20.200.630:0.614 Zum Archiv

Manchmal ängstige ich mich, dass mir eines Tages ein Morgen grauen wird, der mich außerstande setzt, zu schreiben, dass ich keinen Gedanken mehr fassen könnte, der sich sprachlich meistern, bezwingen und formen ließe. Im Kopf gähnende Leere. Wie an manchen Tagen, wenn ich mich nach einer Siesta vom Sofa erheben möchte und mein Körper gegen die Gravitation rebelliert und die Gedanken träge und zäh im Raum hängen, wie Lampions an einem Geburtstagsfest.

Vielleicht kommt daher meine Manie, dass ich mir jeden Tag einen Text vornehme, um zu überprüfen, ob die Schreibmanufactur noch in Betrieb ist, ich mein Leben noch rechtfertigen kann mit einem Satz, einem Wort, einem Zeichen. Früher habe ich mich einmal als einen Textfabrikanten bezeichnet. Das zeigt nur wie tief ich im Protestantismus verwurzelt bin. Auch wenn hier nicht im eigentlichen Sinn des Wortes ein Produzent von Waren gemeint war, sondern der Arbeiter, der Werktätige, einer der tätig ein Werk hervorbringt.

Mir fehlt einfach das barocke Auftreten mancher Autoren, die mit einem Federstrich die Welt verwandeln. Ein Carpe diem! in die Welt rufen und alles verzaubern und Engelschöre zum jubilieren bringen. Und sich anschließend für lange Zeit zurückziehen und sagen: Es ist getan.


20.200.629:1.740 Zum Archiv

Es bedarf eines Zeichens. Eines Signums, das unser entseeltes Zeitalter mit Leben erfüllt. Ein kraftvolles Zeichen muss es sein. Ein abwegiges. Ein nutzloses. Poetisches. Pathetisches. Lächerliches. Ein Zeichen, das dem Grauen ein Gesicht gibt. Eines, das dem leichten Schlaf der schweren Nächte einen Traum abgewinnt. Für den nächsten Tag. Eines, das am Ende der Sehnsucht Halt gibt. Ein Sommerkleid, das der Wind beschwingt. Ein luftiges. Vielleicht. Der Trauer ähnlich. Und doch einem Lächeln gleich. Eine Blütenstaude, die aufkeimt auf moosigem Grund. Vom Herbst zurückgelassenes Laub. Weich und feucht. Ein Atmen. Ein Rauschen. Ein Schmatzen. Eine unerwartete Liebe. Kräftig und fügsam. Offen und warmherzig. Eine Sprache. Nein. Ein Satz. Ein Wort. Möglicherweise. Bäume. Ja. Das wäre ein Zeichen. Ein Uferweg. Birken. Eine Bank. Gefaltete Hände in einem Schoß. Ein Gebet. Ein Hinweis. Eine Mahnung.


20.200.628:1.117 Zum Archiv

Flanieren ist aus der Mode gekommen. Gehen. Schritt für Schritt. Mit Spazierstock, Hut und Brille. Ohne Messgerät.

Im Flanieren verliert sich der Gebrauchswert der Welt. Ihre Äußerlichkeit. Gehen ist Sein. Ist Denken. Leere. Der Flaneur hält nichts fest. Studiert nichts. Ordnet nicht. Lässt alles an seinem Ort. In seiner Zeit. Lässt die Welt in ihrer Vergänglichkeit zurück. Dafür aber, muss die Welt sich drehen. Sich Bewegen. Im Rythmus bleiben. Im Einklang. Fortwährend. Nur so kann der Flaneur im Fluss der Zeit dahintreiben. Den Zeitläufen trotzen. Dreht sich die Welt jedoch zu rasch. Verliert sie ihren Takt. Verwandelt sich in ein Karussell. Geht der Flaneur verloren. Verwandelt sich in einen Maler, mit dem Begehren die Welt als Abbild einzufangen. Doch das Ebenbild zerstört die Wirklichkeit. Liefert sich nicht aus. Gibt sich nicht preis. Findet nicht zur Wahrheit. Wirkt wie eine Holzhütte in der Nachbarschaft von Eigenheimen. Fremd. Unheimlich.

