20.200.731:0.959 Zum Archiv

Das Meer. Das Meer ist nicht der Ort, von dem ich abstamme. Das Meer ist der Ort, zu dem ich hinstrebe, den ich meine geographische Heimat nenne. Seit Kindertagen ist das Meer in mir präsent. Mit Pippi Langstrumpf hat es begonnen. Sie ist auf der Suche nach ihrem Vater, dem Seeräuber, über das Meer nach Taka-Tuka-Land gesegelt. Das Meer als geographische Utopie meiner Kindertage. Seither ist mir das Meer in vielfältiger Form begegnet. In Büchern. In Filmen. Im Leben.

Das Meer schimmert in meiner Erinnerung in tausenderlei Farben und Formen. Blau an den strahlenden Tagen im Eismeer Argentiniens. Aufgepeitscht als Wellen am Sporen Italiens. Ruhig und glatt an Tagen bevor der Sturm losbricht. Zurückgezogen bei Ebbe an den Küsten Venetiens. Hoch und nah und brausend bei Flut in Griechenland. Meerengen, die ich überquerte, Gibraltar auf dem Weg nach Marokko, die Magellanstraße nach Feuerland, Reisen zwischen Inseln, immer wohlbehalten ankommend. Nie gab es Sturm auf See. Immer ruhiges Fahrwasser.

Das Meer hat es immer gut mit mir gemeint. Hat mich immer angenommen und aufgenommen, selbst als mich beim Schwimmen in den Wellen die Kraft verließ und ich um meine Rückkehr ans Ufer rang, gerettet durch einen Freund, der mir zu Hilfe eilte, bevor ich hinausgezogen worden wäre, in die Unendlichkeit, an den Horizont. In der Erinnerung habe ich keine Angst vor der Weite, sondern meine eigene Schwäche versetzt mich in Panik, den Wellen, ihren Versprechungen und meiner Sehnsucht, meinem Wunsch nach Freiheit nicht standhalten zu können.

Ich sehne mich nach dem Meer wie Peter Wawerzinek, der vom Meer kommt, aus dem Norden, dort wo das Meer die See genannt wird, wo man zur See fährt. Zur See bin ich nie gefahren, immer nur ans Meer, weil es mir etwas versprochen hat. Das Meer war mein Utopia und die Dörfer, die ich aufsuchte, entsprachen meiner Sehnsucht nach Geborgenheit. In der Erinnerung sind sie alle malerisch: Das griechische Matala, das plötzlich auftauchte, nach kurzer Anfahrt, abseits der Hauptverkehrsrouten. Eine kleine Bucht. Romantisch: Fischerboote, Ruhe, Abgeschiedenheit. Damals. Und nach der Querung eines Hügels konnte man eine naturbelassene Bucht erreichen. Besiedelt von Aussteigern, nackte Menschen in selbstgezimmerten Hütten, die ihnen über den Sommer als Wohnstatt dienten. Zottelige Wesen, nicht eingeboren und doch zugehörig.

Zugehörig war ich dem Meer nie, aber verbunden. Das Meer zieht mich an, beinahe könnte ich sagen magisch, wenn das Wort nicht so abgedroschen wäre. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Meer, spürte ich seine befreiende Wirkung. Vielleicht weil mein erster Kontakt, zusammenhing mit meiner ersten Reise, die mich hinausführte aus meinem Geburtsland. In den Süden. Der das Ende meiner Jugend markierte, das Ende von Bevormundung und gesellschaftlicher Enge. Villeicht kommt daher meine Sehnsucht nach dem Meer.

Dennoch muss es da noch etwas geben, das mich mit dem Meer verbindet, denn schließe ich die Augen, höre ich sein Rauschen, schmecke ich sein Aroma, rieche ich meine Erinnerungen, keine von Fotographien gestohlene Erinnerungen, keine fantasierten Erzählungen, sondern erlebte, selbst erlebte Erfahrungen. Buchten und Ufer, Strände und Sonnenuntergänge. Letzlich ist es jene Utopie, die ich auch in [Gansinger] kehrt heim als utopischen Fluchtpunkt nahm: Den Horizont, wo Erde und Himmel sich so nahe sind und doch nicht berühren. In Utopia. Am Meer.

