20.210.630:2.030 Zum Archiv

Wir alle wissen: Wissen ist Macht. Den Menschen den Zugang zu jener Institution - der Universität - zu verweigern, in der das Wissen nicht nur gehortet und aufbewahrt, sondern auch gelehrt wird, bedeutet sie von der bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen, sie vom wichtigsten Gut abzuschneiden, das neben der Nahrung unbegrenzt in einer Gesellschaft zur Verfügung steht, und sie der Möglichkeit zu berauben, ein tieferes Verständnis für die Funktionsweise und den Bauplan der Welt zu entwickeln. Es bedeutet, sie letztlich nicht nur ihres Zugangs zu den Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft zu berauben, sondern ihnen auch zu verunmöglichen, das Potential ihrer Machtmöglichkeiten auszuschöpfen, diese Herrschaftsstrukturen zu hinterfragen und ihre Wandlung herbeizuführen.

Ein derartiges Ausschlussverfahren kann desalab ja nur einem Zweck dienen, Bildungseliten sollen unter sich bleiben, sollen sich mit dem koginitiven Pöbel und seinen Meinungen nicht auseinandersetzen, damit sie sich nicht mit Fragen beschäftigen müssen, die ihren sozialen Erfahrungshorizont überschreiten. Tragisch daran ist ja nicht, dass die Politik sich dazu entschlossen hat, den Zugang zur tertiären und damit universitären Bildung zu erschweren, sondern dass unsere universitären Bildungseliten diesen Vorgang mittragen, indem sie sich einerseits nicht ausreichend dagegen wehren und andererseits selbst davon überzeugt zu sein scheinen, dass nicht jeder und jede, der oder die hören und lesen kann, Anspruch auf Besuch der durch die Allgemeinheit finanzierten Bildungseinrichtungen haben soll.


20.210.629:1.105 Zum Archiv

Nichts duftet wie frisch geschnittene Halme an einem lauen Juniabend. Und an diesen Abenden wandere ich beinahe unbehelligt von den Landfremden durch die Welt, suche das Unbrauchbare in den Felsritzen, einen zurückgelassenen Blick über den See und das einzigartige, unverwechselbare Grün, das den Frühling vom Winter scheidet.


20.210.626:0.900 Zum Archiv

Ich habe Angst vor der Banalität meines eigenen Denkens. Die Bildgewalt meines Nachdenkens berauscht meine dunkelsten Stunden, doch wenn es als Schrift am Tage hervortritt, dann stehe ich auf unsicherem Gelände, dann befällt mich ein tiefer Zweifel, ob das Gedachte, wenn es zur Sprache kommt, in seiner Trivialität nicht doch zur Lachnummer verkommt. Ein Denken, das seinen Platz in der Welt sucht, wo noch niemand gewesen ist. Ein Denken, das in der Suche nach einer intellektuellen Heimat übersieht, dass seine geistige Heimatlosigkeit nur die Folge von fehlender Information und Gewissheit über den Zustand der Welt ist.

Meine Angst besteht nicht darin, etwas zu formulieren, was falsch sein könnte. Der Irrtum ist die Grundlage aller Wissenschaften, sondern etwas zu behaupten, was in seiner Vielgestaltigkeit längst die Welt durchdrungen hat und ich der Einzige unter Tausenden bin, der keine Kunde davon erhalten hat. Meine Angst besteht nicht darin, mich lächerlich zu machen, damit habe ich reichlich akademische Erfahrung, sondern ein Denken ans Licht zu zerren, das sich bestfalls für einen Halbschatten eignet.

Meine eigentliche Angst besteht darin, dass meine Behauptungen der Welt nicht standhalten.


20.210.625:0.957 Zum Archiv

Vor einem Jahr habe ich dieses Journal, mit Blick auf Wolfgang Herrndorf begonnen. In einer Zeit, da die Welt aus den Fugen geraten zu sein schien. Eine Pandemie später, und sechs Jahre vor der Pensionierung, beschäftigt mich die Welt, die mir tagtäglich begegnet in einem Ausmaß, das es mir verunmöglicht, mit dem Schreiben aufzuhören. Dieses Journal ist ein Ventil, das Luft aus dem brodelnden Kessel ablässt, den ich wie einen Reflex noch Ich nenne, damit, wenn das mitstenographieren, von dem Tucholsky einmal sprach, nicht mehr reicht, weil das Sprechen der Menschen zum Plappern verkommen ist, ich trotzdem weiterleben kann, so als ginge mich meine Verzweiflung nichts an.