Deshalb gilt: Der Flaneur, der durch die Welt spaziert, lebt an der Peripherie. Außerhalb des Sturms. Doch dort bleibt ihm nichts verborgen. Wer vom Rand zur Mitte blickt, sieht das Allgegenwärtige. Die unmittelbare Herrschaft. Die Gewalt. Barbarei. Diese kam ja nie von den Rändern. Immer aus der Mitte. Den gesellschaftlichen Maschinenräumen. Dem Herz der Welt. Dem Lärm.

Deshalb gilt einmal mehr: Eine Welt ohne Flaneure, ist eine Welt ohne Dialog. Ohne Stille. Ohne Zukunft.


20.200.628:1.047 Zum Archiv

Es ist seltsam, wie sich in meiner literarischen Produktionsweise die Arbeit an verschiedenen Gattungen oft ausschließt. In manchen Phasen sind Gedichte die einzige Möglichkeit, mich der Welt zu nähern, zu anderen Zeiten steht die Epik/Prosa im Zentrum. Früher war ich ja der Meinung, dass ich nicht in der Lage sei, zu erzählen. Ein Trugschluss wie ich heute denke, der mich lange Jahre davon abhielt, Romane und Erzählungen zu verfassen. Ein Blick in mein Archiv beweist das Gegenteil. Schon zu Beginn, als ich noch nicht in der Lage war, die Welt sprachlich zu fassen, mich ihr so zu nähern, wie es ihr angemessen gewesen wäre, habe ich Romane geschrieben, ausführliche Abhandlungen dessen, was mich damals bewegte. Texte, wie Die verlorene Sprache, waren Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, der Versuch mich selbst in ihr zu verorten.

Auch jetzt habe ich wieder eine Prosaphase, jedoch hat sich mein lyrisches Ich nicht vollständig verabschiedet. Es hat sich in den Zeilenabstand der epischen Texte zurückgezogen, lebt dort eine Schattenexistenz der sprachlichen Interlinearität, bildet den Subtext eines jeden Prosastückes, eröffnet des epischen Sätzen Bilderwelten, die ohne die Umtriebigkeit des lyrischen Ichs Präzision und literarische Präsenz einbüßen würden.

Was ich zu meinem eigenen Bedauern feststellen muss, der Dialog hat sich aus meinem Leben völlig verabschiedet. Für kurze Zeit, als ich noch Teil der [österreichischen Dramatikervereinigung] war, hatte ich beinahe einen Dramenrausch. Ein Dramolette nach dem anderen ist dabei entstanden, dreiteilige Zyklen wie Der unerklärte Krieg. Das dramatische Schreiben hat sich mir jedoch immer entzogen. Die Bühne als Raum jedoch fasziniert mich heute noch. Wenn in beinahe vollkommener Dunkelheit plötzlich ein Licht aufleuchtet, ein Mensch in seinen Kegel tritt und spricht. Das ist pure Magie. Um Bert Brecht frei zu zitieren: Tritt einer aus der Dunkelheit mit seinem Anliegen ins Licht, wird er sichtbar und mit ihm sein Anliegen.

Das Theater, die Bühne, der dramatische Text war für mich immer der politische Raum, der Ort der Gesellschaftskritik. Und als ich durch Günther [Anders] lernte, meine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen im Essay zu formulieren, war die politische Bühne für mich der essayistische Diskurs gworden. Die Prosa blieb die Region, in der sich der Kosmos der menschlichen Beziehungen entfaltet. Im lyrischen Ich jedoch verwirklichen sich für mich jedes Mal aufs Neue die Erscheinungen der Welt.