20.200.730:0.715 Zum Archiv

Findet man in Österreich für ein Problem keine Lösung oder will man politisch für eine Entscheidung keine Verantwortung übernehmen, dann setzt man eine Kommission ein. Ich fühle mich zurückversetzt in die Monarchie, denn in diesen Tagen wurde eine Kommission eingesetzt, die man mit k&k umschreiben könnte: Ein Kommisson, die eine Strategie entwickeln soll, wie man eine Entscheidung [k]lug differenzieren [u]nd [k]lar kommunizieren kann.

Ein gesegnetes Land, das mit einem intellektuellen politischen Personal ausgestattet ist, welches für kluges differenziertes Handeln und klare, nachvolziehbare Kommunikation eine Kommission einsetzen muss.


20.200.729:1.010 Zum Archiv

[Peter Wawerzinek] schreibt in seinem brillianten und poetischen Buch [Ich-Dylan-Ich]: Das Meer, immer wieder das Meer. Wir brauchen das Brausen und Tönen des Meeres. Wir brauchen es jeden Tag und in voller Lautstärke. Wir wären ohne die wilden Elemente in der Seele arm. Dem Meer verdanken wir unsere schöpferischen Kräfte. Das Meer und wir und die Dichtung.

Die Sehnsucht nach dem Meer spricht aus vielen seiner Texte. Und diese Sehnsucht teile ich mit ihm. Und würden wir dieses Meer nicht mit ee schreiben, sondern mit eh, dann könnte es für unsere Sehnsucht nach einem Mehr in uns stehen, das brach und ungenutzt auf seine Entfesselung wartet, um das einzulösen, was Jean Ziegler sich erhofft, eine andere Welt, eine Gesellschaft ohne Privateigentum, das schon Karl Marx als Grundübel und Angelpunkt der kapitalistischen Produktionsweise identifiziert hat.


20.200.728:0.715 Zum Archiv

Habe heute Jean Ziegkers Buch - Was ist so schlimm am Kapitalismus. Antworten auf die Fragen meiner Enkelin - zu Ende gelesen. In wenigen Worten werden die Verheerungen, die der Kapitalismus anrichtet, auf den Punkt gebracht, leicht verständlich, für jeden, der willig ist, nachvollziehbar.

Eines vorweg: Dass ein antikapitalistisches Buch in einem der wohl reichsten und mächtigsten Verlagshäusern der Welt (Bertelsmann|Random House) erscheinen kann, zeigt nur, dass sich der Kapitalismus bereits in seiner eigenen Machtfülle unantastbar fühlt. Das kapitalistische System ist in der Lage, selbst mit heftigster und schonungslosester Kritik an der eigenen Vorherrschaft noch Geld zu verdienen. Was einmal mehr beweist, dass der Sieg der kapitalistischen Produktionsweise beinahe totalitär ist.

Zu diesem Schönheitsfehler, der mich doch irritiert hat, noch eine Anmerkung: Das Erscheinen des Buches in einem Hinterzimmerverlag hätte ja kaum die Verbreitung garantiert, die notwendig wäre, um den Sturz des kapitalistischen Systems vorzubereiten. Ich weiß, es bedarf wieder einmal des Konjunktivs, um für eine derartige Publikationsstrategie eine Verteidgungslinie aufzubauen.

Also abgesehen davon, teile ich beinahe alle Analysen und Gedanken, die Jean Ziegler in seinem Buch festhält. Ein Buch, das die zerstörerische Kraft des Kapitalismus auf den Punkt bringt. Und es ist eben keine schöpferische Zerstörung mehr, wie sie einst Joseph Schumpeter, der österreichische Wirtschaftswissenschaftler, benannt hatte, zumindest kann ich keine schöpferische Kraft erkennen, wenn ich Jean Zieglers Gedanke folge, dass für ihn der Kapitalismus eine kannibalische Ordnung geschaffen hat: Überfluss für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für die große Mehrheit.