20.210.620:1.101 Zum Archiv

Manchmal, wenn der Alltag aussetzt, dann drängt das Denken ans Licht und dann will es aufgeschrieben werden, sich in Schrift verwandeln, sichtbar werden, um mit Foucault und Brecht zu sprechen: Das Denken muss aus seinem Schatten geholt werden. Doch dann merke ich, dass schon soviel gesagt, soviel geschrieben wurde über den Zustand der Welt. Viel Kluges über die cancel culture, über die Identität von Menschen und den Verlust der Menschlichkeit in der Maschinenzivilisation und gleichzeitig entstehen neue intellektuelle Universen wie der Wokeismus, von dem ich mir noch keinen Begriff machen kann, der sich mehr nach einem Kochutensil anhört als nach einer neuen Ideologie.

Manchmal, wenn der Alltag aussetzt, dann will ich eintauchen, in das, was ich Welt nenne, denn Welt ist für mich nicht das soziale und politische Biotop, das mich umgibt, sondern das Utopische, das noch nicht in Kraft Gesetzte, das Gesuchte nicht das Gesollte, sondern das Gewollte, um mit Günther Anders zu sprechen. Die Welt, wie sie ist, zwingt mich zum Handeln. Die Welt, wie sie sein könnte, zwingt mich zum Schreiben.

Manchmal, wenn der Alltag aussetzt, dann möchte ich der Gesellschaft meine Kündigung aussprechen, denn in ihr zu leben, ist nicht nur eine Untat, sondern auch eine Unmöglichkeit. Und das Unmenschliche in mir, wird durch mein Streben nach einem in der Welt-sein nicht ausgemerzt, sondern angestachelt. Und mit dem Unmenschlichen in mir ist es schwierig, ein gedeihliches Auskommen zu finden und da hilft kein ideologischer Grabenkampf für die gerechte Sache, da hilft kein anhaltender Widerstand und es hilft auch nicht Haltung zu zeigen, denn das Unmenschliche in mir lässt sich durch moralisch korrektes Handeln nicht in Menschlichkeit verwandeln. Was andere als menschlich bezeichnen, ist für mich Ausdruck einer bürgerlichen Moral, die aus dem humanistischen Erbe hervorgekrochen ist, das auf Ausbeutung und Vernichtung gegründet ist.

Mit diesem Wissen bleibt mir also nur die Flucht in den Anarchismus. Doch meine Kindheit und mein Leben sind nicht geschaffen für anarchisches Handeln. So bleibt mir nur, in meinem Denken das Anarchistische nicht zu leugnen und in meinem Schreiben das Utopische als Zeichen meines Scheiterns voranzutreiben. Das Gesollte dort zu befragen, wo es herrscht und das Gewollte zu privilegieren, wo es sich als Utopisches zeigt.


20.210.618:0.941 Zum Archiv

Wir sind, was wir haben.


20.210.616:2.022 Zum Archiv

Die Welt, wie sie ist, lässt mich am Erzählen verzweifeln. Immer wieder setze ich zu einer Geschichte an. Erste Sätze von Erzählungen und Romanen habe ich unzählige formuliert. Protagonist*innen geschaffen, die in den Wirrnissen alltäglicher Besonderheiten verloren gehen. Sie verlaufen sich im Labyrinth meiner Erzählstränge und irgendwann ufern ihre Geschichten aus, weil ihr Leben keinem Ziel mehr folgt, weil der Zweck des Daseins seinen Sinn verliert.

Erzählen kann ja nur ein Mensch, der ein menschliches Leben auf ein Vergangenes hin entwirft. Vielleicht erklärt das auch, warum der historische Roman derartig boomt. Geschichten über die Shoah, über unsere Großeltern, unsere Eltern, selbst unser eigenes erbärmliches Leben, liest sich im gegenwärtigen Erzählen wie ein längst vergangenes.