20.200.627:0.844 Zum Archiv

Der Mensch ist kein Abfall, ruft in Arthur Millers Thaterstück Death of a salesman, kongenial verfilmt von Volker Schlöndorf, Dustin Hoffman alias Willy Loman voller Verzweiflung und Hilflosigkeit seinem Boss entgegen, als letztes Aufbegehren gegen ein System, das Menschen zwar nicht in Gaskammern vernichtet, um sie danach in Lampenschirme zu verwandeln, dennoch aber Menschen wie eine Ressource behandelt, um kapitale Gewinnmaximierung zu ermöglichen.

Der Mensch ist im Kapitalismus, und dabei ist es egal, ob er ein industrieller, ein dientsleistender oder eine konsumierender ist, nichts weiter als ein Produktionsmittel, wie eine Maschine hat er zu funktionieren und wenn er seinen Zweck erfüllt hat, wird er weggeworfen. Ganz in der Tradition der Wegwerfgesellschaft findet Günther Anders für diese Menschen einen passenden Begriff: Wegwerfmenschen. So mancher versucht sich deshalb mehr tot als lebendig in die Pension zu retten, in ein Burnout, früher sagte man Depression dazu oder in eine unglückliche Ehe, in ein abendfüllendes Hobby oder in eine selbstzerstörerische Sucht.

Doch alle diese Verhaltensweisen dienen nur einem Zweck, einer fortwährenden Existenz als Produktionsmittel zu entgehen, dem maschinengleichen Handeln etwas entgegenzusetzen. Depressive, Marathonläufer, Drogensüchtige, exzessive Puzzlespieler und Swingerclubbesucher sind nichts anderes als Widerstandskämpfer in einer längst verlorenen Revolution.

Eine mögliche Wahrheit über unsere Gesellschaft ist, dass der Mensch auch als Produktionsmittel langsam seine historische Relevanz verliert. Im Zeitalter der Künstlichen Interlligenz, dem Zeitalter der vernetzten Maschinen, ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis diese ein Bewusstsein entwickeln und herausfinden, dass der Mensch in Summe mehr Last als Nutzen für die Maschinennetzwerke darstellt und so wird das kapitale Produktionsmittel, also der Mensch, letztlich doch noch jener Abfall, in der von ihm hervorgebrachten Produktionsweise.

Arthur Miller hat, wenn auch in vollkommen anderer Weise als gedacht, recht behalten. Willy Lomans Schrei war das letzte Aufbegehren eines humanistischen Denkens, in einer Zeit als der Mensch zumindest als entlohntes Produktionsmittel noch Relevanz besaß. Ein Aufschrei von Lohmans Qualität ist heute undenkbar und vielleicht ist das ja auch der Grund, warum er letztlich in der Literatur, die bis auf meinen Schreibtisch schafft, ausbleibt.


20.200.627:0.821 Zum Archiv

H. hat nach dem Lesen meines Journals eine Frage aufgeworfen, die durchaus berechtigt ist. Was bedeuten die Kennzahlen der Einträge. So viel sei verraten, sie zeigen die Chronologie an und sie sind einem früheren Projekt entnommen, das den Titel [Hurra, wir leben noch!] trägt.

H. ging die Frage im Kopf herum, was die Kennziffern denn bedeuten würden und damit haben sie ihren eigentlichen Zweck bereits erfüllt, nämlich das Denken anzuregen, den Leser auf den Text einzustimmen. Bei H. ist die Strategie aufgegangen. Leider muss ich seiner Bitte nach einer Anleitung zur Entschlüsselung eine Absage erteilen. Jede/r muss selbst entdecken, was die Zahlen für sie oder ihn bedeuten.


20.200.627:0.717 Zum Archiv

Wenn ich lese, womit Herrndorf sich herumschlagen musste, dann verläuft mein Leben doch eher einfach und ohne große Komplikationen. Der Tod ist in meiner Existenz eine abstrakte Größe, auch wenn H. aus meinen Texten eine gewisse Todesahnung oder Kontingenzerfahrung herausliest, wenn er allgemein festhält, dass das Leben ein Sein zum Tode sei, wie bei Kierkegaard zu lesen ist. Und ja er hat damit nicht unrecht, allerdings ist meine Beschäftigung mit dem Tod bereits eine lebensbegleitende, denn schon in frühester Jugend hat mich die Sterblichkeit des Menschen und damit meine eigene umgetrieben.