Nur in einer Sache kann ich mich Jean Ziegler nicht anschließen, die mir jedoch zentral zu sein scheint, seinem ungebrochenen Optimismus, dass die Generation seiner Enkelin, sie muss ungefähr siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre sein, den Kapitalismus stürzen werde. Vor allem weil er keine Angaben darüber macht, wie sich dieser Sturz gestalten wird. Ich denke, dass zeichnet einen Optimisten ja aus, dass die fehlende politische Strategie durch eine Prophetie ersetzt.

Glaube, Liebe, Hoffnung sind immer schon das Mittel der Wahl für Optimisten gewesen, wenn ihnen grundlegende Kozepte fehlen, um ein System aus den Angeln zu heben, das seine schwächsten Mitglieder kannibalisiert. Ich kann Jean Zieglers Optimismus vor allem deshalb nicht teilen, weil selbst Papst Franziskus, der es wissen muss als Bürger Lateinamerikas, davon spricht, dass diejenigen, die am Rand der Gesellschaft leben, längst nicht mehr Ausgebeutete sind, wie noch zu Marx Zeiten, sondern bereits Müll also Abfall. Und wenn einer Abfall ist, dann hat er nicht einmal mehr Ketten, die er verlieren könnte. Die Hoffnung Jean Zieglers ruht also auf seiner Enkelin, die in einem revolutionären Akt den Menschenmüll zurückverwandeln soll, in... ja in was? Und selbst wenn wir das geklärt hätten, wie soll denn die Rücktranformation von statten gehen?

Nach so klarer Analyse zum Lebenszustand von beinahe einer Milliarde Menschen, aus dem berufenen Munde eines Papstes, bleibt mir nur auf ein Wunder zu hoffen, denn dass jene Generation, die den Konsumkapitalismus mit der Muttermilch verinnerlicht hat, eine Revolutin gegen ihre eigene privilegierte Situation führen wird, ist um vieles unwahrscheinlicher als eine neurliche Auferstehung von Jesus Christus.

Auf eine Revolution zu hoffen, wenn, wohin auch immer man blickt, die zarten Ansätze von revolutionären Kräften mit aller Gewalt zu der das Kapital fähig ist, im Keim erstickt werden, grenzt beinahe an eine religiöse Offenbarung.


20.200.727:1.850 Zum Archiv

Jeder Tag hat sich in alle Tage verwandelt. In ein Karusellgeschwätz, aus dem das Leben wie ein Betrunkener von der Pferdekutsche fällt. Aufgezehrt. Ausgelöscht. Profanität des Banalen. Daraus geboren das Böse. Sein Abgesang schwingt sich auf. Kehrt als Wunder zurück. Heiligt sich durch Sprachverwandlung. Verzaubert die Nächte im Drogenrausch sprachlicher Abgründe. Leises Geplapper. Zu Beginn. Meckert sich durch die alltäglichen Stunden. Daraus hervortretend der Lärm der Geschichte. Missverständnisse. Feldzüge. Kriege. Immer nur ein Stück des Weltenzaubers. Alles kehrt zurück. Und alle Tage verwandeln sich in jeden.


20.200.727:1.546 Zum Archiv

Adam Smith hat in seinem Buch Wohlstand der Nationen geschrieben: Der Einzelne ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur irgend möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt.

Das mag schon eine richtige Beobachtung sein, es ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, wie dieser erwirtschaftete Nutzen sich in der Gesellschaft verteilt, wer davon profitiert und wer von diesem Nutzen ausgeschlossen bleibt. Adam Smith übersieht, und das vielleicht mit Absicht, dass der, der den Nutzen erzeugt, von diesem Nutzen auch am meisten profitieren möchte, aber einer, der von der Produktion dieses Nutzens ausgeschlossen bleibt, weil er ein Habenichts ist, wird dann auch nicht in der Lage sein, in ausreichendem Ausmaß davon zu profitieren.

Deshalb braucht es eben nicht nur die unsichbare Hand des Marktes, sondern eine Strategie des Gemeinswesen, damit die, die nicht in der Lage sind, an der Produktion des Wohlstands teilzunehmen, zum Beispiel auf Grund ihrer sorialen Herkunft, ihres Gesundheitszustandes, ihrer Bildung, dennoch am Wohlstand in folgender Weise partizipieren können: Sie sollten aus dem erwirtschaftetetn Volksvermögen ein Einkommen erhalten, dass ihnen ein gedeihliches Auskommen ermöglicht. Die Höhe dieses Einkommens sollte sich am durchschnittlichen Einkommen eines Menschen, der an der Produktion des Wohlstand beteiligt ist, orientieren.