Das Erzählerische verweigert mir seine Stimme. Schon seit Jahren. Was ich noch zustande bringe, sind Handlungen, die die Welt spiegeln, aber außerhalb von ihr stattfinden. Wie in Kafkas Prozess. In diesem Roman taumelt Josef K. durch die Realität, als wäre sie ein Zerrbild, ein Spiegelkabinett, eine Geisterbahn. Und wie viele seiner Txte blieb es ein Fragment, eine Ansammlung von Textpassagen, die sein Freund Max Brod zu einem Ganzen montierte und für uns dieses wunderbare Ende gefunden hat, das ursprünglich vielleicht keines war, aber durch ihn in eines verwandelt wurde: Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. "Wie ein Hund!" sagte er, es war, als sollte die Sscham ihn überleben.

Hinter diesen Satz von Franz Kafka, und vielen anderen aus seinem Werk, will und kann ich als Erzähler formal und sprachlich nicht mehr zurück. Das ist das Tragische meines erzählerischen Wollens. Seit hundert Jahren stehen die Sätze Kafkas wie ein Fels in der Brandung zwischen seiner und unserer Literatur - wie jener erste Satz aus der Erzählung Der Bau: Ich habe den Bau eingerichtet und er ist wohlgelungen. Wo bei anderen die Erzählung bereits an ein Ende gekommen scheint, beginnen sie bei Kafka mit einem kategorischen Satz, der bereits ein Ende ausdrückt und doch nichts weiter ist als ein immerwährendes Beginnen.

Und jeder, der sich an den Schreibtisch setzt, sollte sich an diesem Satz messen, der einem in die Glieder fährt, in die Finger der Hand, einen zwingt, jedes geschriebene Wort mehrmals zu hinterfragen, ob es diesem einen Satz denn auch standhält. Und wenig, von dem, was zu notieren wäre, wenig Geschichte hält diesem Satz stand. Ein Satz, der die mörderische Banalität des Alltäglichen sichtbar macht.


20.210.615:0.717 Zum Archiv

Diskussion dreier Babyboomerinnen zur Matura. Alle drei waren der Meinung, sie müsse abgeschafft werden. Ich pflichtete ihnen bei, gab aber zu bedenken, dass dies wahrscheinlich noch ein zwei Generationen Diskurs benötigen werde, bis sich unsere Politik zu einem derartigen Schritt durchringen könnte. Endlich war im Maschinenraum der Bildung einmal Harmonie hergestellt, Übereinstimmung, ein geistiger Fortschritt erzielt. Doch leider konnten es die Boomerfrauen nicht gut sein lassen, mussten noch einmal nachsetzen, Sand ins Getriebe streuen, sodass der Motor ins Stocken kam. Die aufgeklärten, gutwilligen Boomerbürgerinnen meinten, dass an den Universitäten Aufnahmsprüfungen eingeführt werden sollten.

Die Argumentation meiner Kohortenkolleginnen war abenteuerlich, denn sie plädierten für eine Verengung des freien Zugangs zu Universitäten, weil sie nur Lernende für Studienplätze vorsehen wollten, die sich schon mit achtzehn oder neunzehn Jahren in der Lage sehen würden, ein Studium zu absolvieren. Als könnte man mit einer Aufnahmsprüfung feststellen, ob jemand für ein Studium geeignet ist oder nicht. Derartige Prüfungen begünstigen diejenigen, die im Besitz von viel Information sind, nicht jene, die vom Wissensdrang beseelt sind. Begünstigt sind jene, die Antworten auf Trivial-Pursuit-Fragen kennen, wie ihre eigene Westentasche. Und was ist mit all jenen werktätigen Menschen, Pensionist*innen, Müttern und Vätern, Arbeitslosen, die sich nach jahrelanger harter Arbeit nach ein wenig intellektuellem Zuspruch sehnen, sich weiterbilden, sich selbst Fragen beantworten und das durch ihre Steuergelder finanzierte Wissensuniversum dafür in Anspruch nehmen wollen. Die nicht Mediziner*innen, Rechtsanwält*innen oder Psycholog*innen werden wollen, also keine Berufsausbildung anstreben, sondern sich zum Beispiel für Geschichte, Politik, Philosophie, Kriminologie interessieren oder eine Sprache erlernen und erforschen wollen.

