20.220.423:1.731 Zum Archiv

Es war der erste Winter, den er ohne Winterstiefeln durchlebte. Kein Schnee. Kälte nur nachts. Keine langen Spaziergänge durch frisch gefallene Kristalle. Keine Neumondnächte bei klirrender Kälte, in denen Sterne so klar und hell wie in keinen anderen Nächten leuchteten.

Der Winter war ihm von jeher zuwider gewesen. Zu kalt. Rau. Lichtlos. Doch nun war es endlich Sommer geworden. Ein April wie ein Mai. Sonne an jedem einzelnen Tag. Eine leichte Hitze, nicht träge wie im Sommer, sondern heiter wie im Juni. Die Luft trocken und warm wie an einem südwindigen Frühsommertag.


20.220.418:1.113 Zum Archiv

Es ist an der Zeit mich zu erinnern, bevor meine Erinnerung an diejenigen verblasst, die ich einst gekannt haben werde. Und meine Zeit mich auffordert, Stellung zu beziehen zum Leben derjenigen, die sich noch vor meinem Ableben ausgelebt haben werden. Was ich als notwendig erachte, ist, mich nicht nur mit den Verstorbenen, denen ich physisch begegnet bin, zu beschäftigen, denn es wäre eine Lüge zu behaupten, dass nur sie mich in meinem Handeln und meinen Fehlentscheidungen beeinflusst hätten. Manche, die ich nie kennengelernt habe, die nicht einmal im Zeithorizont meines Lebens gelebt hatten, haben mich unmittelbarer beeinflusst, als es Vater und Mutter je gekonnt hätten.

Das, was ich bin oder sein wollte und letztlich geworden bin, blieb mir immer fremd und unheimlich, denn es war früh in mich eingeströmt, zu einem Zeitpunkt als ich noch keine Kenntnis von dem hatte, was ich einmal Ich nennen würde. In diesem Fremden hausen meine Ahnen, die bekannten und unbekannten, bilden den Urschlamm, aus dem ich einst hervorgekrochen bin und in den ich eines Tages zurückkehren werde, ohne ihr Zutun und ohne ihre Beteilgung. Doch das, was an Zivilisation in mir noch übrig ist, nach all den Jahrzehnten des Kamnpfes gegen die Herkunft, habe ich denen zu verdanken, die mir auf meinen zahllosen Wegen, Umwegen und Abwegen begegnet sind. Manche erfreuen sich noch einer gewissen Lebendigkeit, manche haben sich längst davon gestohlen, sind nur noch ein Stück Knochen in einem Stück Erde oder ein Hauch von Asche. Und von manchen kann ich nicht sagen, ob sie noch lebendig sind oder bereits aus dem Licht ins Dunkel abgetreten sind.

Kurz gesagt, erinnern will ich mich auch an diejenigen, die mich geprägt haben, mir als Wegweiser dienten, mir ein tieferes Verständnis von dem verschafft haben, wer ich bin und sein hätte können, wenn ich ein wenig mutiger gewesen wäre. Hat das Sterben derer erst begonnen, die mich umgeben - Familie, Weggefährten und Freunde - werde ich auf Grund ihrer außerordentlichen Zahl, keine Zeit mehr finden, mich an diejenigen zu erinnern, die bereits heute in mir zu verblassen drohen.


20.220.414:0.710 Zum Archiv

Für mich war die Natur immer schon ein Zufluchtsort, vielleicht sogar ein Sehnsuchtsort. Bereits in meinem zweiten Gedicht, steht der Herbst im Mittelpunkt, der Nebel, damals noch als Bedrohung, der Herbst als Ort des Schreckens. Später erst wird der Herbst der Ort der Melancholie, der Ort der Farben und des bevorstehnden Winters, eine Zeit, in der in den letzten verbliebenen Blättern der Nebel nistet.

Jener Nebel, der in meiner Kindheit der Nebel der Weinberge war, der sich zwischen den Reben und Ackerfurchen herumtrieb und später dann auf den langen Heimwegen durch die Stadt, das Licht seltsam verzauberte. Keine Spur von Sentimentalität, sondern eine Ausgeburt der Stille. Der Nebel, der die Geräusche dämpft, den Lärm der Welt verschluckt und nachts, den durch die Lichter der Großtstadt Wandernden, den Einsamen Trost spendet, weil er nicht nur ihn unsichtbar macht, sondern alle und alles mit ihm.

Und in der Mitte meines Lebens, als ich die Stadt verließ, aufs Land verzog, in meine Familie einkehrte, da war der Nebel für ein Jahrzehnt verschwunden, hatte sich der Herbst verflüchtigt, gab es nur noch Winter und Schnee, Sommer und das Wogen des Schilfs, bis die letzten Jahre anbrachen und der Nebel meiner Kindheit, sich über die Wiesen breitete, in einen Wegweiser wandelte, bis zum heutigen Tage, nicht mehr Angst und Schrecken verbreitet in meiner Kinderseele, sondern Glück verspricht, Ruhe und Stille über den Gipfeln.

Lange habe ich gebraucht, um zu verstehen, dass der Nebel nicht mein Feind ist, sondern mein Freund, mein Verbündeter, mein Vertrauter.


20.220.412:2.039 Zum Archiv

Die Natur ein Freund, in die der Schmerz flüchtet, dort in den Kronen der Bäume nistet, wie ein Käfer gefangen im Netz der Spinne - zu allen Zeiten.


20.220.409:0.909 Zum Archiv

In Günther Anders Fabel Blick vom Turm durchlebt Frau Glü eine traumatische Erfahrung. Sie steht auf einem Turm und auf der Straße sieht sie wie ihr Sohn von einem Lastwagen überfahren wird, gleichsam ausgelöscht wird, wie die Flamme einer Kerze verlischt. Sie reagiert auf die an sie herangetragene moralische Verpflichtung hinunter zu gehen, mit dem Satz: Ich geh nicht hinunter! Unten wäre ich verzweifelt!

Diese Verzweiflung ist es, die viele von uns abhält, uns den Tragödien unserer Zeit zu stellen, denn würden wir hinunter gehen, unsere Türme verlassen, die manchmal elfenbeinern, manchmal aber auch nur Trutzburgen sind, dann müssten wir Stellung beziehen, wir müssten Handlungen setzen, manchmal auch nach Schuldigen suchen. Und was wenn wir die Schuldigen ausgemacht hätten, wären wir in der Lage so zu reagieren, wie es frühere Generationen taten. Wären wir mutig genug, sie zur Rechenschaft zu ziehen?

Wenn wir, wie Frau Glü, auf unseren Türmen bleiben, dann müssen wir nicht handeln, können unbefleckt und rein bleiben. Moralisch gut kann nur der sein, der in seinem Turm verweilt, moralisch gerecht kann nur der sein, der nicht handelt und moralisch überlegen kann nur der sein, der von oben herab spricht.


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