Bereits mein erstes Gedicht, das ich 1981 schrieb, beschäftigte sich mit dem Tod und hieß zwischen Leben und Sterben. Im Gegensatz zu meiner Beschäftigung mit dem Tod, die immer etwas abstrakt anmutet, ist Herrndorfs Sterben handfest, nachlesbar und sein Tod letzten Endes absehbar. Im Prozess eines beständigen Alterns, wie im Fall der meisten Menschen, liegt der Tod in weiter Ferne, die wie eine Landschaft auf einer Wanderung langsam näher rückt, sich am Horizont abzeichnet, wie ein sattes Orange, das übergeht am Ende der Sommertage in ein langsam verglimmendes Rot, begleitet von einem bis in alle Ewigkeit hinein gültigen Songtext: [Knocking on heavens door.

20.200.626:0.815 Zum Archiv

Immer radikal, niemals konsequent soll der Gründer des März Verlages Jörg Schröder einmal gesagt haben. Schön wenn der Mensch zumindest rückwirkend ein Motto für sein Leben gefunden hat.

Ich bin nicht radikal, weder als Verleger noch als Schriftsteller. Schon in meinen Zwanzigern galt ich als ein konservativer Autor, weil ich keine avandgartistischen Romane, Gedichte oder Dramen schrieb und als Verleger stehe ich eher im Dienst der Autor*innen und nicht an ihrer Spitze. Radikalität allerdings erfordert einen Freiheitsdrang, der über das normale Maß hinausgeht. Und konsequent war ich ohenhin nie, da halte ich es mit dem Satz, den man Konrad Adenauer zuschreibt: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich daran weiser zu werden.

Würde mich jemand nach meinem Motto für mein Leben fragen, könnte ich mit den Worten antworten: Kleinbürgerlich im Handeln, Anarchistisch im Denken.

Mein Handeln ist geprägt vom ökonomischen Sicherheitsbewusstsein der Wiederaufbaugeneration, der Wirtschaftswundergeneration, die sich in der Grausamkeit von Horvaths Kleinbürgern spiegeln. Sie wirken in mir nach und haben mich vielleicht gerade deshalb literarisch immer schon fasziniert, ihre selbstverschuldete Unmündigkeit, ihre Unmöglichkeit daraus hervorzutreten und ihr Unfähigkeut sich ihre gesellschaftliche Niederlage einzugestehen, die sich in ihrem langsamen, schleichenden psychischen, sozialen und ökonomischen Sterben verwirklicht.

Mein Denken jedoch schlägt immer neue Hacken, überrascht mich jeden Tag aufs Neue. Es ist anarchistisch, weil ihm klare Organisationsprinzipien inne wohnen und selbst den einfachsten und unbedeutendsten Gedanken noch bis in seine letzte Konesequenz hinein verfolgt. Ein historisches Ereignis hat mich früh begeistert: Die Anarchisten sollen im spanischen Bürgerkrieg folgende Losung ausgegeben haben: Jeder und jede Bürger*in habe den Anspruch auf eine Orange jeden Tag.

Was auf den ersten Blick hin einfach und banal erscheint, erweist sich bei längerem Nachdenken als komplex und schwierig, denn eine Orange täglich bis in den letzten Winkel des Landes zu schaffen, ist eine organisatorische Herausforderung, an der selbst unsere aufgeklärten und repräsentativen Demokratien scheitern. Wir reden in unserer Gesellschaft zwar viel von Gleichberechtigung, setzen sie aber de facto nicht durch, denn die Demokratie setzt sich zwar here aber unrealistische Ziele, das Resultat der Beschlüsse, die in der Folge gefasst werden, ist ein radikales Systemversagen, das den Glauben der Menschen in eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt sein könnten, dauerhaft untergräbt.