Ich bin empört. Jene Kohorten, die als erste von der sozialdemokratischen Öffnungspolitik der Bildungseinrichtungen profitierten, reden nun ihrer Abschottung das Wort. Da kann ich nur sagen, wir Babyboomer sind wirklich auf den Hund gekommen, denn wir verkennen die Tatsache, dass Universitäten keine Ausbildungsinstitutionen sind, sondern sie sollen idealer Weise die Gesamtheit des existierenden Wissens repräsentieren, es lehren und erforschen. Und jeder und jede, ohne Ansehen der Herkunft, des Bildungsstandes, der finanziellen Ausstattung, der politischen Einstellung muss Zugang zu dieser Gesamtheit des Wissens haben. Als einer der reichsten Industrienationen müssen wir es uns leisten, das Wissen der Welt allen zur Verfügung zu stellen.


20.210.613:2.032 Zum Archiv

Die deutsche Sprache ist männlich geprägt, vom Mann her gedacht. Ein Problem, sicherlich. Doch ich bin der Meinung, dass wir mit der Genderdebatte vom eigentlichen Problem ablenken. Wir übersehen dabei, dass es sich letztlich nicht um ein Genderproblem handelt, sondern um eine Machtfrage, die sich auch in der Genderfrage thematisiert, aber das grundlegendere Problem ist doch, wer herrscht.

Und ehrlich gesagt, ich will weder von Diversen, noch von Männern oder Frauen beherrscht und ausgebeutet werden. Wichtiger wäre doch, zu debattieren, wie wir für alle gleiche Voraussetzungen und Zugang zu Herrschaftsprozessen herstellen können. Für mich ist die Frage der Umverteilung von Macht wesentlich vorranginger, als die Frage wie schreiben wir ein Deutsch, dass in Bezug auf das Geschlecht neutral ist. Das kann ja jeder auf der individuellen Ebene lösen.

Aber die Frage, wer herrscht, kann ich nicht individuell lösen, dafür brauche ich kollektive Prozesse, ich brauche revolutionäre, anarchische Prozesse, Solidarität, Freundlichkeit, Umverteilung aller ökonomischen und sozialen Ressourcen. Und ich bin mir nicht sicher, ob alle weiblichen, männlichen und diversen Eliten einverstanden wären, auch jene am gemeinsamen gesellschaftlichen Kuchen partizipieren zu lassen, die bisher davon ausgeschlossen sind.

Selbst die genderneutralste Sprache, die alle sichtbar macht, kann nicht verhindern, dass Diverse Männer unterdrücken und ausbeuten, Frauen Diverse schlagen, Männer Diverse vergewaltigen, Diverse keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten. Eine genderneutrale Sprache verhindert weder Kriege, noch Hungersnöte noch Gewalt. Eine gendergerechte Sprache löst keines der ökonomischen und sozialpolitischen Probleme und kein Demokratiedefizit in unserem Land. Und ich weiß, wovon ich spreche, denn die Gendersprachreformen seit den achtziger Jahren haben zu keiner gerechteren Welt geführt, haben nicht verhindert, dass sich die Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten verringert hat. Es hat nur einen Effekt gehabt, dass sich nun Frauen vermehrt am Ausbeutungsprozess beteiligen können. Im nächsten Schritt soll den Diversen dieser Zugang zur Herrschaft ermöglicht werden. Wir sollten nicht fragen, welchem Geschlecht wir angehören, sondern wir sollten fragen: Wer wird von uns beherrscht?


20.210.612:1.437 Zum Archiv

Es gäbe zum gendergerechten Schreiben viel zu sagen, aber ich will mich nicht wiederholen. Hier nur ein paar Gedanken zum heftig umstrittenen Pronomen, das im Deutschen echte Probleme macht. Obwohl den meisten Menschen in diesem Land das gendergerechte Schreiben relativ bedeutungslos erscheint, im Verhältnis zu anderen Problemen, die ihren Alltag erschweren, ihnen ihr Auskommen einkommensmäßig zu sichern, beinahe verunmöglichen. Wir könnten doch ein Mal ein wenig innehalten und uns fragen, haben wir eine Lösung für dieses Problem.