20.200.725:0.940 Zum Archiv

Ein Interview gehört, mit dem Verfasser des Kritischen Handbuchs der österreichischen Demokratie Reinhard Heinisch, einem Politologen der Universität Salzburg. Darin sagt er sinngemäß, wenn die Menschen sich von der Politik nicht mehr vertreten fühlen, sich nicht mehr als Teil ihres Landes begreifen, werden sie sich anders, ich würde erweitern, als erwartet, irratonal und unvernünftig verhalten. Wer sich aus den politischen Prozessen ausgeschlossen fühlt, wird sich nicht an ihnen beteiligen, vor allem in einer Demokratie wie der österreichischen, in deren Verfassung seine Bürger*innen mehr wie Untertanen einer Monarchie behandelt werden, denn als erwünschte Partizipant*innen an der gesellschaftlichen Entwicklung ihres Landes. Daraus resultiert, wie Heinisch festhält, eine Politikerelite, die Bürgerbeteiligungen und selbst Wahlen als Störung ihres politischen Handelns begreifen.

Das beeinflusst meines Erachtens viele alltägliche Verhaltensweisen der Menschen in unserem Land. Wer nicht dazu gehört, vermutet schreckliche Verschwörungen eben dieser Eliten, von denen sie sich ausgegrenzt fühlen. Krankheiten werden ebenso geleugnet, wie wissenschaftliche Erkenntnisse, die deren Vermeidung befördern. Menschen beginnen sich und andere zu gefährden, nur um zu beweisen, dass die sogenannten Eliten sich gegen sie verschworen haben.

Dieses Kluft zwischen denen, die die Demokratie beherrschen, den Regierenden, und den Beherrschten, den Bürger*innen, führt ja nicht nur dazu, dass berechtigte Zweifel nicht mehr argumentativ geltend gemacht werden, sondern durch Gewalt, es führt auch dazu, dass jene Beschlüsse, die bei näherer Betrachtung durchaus Sinn ergeben, nicht mehr als plausibel und durchaus vernünftig bewertet und daher missachtet werden.

Das hat langfristig zur Folge, dass nicht nur die Politiker*innen an Glaubwürdigkeit einbüßen, sondern all jene mit ihnen, die sich in ihrem Dunstkreis befinden: Wissenschaftler*innen, Intellektuelle, Journalist*innen, Künstler*innen, Lehrer*innen. In letzter Konsequenz führt der Vertrauensverlust zum Verlust des demokratischen Selbstverständnisses von Bürger*innen und dies kann in ein autoritäres Verhalten der politisch Verantwortlichen münden.

Denn so wie sich die Bürger*innen von den Politiker*innen ausgegrenzt fühlen, entwicklen auch die Politiker*innen möglicherweise ein Gefühl, nicht mehr zum Volk zu gehören und tun und lassen zu können, was sie wollen. Bewusst rechtswidrige Gesetze zu beschließen und, wohl wissend um die Trägheit des Rechtsstaates, darauf zu hoffen, dass die Gesetze längst wieder außer Kraft sind, bevor sie am Ende des Instanzenweges, den Bürger*nnen im Widerspruch dagegen beschreiten, aufgehoben werden.

All die bewussten Verstöße gegen den demokratischen Rechtsstaat, mit der Argumentation, dass man sich nur um die Bevölkerung Sorge, führen letztlich genau zum Gegenteil, dass Bürger*innen das Gefühl bekommen, mit ihnen und ihren Bedürfnissen werde sorglos umgegangen, vor allem wenn sich manche Maßnahmen nachträglich als unangemessen und bei ihrem in Kraft treten, von einer unzureichenden Argumentation begleitet wurden.

Was es braucht, ist nicht allein mehr politische Partizipation der Bevölkerung am gesetzgebenden Entscheidungsprozess, sondern vor allem eine bessere Qualität dieser Partizipation. Mehr direkte Demokratie führt ja nicht automatisch zu einer gerechteren Gesellschaft. Die Schweiz ist dafür das beste Beispiel.