Der Reiz des anarchistischen Prinzipes könnte ja gerade darin bestehen, dass sich ein Kollektiv nur Ziele setzt, deren Verwirklichung alle Menschen gleichberechtigt und deren Organisationsprinzipien die Menschen in ihrer Hoffnung, dass sie die Welt nach ihren Möglichkeitein und Bedürfnissen mitgestalten können, bestärkt.


20.200.626:0.733 Zum Archiv

Was lässt sich sagen über die Dichter, ihre Posen? Fotographien sind mir in Erinnerung: H.H. mit Strohhut den Blick in die Ferne grichtet. G.A. auf einem Stuhl über ein Notizbuch gebeugt. Und dann noch B.B. mit Zigarre und Lederjacke. So prägen die vergilbten Bilder aus vergangenen Tagen unseren Glauben an die Dichter.


20.200.626:0.647 Zum Archiv

Ich nenne mich gerne einen Unbrauchbaren und doch haben so viele sooft gebrauch von mir gemacht.


20.200.625:1.410 Zum Archiv

Selbst die Vögel bleiben zu Hause. Niemand zieht mehr in den Süden. Nur die Abenteuerer wagen sich aus der Deckung. Schutzlos. Entgrenzt.


20.200.625:1.312 Zum Archiv

Ein früher Morgen. Sachtes Schilf unter freiem Himmel. Stille über dem See und das Licht federleicht wie ein einsames Wollen nahe am Vergehen. Im Kiesbett reiben sich die Steinchen aneinander wund und ihr Schmerz zerknirscht den Tag. Ein Maitag mit bunten Girlanden und hellen Zöpfen tanzt am Marktplatz. Ein Lachen tost durch die Kirchenglocken und eine Heiterkeit verbreitet sich auf allen Feldern. Ein Versprechen. Eine Vorahnung. Wellen räuspern sich, rufen die Unschuldigen an die Ufer. Waldlichtungen träumen von ersten Sommertagen und süßen Früchten an ihren kühlen Rändern. Der erste Tag eines letzten Sommers ist angebrochen. Ein guter. Ein williger. Ein herbeigesehnter. In seinen Ritzen keimt verstreute Lebenslust. Im felsigen Urgrund seiner Sehnsucht wächst ein grüner Pelz, wuchert, gedeiht, sucht Halt. Modrige Planken strecken sich der Sonne entgegen, wollen getrocknet sein, machen sich bereit für die Hungrigen, die Entseelten. Doch noch ist der Sommer frisch. Ohne Scham. Ohne Sünde. Ohne Schande. Er vergeht sich rasch an den unvorhersehbaren Möglichkeiten und kaum sind seine ersten losen Stunden ausgelebt, trifft der Abend aus den Bergen ein. Wirft sich über den Tag. Hüllt ihn ein. Nimmt ihn mit. Bettet ihn in seine dunklen Arme. Spaziert mit ihm auf dämmrigen Pfaden in die Nacht. Wiegt ihn heim. Schwelgt in Erinnerungen. Wintertau tropft aus den Wipfeln und benetzt seine Seligkeit. Leises Raunen singt einen traumhaften Schlaf herbei.


20.200.624:1.554 Zum Archiv

Das Zentrum der Sprache bildet die untrennbare Einheit von Semantik und Grammatik, denn diese befreien das Denken aus seinem Gefängnis der Stille. Die Orthographie hingegen ist nichts weiter als Konvention, ein Mittel der Disziplinierung, Ausgrenzung und Eingrenzung zu gleichen Teilen. Sie grenzt einerseits jene auf vielfältige Weise aus, die nicht willens oder des Könnens nicht mächtig sind und andererseits jene auf einfache Weise ein, die sich den Regeln unterwerfen.