Die Pronomen sie und er bezeichnen das biologische Geschlecht von Männern und Frauen. Das es stellt ein noch viel größeres Problem dar, da wir damit ja im Grunde auch Gegenstände und sächliche Lebewesen wie zum Beispiel das Ferkel, das Kalb, das Rehkitz bezeichnen. Auch Kinder, seien es nun menschliche oder tierische, haben ein biologisches Geschlecht. Nun, die einfachste Lösung wäre, wenn auch manchmal ein wenig aufwändig, sichtbar zu machen, von wem die Rede ist. Noch einfacher wäre, jeder solle schreiben wie er oder sie oder divers will. Will divers sagen, dass zwei diverse Menschen sich begenen, kann ja gesagt werden: Die Diversen trafen sich am Rande zur Nacht, um sich mit der Verehelichten von Franz zu einem zweiten Abendessen zu treffen. Noch einfacher wäre, wir nennen die Namen der beteiligten Personen. Franz und Elise trafen sich am... und so weiter. Der Vorname ist natürlich an das weibliche und männliche Geschlecht gebunden. Vielleicht sollten wir in genderneutrale Vornamen ein wenig Grips investieren und die Menschen dann bei ihren diversen Namen nennen.

Divers kann ja durchaus in der Einzahl und in der Mehrzahl verwendet werden. Außerdem könnten Frauen ja immer die weibliche Form beim Schreiben verwenden, die Männer die männlichen und die Diversen eben das diverse oder was immer sie wollen. Aber neben diesen Debatten um das Diverse vermisse ich die aufrechte und ehrliche Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer hier versucht die Diskurshoheit über das Sprechen der Menschen zu erlangen. Wer schwingt sich denn hier auf, zu bestimmen, was die Sprache der Menschen sein soll. Wer will bestimmen, was gesagt werden darf und was verschwiegen werden muss.

Wir sehen das entstehen einer neuen Sprachelite, die sich aufschwingt zu einer Art Sprachpolizei, die Worte diskriminieren und Sprache reinigen will. Wie oft haben wir das schon erlebt. Alle diktatorischen Regime versuchen über die Sprache und den Sprachgebrauch, ihre Interessen durchzusetzen. Und wir Österreicher sind misstrauisch gegen jede Form sprachpolizeilicher Massnahmen, denn wir sind durch die harte Schule Metternichs und der Nationalsozialisten (Männer wie Frauen und vielleicht waren ja auch ein paar getarnte Diverse unter den Schergen) gegangen. Auch George Orwell hat dies eindrucksvoll in seinem Roman 1984 beschrieben, wie eine Elite durch einen vorgeschriebenen Sprachgebrauch, diktatorische Verhältnisse begünstigt. Eine Demokratie braucht nicht nur Partizipation, sondern auch einen freien, selbstbestimmten Diskurs des Sprechens. Ohne moralischen Zeigefinger von ethnischen Gruppen, diversen Geschlechtern oder sozialrevolutionären Anarchisten. Die Spielwiese der gendergerechten Sprache und der ethnisch korrekten Sprache verdeckt darüber hinaus ein viel größeres Problem, nämlich die Unterrepräsentanz bestimmter sozialer Schichten in der bürgerlichen Gesellschaft, egal welchen Geschlechts sie auch immer sein mögen.

Deshalb schlage ich zur Umgehung des generischen Maskulinum im Deutschen vor, die Einzahl aus unserem Sprachgebrauch zu streichen. Sagen wir beim Pronomen ja zum Wir, zum Euch, zum Uns. Und lassen wir doch die Menschen schreiben und sprechen wie sie wollen. Überprüfen wir in den Gesprächen nicht das Geschlecht der Menschen und ihr geschlechterungerechtes Sprechen oder ihre ethnische Herkunft und den dazugehörigen ethnischen Slang, sondern nutzen wir unsere kostbare Zeit, um die Wertehaltungen und Taten unserer Gegenüber zu analysieren. Alles andere ist nichts weiter als eine willkommene Ablenkung vom täglichen Töten und Morden, das von einem Er, einer Sie oder von Diversen durchgeführt wird. Beschäftigen wir uns doch mit dem wahren Übel unserer Zeit, der Unterdrückung aller durch das kapitalistische Wirtschaftssystem, das Männer, Frauen und Diverse unterwirft, ausbeutet und vernichtet.