Was wir bnötigen, ist die Aufhebung des intellektuellen Gegensatzes zwischen den beiden politischen Akteuren unserer Gesellschaft: den gesetzgebenden Politiker*innen und ihren Untertanen.


20.200.724:0.716 Zum Archiv

Manche Menschen wissen genau, was sie nicht mögen, aber selten kann einer sagen, wie er leben möchte. Ich hatte immer genaue Vorstellungen davon, was ich von meinem Leben und der Gesellschaft erwarte. Meine Utopie war immer klar. Auch der Weg dorthin war vorgezeichnet. Doch was hielt mich davon ab, mein Denken, mein Hoffen in die Tat umzusetzen? Wahrscheinlich Angst, Feigheit und Mutlosigkeit. Vielleicht wurde ich aus Angst vor der eigenen Courage ein Schriftsteller. Und vielleicht trieb mich der verlorene Glaube an eine Welt, in der alle Menschen frei, gleich und friedvoll zusammenleben können, ohne Eigentumsansprüche auf Menschen, Hab und Gut zu erheben, ins Lehramt. Und worauf kann einer wie ich jetzt noch hoffen, am Ende? Letzlich auf ein offenes, freies Wort, den einen Satz, der jeden Tag aufs Neue beweist, das ich am Leben bin und mich daran erinnert, wie es war und vielleicht unter anderen gesellschaftichen Voraussetzungen hätte sein können.


20.200.723:0.858 Zum Archiv

Mein Eintrag von gestern wirkt noch in mir nach. Was bedeutet das Geschriebene für mich als Lehrer? Wenn ich als Lehrer dazu beitragen will, dass meine Schüler*innen zu aufgeklärten, selbstständig denkenden und handelnden Bürger*innen dieser Gesellschaft werden, dann reicht es nicht ihnen das Rüstzeug mitzugeben, das sie in die Lage versetzt, ins Zentrum des gesellschaftlichen Wohlstandes vorzudringen. Ich muss ihnen auch ein Denken an die Hand geben, das sie dazu befähigt, dieses gesellschaftliche Zentrum in Frage zu stellen, damit sie selbst entscheiden können, ob sie das Spiel nach den Regeln der anderen spielen wollen oder nach jenen, die sie gemeinsam mit anderen hervorbringen.

Ein demokratisches Selbstverständnis bringt man in Schülern ja nicht dadurch hervor, dass man ihnen erklärt wie Demokratie funktoniert, ihnen Wissen über die repräsentative Deokratie anbietet, sondern ihnen die Wirkmechanismen demokratischen Handelns vorlebt. Duch eine Unterrichtsgestaltung, die der Aufklärung verpflichtet ist, die ihnen nicht die Schattenseiten der repräsentativen Demokratie und ihrer Herrschaftseliten verschweigt.

Dies würde aber in letzter Konsequenz bedeuten, dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich herrschaftspolitisch auf Augenhöhe begegnen müssten. Ich kenne wenige Lehrer*innen, die den Wunsch und den Mut haben, ihre Herrschaft zugunsten einer Umverteilung der Macht in der Schule aufzugeben.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein demokratisches Schulwesen nur dann bekommen, wenn wir nicht nur didaktisch auf die Schüler*innen zugehen, sondern ihnen auch aufzeigen, worin ihre Unterwefung im schulischen Alltag besteht und sie über die Möglichkeiten aufklären, wie sie diese Mechanismen der Herrschaft hinterfragen und bekämpfen können.

Das ist meine Utopie für das Bildungssystem. Das ist mein alltäglicher Kampf als revolutionäres Subjekt in einer Schule, die gesellschaftliche Ungleichheit zementiert, statt sie aufzuheben. Das ist mein tägliches Scheitern.


20.200.723:0.737 Zum Archiv

Die moralische Empörung von heute dient nicht mehr dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzustürzen, sondern sie zu festigen.