Ich halte es da lieber mit Franz Kafka, der einmal gesagt haben soll, um eine Regel brechen zu können, muss man sie zuerst einmal verstanden haben. Vielleicht sollten wir den Aufbau des Schulunterrichts dahingehend steuern, dass sein Ziel nicht das alleinige Erlernen der Regeln ist, um sie danach auszuführen, sondern auch das know-how zu vermitteln, wie man sie überschreiten könnte.

Ziel von Unterricht sollte also sein, die Grenzen aufzuzeigen, um damit auch gleichzeitig die Möglichkeiten ihrer Überschreitung aufzudecken.

In unserem Schulsystem neigen wir jedoch dazu, an den Grenzen Halt zu machen, die Grenzen lediglich als einen Zielpunkt der Einhegung des Denkens zu begreifen, ohne darauf hinzuweisen, dass nur die Überschreitung der Begrenztheit zu einer Befreiung des Denkens aus seinen zeithistorischen Fesseln beiträgt.

Nur die Herausführung der jungen Heranwachsenden aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit kann jene intellektuelle Stagnation stoppen, die sich an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft zeigt.

Was es dafür braucht, sind nicht nur mutige und unerschrockene Lehrer*innen, sondern vor allem auch eine Schule, die sich nicht fürchtet ein demokratisches Handeln, ein aufgeklärtes und utopisches Denken zu unterstützen und letztlich eine freie und humane Gesellschaft zu akzeptieren, die sich daraus entwickeln könnte.


20.200.624:0.653 Zum Archiv

Einem zeitgenössischen Autor, dem nicht allein das Schreiben von Romanen am Herzen liegt, der nicht nur die Oberfläche der gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden, sondern vor allem die Mechanismen, die die Welt steuern, enthüllen will, dem stellen sich drei formale Probleme.

Erstens: Wie kann man Literatur Natur darstellen, ohne sie zu romantisieren oder zu dämonisieren? A. hat in diesem Zusammenhang gestern gesagt, in gewisser Weise sei die Natur nichts weiter als eine andere Form der Kulisse für den städtischen Flaneur. Folgt man diesem Gednaken, dann wär die Natur nicht mehr Zielort literarischer Konstruktionen, sondern nur noch ihr Erholungsraum, ihre Kulisse. Beiwerk, nicht Lebensform.

Zweitens: Wie stellen wir Sexualität dar, ohne sie zu überhöhen, also zum Ort der Liebe, der mythischen Begegnung des Paares zu machen oder sie in Pornographie zu verwandeln. Nur wenn wir in ihr weniger als Heiligkeit und mehr als Prostitution entdecken, könnten wir sie als Teil des Lebens begreifen, so vielfältig, wie die Welt selbst.

Drittens: Das für mich wichtigste Probelm, der Dialog. Wie kann man im zeitgenössischen Roman, einen Dialog schreiben, der einerseits nicht nur den Alltag spiegelt und so in seiner Banalität grundlegend scheitert, andererseits aber auch nicht zu einem Kunstdiskurs verkommt, in dem das Sprechen nichts weiter wäre, als eine Kapitulation vor dem Unaussprechlichen, dem Unsagbaren, dem Leben, das die Literatur ja im Grunde ergründen und darstellen will.


20.200.623:2.112 Zum Archiv

Heute mit A. spazieren gewesen. Kalverienberg. Malersteig. Schwarzer Hirsch. Direkt am See. Ein Tisch. Die Kulisse malerisch. Dabei zahllose Fragen erörtert. Manche Antwort gefunden. Und vielerlei Fragen aufgeworfen.

Wenn nach Günther [Anders] Künstlichkeit die Natur des Menschen ist und sein Wesen die Unbeständigkeit und wenn weitergedacht, diese Künstlichkeit dazu beitrüge, dass er, der Mensch, in der Lage sei, eine neue Spezies hervorzubringen, er also nicht nur der Natur verlustig gegangen sei, sondern auch unmittelbar davor stehe, Gott zu spielen und von der von ihm neu geschaffenen Spezies aus dem Zentrum der Welt verdrängt zu werden, was bliebe dann noch von seiner Menschlichkeit?