20.210.610:1.547 Zum Archiv

Ein Gedanke wäre noch anzubringen. Wer führt die Liste der reichsten Menschen an, in diesem unseligen Jahr der Pandemie? Es ist Jeff Bezos, ein Mensch, der begriffen hat, dass nicht mehr die Produktion von Hardware die Welt beherrscht, sondern längst Softwaregiganten die Macht übernommen haben. Wer die Warenströme der Welt kontrolliert, kontrolliert die Welt. Wer die Information, die durch die Welt strömt, kontrolliert, kontrolliert die Menschen. Wer in der Lage ist, die Waren- und Informationsströme zu vernetzen, ist in der Lage absolute Herrschaft zu erringen.

Der absolutistische König hatte zwei Instrumentarien zur Verfügung, um seine Herrschaft zu sichern, die absolute Macht über das Wirtschaftssystem seines Landes, also wie produziert wird und die absolute Gewissheit, dass er über jede Bewegung seiner Untertanen Bescheid wusste, durch ein ausgeklügeltes Spitzel- und Denunziantenwesen.

Heute können wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir uns auf dem Weg in eine absolutistische Herrschaft des digitalen Großbürgertums befinden. Es gibt nicht mehr den einen absoluten Herrscher, sondern eine digitale Netzwerkoligarchie, die in der Lage ist, in alle Lebensbereiche der Menschen nicht nur hineinzuwirken, sondern diese auch zu beherrschen. Das Problem dabei ist, dass wir diese Netzwerkoligarchen nicht als solche begreifen, sondern nur als Besitzer ihrer Firmen sehen. Doch diese Firmen und ihre Besitzer sind mittlerweile Monopolisten.

Und ihre Namen sind leicht zu finden. Es sind Medienmogule, Handelsplattformen und soziale Netzwerke. Stellen wir uns vor, dass es zu einer Megafusion des Medienimperiums von Google, mit der Warenvermittlungspalltform und Spysoftware Echo und Ring mit den sozialen Netzwerken von Facebook käme und dieses fusionierte Meganetzwerk eine digitale, funktionstüchtige Weltwährung entwickeln könnte. Käme dies nicht einer absolutistisch regierenden Oligarchie nahe, die in der Lage wäre, unsere aufgeklärte, bürgerliche, demokratische Gesellschaft in eine Diktatur des Marktes zu verwandeln?

Denken wir nur einen Augenblick darüber nach, ob eine solche Fusion möglich wäre. Und wenn wir zur Erkenntnis gelangten, ja, es ist möglich, dann sollten wir uns Fragen, ob die bürgerliche Oligarchie nicht eine ebenso große Bedrohung für Leib und Leben der Menschen ist, wie es einst die absolutistischen Herrscher Europas waren. Und wir sollten uns überlegen, ob wir mit den absolutistisch regierenden Bürger*innen nicht ebenso verfahren sollten wie mit dem absolutistischen König in Frankreich oder der Zarenfamilie in Russland.


20.210.609:2.104 Zum Archiv

Gestern schrieb ich von den Unterschieden die zwischen Information und Wissen bestehen. Leider durchdringt ein großer Teil der Lehrenden diesen Unterschied nicht ausreichend. Unsere Schulen sind zu Ausbildungsinstitutionen verkommen, in denen Informationen weitergegeben werden, die es den Lernenden ermöglichen, sich mit Hilfe der erlernten Kompetenzen einen möglichst großen Vorteil in jener Gesellschaft zu verschaffen, in die sie am Ende entlassen werden, sie werden darin geschult, sich heimischen zu machen in den Zonen der Zucht und Ordnung.

Information ist aber nur die Vorstufe zu etwas viel Wichtigerem, nämlich Wissen. Um jedoch Information in Wissen zu verwandeln bedarf es eines offenen, kritischen Geistes, der sich in einem permanenten Diskurs mit anderen offenen, kritischen Geistern befindet, denn nur wer in der Lage ist, Informationen zu verabeiten, sie durch Denken in Wissen zu verwandeln, ist in der Lage, sich so etwas wie einen utopischen Zugang zur Welt zu verschaffen.