20.200.722:1.645 Zum Archiv

Meinen Freund T. aus Wiener Zeiten getroffen. Aus vergangenen Tagen. Ein Teil des Gesprächs handelte von der kommenden Wienwahl, die im Herbst ansteht. Den Chancen linker Gruppierungen in den Landtag und Gemeinderat einzuziehen, Bezirksratsmandate zu gewinnen. Ihre Zielsetzungen. Wie wichtig es sei, sich zu engagieren. Ertappte mich, dass ich nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Menschen eine Grätzelinitiative ins Leben rufen, ein lokales Fest organisieren, Hilforganisationen gründen, zu einer Wahl antreten. Und dann fiel der Satz, der mir zu denken gab und mich zum Widerspruch anregte: Mit dem politischen "Wie" beschäftigen wir uns, wenn wir erst einmal den Fuss in der Tür haben. Damit meinte mein Freund, wenn ein paar Mandate errungen sind.

Da erwachte mein politischer Instinkt. Ich setzte zur Gegenrede an. Ich gab zu, dass Handeln immer eine gute Sache sei, aber politisches Handeln ohne utopischen Zielpunkt schien mir doch etwas einfach gedacht. Und vor der Entwicklung einer Utopie bedarf es doch der politischen Analyse: Wo stehen wir, wohin wollen wir, wofür kämpfen wir? Letztlich muss sich eine wahlwerbende Gruppe eine einfache Frage stellen: Warum sollte sie jemand wählen?

Und dann fiel noch ein Satz: Es ist doch wichtig, dass wir etwas in Bewegung setzen, denn am Ende soll es doch den Menschen vor Ort besser gehen, in ihren Wohnvierteln. Ja wie recht er hatte, mein Freund T. Die Menschen sollen ein besseres Leben haben. Da war sie wieder die These der Aktivisten, der politischen Lebensretter, denen ich immer schon misstraute, wenn sie behaupteten: Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Menschheit.

Rette ich einem Menschen das Leben, dann ist ein Mensch gerettet. Und das ist auch gut so. Aber verändere ich die Umstände nicht, die ihn in Not gebracht haben, läuft er Gefahr wieder ins Unglück zu stürzen und alle Lebensrettung wäre nur der Auftakt zu neuem Elend. [Marie Langer], eine österreichisch-argentinische Psychoanlytikerin hat einmal sinngemäß gesagt: Es ist nichts gewonnen, wenn wir den Menschen durch eine Therapie zu einem geglückteren Leben verhelfen, wenn wir ihnen nicht gleichzeitig klar machen, welche gesellschaftlichen Machtmechanismen ihr persönliches Unglück augelöst haben.

Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Wenn ein Grätzelfest allein dazu dient, ein paar Stunden Glücksgefühl in den Menschen hervorzurufen, dann lohnt es die dafür aufgewendete Lebenszeit nicht. Dann ist die Organisierung eines solchen Festes nichts weiter als ein Hobby, das ebenso die Zeit vetreibt, wie Puzzle spielen oder Serien schauen oder eine Wanderung durchs Hochgebrige oder sich hedonistischen Ausschweifungen hinzugeben. Es hilft vielleicht dabei, das Gewissen des politischen Aktivisten zu beruhigen und ihm ein angenehmes, wohltuendes Gefühl zu verschaffen, in diesen unruhigen und grausamen Zeiten. Doch wichtiger wäre es, ein derartiges Fest als Vorspiel zu gestalten, auf das als Hauptakt eine politische Handlung folgt, die über das Grätzel hinausreicht. Dazu müssen sich die Menschen aber nicht nur als Bürger einer freiheitlich, aufgeklärten Gesellschaft begreifen, sondern als revolutionäre Individuen, die jene gesellschaftlichen Verhältnisse stürzen wollen, von denen sie letztlich individuell profitieren. Um sich aber als revolutionäre Individuen zu begreifen, bedürfen sie einer gesellschaftlichen Zielvorstellung, einer Utopie, die über die Erringung ihres eigenen, individuellen, kleinbürgerlichen Glückes hinausreicht.


20.200.721:0.715 Zum Archiv

Dieter Nuhr hat einmal sinngemäß gesagt: Jeder darf eine Meinung äußern, muss aber nicht. Manchmal einfach Fresse halten. Irgenwdo habe ich einmal gelesen, Kurt Tucholsky habe sinngemäß gesagt: Wenn das Schreiben nicht mehr hilft, muss man sprechen, wenn das Sprechen nicht mehr hilft, muss man schweigen. Doch manchmal erstickt der Mensch an seinem Schweigen. Tucholsky hat konsequenterweise Selbstmord begangen. Festzuhalten ist, wenn man nichts zu sagen hat, sollte man schweigen. Wie schwierig das sein kann, beweist dieser Eintrag.


