran arbeiten kann, den Widerstand gegen das System zu pflegen und eine Basis dafür zu schaffen, dass offenes, freies und herrschaftsloses Sprechen und Denken sich soweit als möglich verwirklichen kann.


20.220.101:1.312 Zum Archiv

In diesem Jahr, sechzig Jahre nach meiner Geburt, will ich sprechen vom Begehren, das die lebendige Stille in mir weckt, als wäre ich ein Knabe und tränke aus dem Wunderhorn, das mir die sanften Wiesen meiner Kindheit dargeboten haben, denn selbst an den lichtlosesten Tagen, gibt es an den Wegen, die mich durch meine Welt führen, entlang der Wälder keine Finsternis, nur einen Wind, der manchmal ein gutmütiges Versprechen auf ein Leben am Meer ist, der mich ruft und dem ich nur aus Not und Pflichtgefühl vermag zu widerstehen. Und manchmal ist es ein Brausen und Knacken und Brechen, sodass mir Angst und Bange wird, das mich wie süßes Gift erregt. Und manchmal ist in seiner Abwesenheit ein Kommendes verborgen, das man nur durch ein Blatt, das nach dem letzten Frost zu Boden taumelt, erahnen kann.


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