Also, das gesellschaftliche System, in welches die Lernenden am Ende entlassen werden, nicht konformistisch und reformistisch weiterzuentwickeln oder den status quo zu verbessern, sondern es revolutionär zu verändern. Um Mündigkeit zu erreichen, bedarf es eines geschärften Blickes in die Geschichte, eines mutigen und zupackenden Handelns in der Gegenwart und nicht zuletzt eines Denkenens, das eine Zukunft entwirft, die den Menschen, die in ihr leben werden müssen, angemessen wäre.

Nur eine Schule, die derartiges bei Lernenden hervorbringt, kann als eine Schule der Aufklärung angesehen werden und darf sich als mehr bezeichnen, als das, was Schulen heute in ihrer Mehrzahl darstellen, Bildungsanstalten, in denen mit Methoden des neunzehnten Jahrhunderts Menschen geformt werden, die in der Lage sind, am letzten Schultag ihre Haut als Lernende abzustreifen und in die Haut der Arbeitsbienen zu schlüpfen, um zu tun, was der Bienenkönigin und ihrem Hofstaat nutzt.

Was wir heute beim Ausfliegen der Lernenden sehen, sind keine Schmetterlinge, die sich in die Lüfte erheben und von Wiese zu Wiese streunen, um sich dem Duft der Blumen an einem sonnigen Sommertag hinzugeben, sondern was wir sehen, ist das jährliche Ausschwärmen einer Kohorte strebsamer, entmutigter, angepasster und hoffnungsloser Arbeitsbienen, die gelernt haben, dass Information alles bedeutet und nichts zu wissen, keine Tragödie ist, denn sie haben längst begriffen, dass im beruflichen Alltag der Informationsgesellschaft nicht die Fülle der verarbeiteten Information zählt, sondern allein die Tatsache der Verfügungsgewalt über die Information bereits ausreicht, um zu herrschen und zu unterwerfen.


20.210.608:0.951 Zum Archiv

Manchmal denke ich, jetzt da ich am Ende meines Berufslebens doch noch auf die andere Seite der Front gewechselt bin, dass sich in der Schule, in der ich mehr als ein Jahrzehnt als Kind und Jugendlicher verbracht habe, vieles verändert hat. Schule, das Wort mit einem Nachhall von Bitternis, ist nun mein täglich Brot geworden. Und wer denkt, ein Seitenwechsel würde die Sache besser machen, irrt wohl erheblich.

Natürlich gibt es die alten Faschist*innen und Schlägertrupps meiner Kindheit und Jugend nicht mehr, die die Klassenzimmer ex cathedra, also aus ihrer Unfehlbarkeit heraus regierten, nein beherrschten. Sie sind handzahmer geworden, ihre Unfehlbarkeit ist demokratisiert und gezähmt, aber deshalb nicht weniger hinterhältig und scheinheilig. Die Schule ist in eine Scheindemokratie verwandelt worden, in der die Schüler*innen immer noch Bittsteller*innen sind.

Der Unterschied? Nun, Widerstand wird nicht mehr als legitimer Aufstand gegen ein unerbittliches, menschenverachtendes indentitätsbrechendes System Schule verstanden, sondern als Halsstarrigkeit gegen Dienstleister*innen, die es doch nur gut meinen, gegen aufrechte Pädagog*innen, die immer nur die Zukunft der Jugend im Blick haben, ihre Nöte und Bedürfnisse. Und Widerstand ist dann eben pubertierendes Gehabe von unreifen, verwöhnten Rotznasen gegen ein einfühlsam agierendes, menschenfreundliches und identitätsstiftendes Bildungssystem.

Im heutigen Schulsystem sind die angepassten Schüler*innen im Vorteil, weil sie auf Pädagog*innen treffen, die im gleichen Maße dem Bildungssystem angemessen sind, sich in ihrem Leben eingefunden haben und das Spiel mit Zuckerbrot und Peitsche wie kaum eine andere Berufsgruppe beherrschen, eine Disziplinierungsstrategie, die für arbeitsscheues Gesindel entwickelt wurde, um Menschen in ein System von Macht und Unterwerfung zu zwingen.