20.200.717:2.057 Zum Archiv

Habe ein Buch gelesen. Zum ersten Mal seit langer Zeit eines, das ich in einem Tag ausgelesen habe. Kaum abgesetzt. Immer weiter. Angetrieben von der Geschichte. Was mich gefesselt hat, nie trat der Protagonist selbst auf. Immer wurde er aus der Ich-Perspektive der anderen beschrieben. Dreißig Jahre eines Menschen auf achtundsiebzig Seiten. Einmal mehr der Beweis, dass es keiner umfangreichen Erzählung von Banalitäten und Bedeutungslosigkeiten bedarf, um einen Menschen zum Leben zu erwecken und auch in der Erinnerung lebendig zu erhalten.

Dem Sog der Dramaturgie konnte ich mich nicht entziehen. Einiges hat die Konstruktion mit dem Reigen von Schnitzler gemeinsam. Wie jeder Mensch ein Kettenglied zu einem anderen bildet und doch nur lose Enden bleiben, an denen wie eine Perle immer der Protagonist hängt. Das es sich dabei um einen homosexuellen Menschen handelt, gibt der Geschichte einen Umhang, den wir leichter tragen, als wäre der Held ein heterosexueller Jugendlicher, der nach langen Jahren in seiner Ehe scheitert und am Ende übrigbleibt, verzweifelt und verloren.

Diese Geschichte benötigt keine Aufgeregtheiten, um ihre Wirkung zu entfalten. Sensationen sucht man vergeblich. Die Gespräche und Selbstreflexionen sind einfach gehalten, ohne sprachlich den literarischen Standard zu verlassen, den Geschichten brauchen, um jenseits ihres Alltagsgebrauches histroische Wirkung zu entfalten.

Nur der Schluss, von Andreas Jungwirth's Buch: Wir haben keinen Kontakt mehr, lässt mich etwas unzufrieden zurück. Beduetet er, alles kehrt zum Anfang zurück? Ist das Leben eine einzige endlose Schleife? Alles wiederholt sich, nur auf einem höheren Level, weil reflektierter? Bedeutet er, dass der Mensch sich doch entwickelt und nicht nur sein Körperbau?

Ja, wir alle verlieren den Kontakt zu denen, die wir einmal gewesen sind und zu denen, die mit uns ein Stück des Weges gegangen sind. Manche bedauern dies nicht und nehmen es als Gesetz des Lebens. Andere, wie Andreas Jungwirth, zeigen uns durch ein Stück wunderbare und lesenwerte Literatur hindurch, dass wir uns dem Vergessen wiedersetzen können und sollten, wenn auch nur, um uns einander Geschichten von damals zu erzählen und dadurch zu erkennen, was wir an Leben verloren und manchmal vielleicht auch gewonnen haben.


20.200.715:0.924 Zum Archiv

Kabarettistin sprach im Radio über ihr Leben, wie ihr ein Mentalcoach durch zwahlreiche Krisen geholfen habe. Ich rätselte, was denn ein Mentalcoach sei. Bei meinen Recherchen stieß ich auf die Ausbildung zum/zur Mentaltrainer*in. Eine Seite weiter im virtuellen Universum dann die Lösung: Es ist nichts weiter als die Schulung des positiven Denkens. Mein erster Gedanke: Dafür bezahlen die Menschen Geld? Andererseits dachte ich, das ist wie mit Religionen: Wem es hilft, der solle Glauben, wonach es ihm gelüstet.