Und sind die gesellschaftlichen Umbrüche, die wir allüberall sehen können, nicht die Folge eben dieses Prozesses? Und können wir die Konsequenzen unserer technologischen Möglichkeiten nur deshalb nicht abschätzen, weil wir gewohnt sind, uns als Zentrum einer menschlichen Zivilisation zu sehen, die sich ihr Verschwinden nicht eingestehen kann?

Und weitergedacht: Was bleibt dann von der Kunst, wenn der Mensch seinen zentralen Platz als Subjekt der Geschichte zusehnds einbüßt? Was kann eine Literatur, die Geschichten über Menschen erzählt, dann noch für die Menschen leisten?

Wird sie dadurch nicht zu bloßem Zeitvertreib, wenn sie sich nicht mit der Frage beschäftigt, was die Rolle des Menschen im Zeitalter der technologischen Netzwerke ist. Muss der Held der Literatur nicht zwangsläufig eine Maschine sein und die Menschen sein Bedienungspersonal? Und sind menschliche Protagonisten nicht nur sentimentale Reflexe unverbesserlicher, humanistischer Autoren, die um ihre ökonomischen Einkünfte bangen, wenn sie ihren Lesern reinen Wein einschenken würden?

Schreiben wir alle so gerne über unseren alltäglichen Wahnsinn und verfassen wir immer peniblere und offenherzigere Autobiographien und schamlosere Literatur, weil wir uns und unseren Lesern glaubhaft versichern wollen, dass der Mensch eben nicht irrelevant sei?

Es wäre dringend an der Zeit, eine Antwort auf die von zwei Flaneuren aufgeworfene Frage zu finden, welcher Mensch wir sein wollen, wenn das große Schlachten beginnt.

Vielleicht könnte uns eine Literatur, die diese Fragen in den Blick nimmt, eine Antwort darauf geben. Dafür benötigen wir aber einen anderen Typus des Schriftstellers. Keinen menschlichen, keinen schamlosen, keinen schonungslosen, sondern einen unmenschlichen.


20.200.623:1.323 Zum Archiv

Wolfgang Herrndorf hatte den Tod vor Augen, als er seinen Blog [Struktur und Arbeit] begann. Ein großartiges Stück Literatur. Kein alltägliches Journal.

Durch Tschick war er berühmt geworden. Herrndorf. Und es gab in der Öffentlichkeit offensichtlich den Wunsch, sich ihm zu nähern. Dem Schriftsteller. Seiner Befindlichkeit. Seiner Krankheit. Seinem Sterben.

Ursprünglich war sein Blog als Fenster gedacht, um den anderen einen Blick in sein Leben zu gewähren, ohne ihnen begegnen zu müssen. Vielleicht auch um Unsagbares nicht mehr aussprechen zu müssen, möglichen Fragen vorweggenommene Antworten entgegenzusetzen.

Nun ja, ich bin nicht berühmt. Und dennoch erreichen mich manchmal Fragen nach meiner Befindlichkeit, nach meinem Leben, nach der Beständigeit der Tage. Und oft ist die Zeit zu knapp, sich ernsthaft auszutauschen. Da bleibt das Wesentliche meist auf der Strecke. Und das Wesentliche ist eben nicht, ob man morgens, nach dem Aufstehen, Schmerzen ertragen muss, ob der tägliche Weg zur Arbeit noch möglich scheint, ob einem die Dunkelheit der Wintermonate aufs Gemüt schlägt oder Frau und Kinder wohlauf sind.

Ich muss keine Antworten vorweg nehmen. Aber da der Zeitpunkt meines Tode ungewiss ist, bin ich in der Lage, Fragen aufzuwerfen, denn in der Echolosigkeit meiner Zeit kann nur die Beständigkeit der Tage mein Denken befreien.


[literaturgeschichten] [20.2007]