Unsere Schulen konditionieren unsere Schüler*innen mit dem Benotungssystem wie pawlowsche Hunde, für jede Hausübung, jede erfolgreich bestande Schularbeit gibt es ein Leckerli und am Ende sind wir erstaunt, dass die zu Unterrichtenden nur noch Männchen machen, wenn wir sie belohnen. Selbstgesteuertes, intrinsisches Lernen wird damit systematisch vom ersten Schultag an unterbunden, denn die künftigen Staatsbürger*innen müssen innerhalb von neun Jahren zu funktionierenden und tüchtigen Arbeitsbienen herangezogen werden.

Dies führt aber langfristig in eine Gesellschaft, die getrieben ist von Angst, Feigheit und Mutlosgkeit, also dem Gegenteil von dem, was Kant in der Aufklärung gefordert hat, Mut seinem eigenen Gewissen zu folgen, um sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Doch wer nie mündig gemacht wird, nie aufgeklärt wird über die herrschenden Machtverhältnisse und die Rolle, die er oder sie daran spielen muss, soll, kann oder will, ist nicht Ziel von Kants Aufklärung, denn er oder sie ist unverschuldet in Unmündigkeit gehalten worden.

Kants Aufklärung setzt ein Schulsystem voraus, in dem die Lernenden über ihre Möglichkeiten zur Herrschaft und ihre Wahrscheinlichkeiten der Unterwerfung aufgeklärt werden. Dazu bedarf es aber einer mutigen, couragierten Haltung der Lehrenden, die sich dem Widerspruch und der Kritik nicht verweigern, sondern sie als Teil ihres täglichen Unterrichtens begreifen und den Unterricht nicht entlang von Informationsweitergabe ausrichten, sondern entlang der Vermittlung von Wissen.


20.210.607:1.547 Zum Archiv

Jeder trägt sein Leben, als wär es Aufgang und nicht Untergang. Jeder trägt sein Innerstes, wie einen unverwandelbaren Makel. Jeder trägt seine Liebe, als wäre sie die erste von vielen und nicht bereits die letzte.


20.210.606:1.306 Zum Archiv

Man sollte mal... hat Kurt Tucholsky vor knapp hundert Jahren geschrieben und meinte mitstenographieren. Was würde denn das heute noch nützen, in Zeiten, in denen diese Kunst kaum noch jemand beherrscht. Aber es gibt viele Dinge, die man einmal sollte, vor allem tun.

Man sollte einmal schreien, solange bis aller Schmerz, der in einem wohnt, ausgemerzt ist, wie vermodertes Holz im Wald.

Man sollte einmal wehrhaft sein, sich nicht ducken oder gar entschuldigen, sondern standhalten bleiben und mit gleicher Münze heimzahlen.

Man sollte einmal mit dem christlichen Geschwafel von der linken und der rechten Backe Schluss machen .

Man sollte einmal nicht das Nützliche verfolgen, sondern mit seinem Starrsinn dem Unsinn Raum verschaffen.

Man sollte einmal tun, wonach einem der Sinn steht und nicht, was die Stunde einem gebietet.

Man sollte einmal einen Tag vertrödeln, als wäre man ein Erbe und habe ausreichend Einkommen, das einem das Auskommen sichert.

Man sollte einmal eine Bank ausrauben und das, was sich darin befindet, unter die Menschen werfen, ohne Ansehen von Stand und Herkunft.

Man sollte einmal die Moral beiseite lassen und der Vernunft gehorchen.

Man sollte einmal einen Klassiker lesen und so tun, als hätte es Spaß gemacht.

Man sollte einmal eine Welt erproben, in der wir sind, wer wir sind und bleiben können.

Man sollte einmal...


20.210.604:1.158 Zum Archiv

In mir lungern tausende Erinnerungen wie Heimatlose und warten darauf, wie reifes Obst gepflückt zu werden und meine Sehnsucht die Ernte einzubringen, wächst von Tag zu Tag. Und doch ist so wenig Zeit selbst das Gegenwärtige aufzulesen, zu keltern und einzulagern. So muss das langsam Verblassende sich noch gedulden und mit der Hoffnung begnügen, dass meine Robustheit ausreicht, bis ich in der Lage bin, mein Gewesenes aufzusuchen, um die verlorene Zeit aus den Abgründen meiner Lebenszeit zu heben, wie einen Schatz aus märchenhaften Tagen.


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