Dabei hätte ich es ja bewenden lassen können. Hätte die Kabarettistin nicht davon gesprochen, wie der Coach ihr geholfen habe, einen neuen Blick auf ihr Leben zu werfen. Es hörte sich beinahe wie eine religiöse Offenbarung an, als sie gemerkt habe, dass sie durch ihre bejahendes Verhältnis zur Welt, plötzlich auch andere in einen optimistischeren Zustand versetzen konnte. Also dachte ich darüber nach, ob es nicht Zeit wäre, mich endlich auch zu entschließen, ein optimistischer Mensch zu werden, der mit viel Zuversicht und hoffnungsfroh in die Zukunft blickt. Also einen Mentaltrainer zu beauftragen, der mich verwandeln solle, verzaubern, verzücken, damit ich die Welt endlich als das erkennen könne, was sie eigentlich sei, eine Welt voll ungenutzter Möglichkeiten, die man nur ergreifen müsse, um ewiges Glück zu finden.

Doch meine Erfahrung aus den guten alten Achtzigern, die gerade eine Rennaissance erleben, haben mich schnell wieder zur Besinnung gebracht. Schon damals sind Horden von Sinnsuchenden in die therapeutischen Praxen der Scharlatane gepilgert, um zu lernen, auf ihren Bauch zu hören, ihr inneres Kind aufzusuchen und das positive Denken zu stärken, denn nur wer sich selbst verwandelt, bleibt stets verwandelt, wie André Heller, das Genie himself einmal sinngemäß gesungen hat. Nur wer sich selbst in einen guten, humanen und empathischen Geist verwandelt, ist in der Lage, die Welt in eine menschlichere zu verwandeln.

Nach kurzem Innehalten fragte ich mich: Hat dieses therapeutische Entzücken die Welt verändert, zum Besseren? Ist sie ein besserer Ort für alle geworden oder nicht doch nur für uns, die wir in der Lage sind, sie uns zurechtzurücken, uns in ihr ein Stück Glück zu erkaufen, für die kurze Lebensspanne, die wir in ihr verbringen müssen?

Spätestens da wurde mir klar, dass ich dann lieber der Parole von Günther Anders folge, der einmal gesagt hat: Wenn wir verzweifelt sind, was geht es mich an, tun wir so, als wären wir es nicht. Mir ist der Simulationsprozess eines positiven Denkens, um weiter handlunsgfähig zu bleiben und so tatkräftig mitzuhelfen, die Welt zu transformieren, alle Mal lieber, als die Verharmlosung der Weltvergessenheit der Menschen, durch Mentaltraining zu fördern, denn dabei geht es doch letztlich nur darum, dem Einzelnen das Leben in seiner grausamen und verzweifelten Lage schön zu reden. Was dadurch jedenfalls nicht beseitigt wird, ist die Grausamkeit und Verzweiflung in der Welt.

Dies kann nur durch revolutionäres Handeln geschehen. Ein positives Wording, das die Symptome der menschlichen Verzweiflung lediglich umbenennt, wird uns nicht dauerhaft vor ihr schützen. Wenn wir eine Depression als Burn out bezeichnen, ist ja nichts gewonnen, außer dass wir uns besser fühlen, weil wir ein Wort nutzen, das uns nicht als krankhafte Verzweifler brandmarkt, sondern als vorübergend überarbeitete, unausgeschlafene, aber im Grunde willige und nützliche Teilhaber einer Gesellschaft erscheinen lässt.

Mentalcoaches übernehmen die Funktion der Psychotherapeuten, um uns in gute Stimmung zu versetzen, damit wir nicht auf die Idee kommen, jene zu stürzen, die sich unserer Arbeitskraft bemächtigen, um ihr Interesse der Profitmaximierung rücksichtlos und kaltherzig zu verfolgen. Wir brauchen keine Mentaltrainer, sondern politische Agitatoren, die uns nicht zum positiven Denken auffordern, sondern zum Handeln; die unser Bewusstsein stärken, nicht um eine angenehmeres, positiveres Lebensgefühl zu entwickeln, sondern uns darin schulen, eine Einsicht in jene Herrschaftsmechanismen zu gewinnen, die ein Leben in Würde und Freiheit für jeden Menschen verunmöglichen.


20.200.714:0.651 Zum Archiv

Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, ist ein Buch von Peter-André Alt. Es fiel mir zufällig in unserer Schulbücherei in die Hände. Ich schlug es auf und schmöckerte hinein, in der Hoffnung etwas zu finden, was mir die Magie erster Sätze vermittelt, von der ich immer fasziniert war. Meine Enttäuschung will ich nicht verhehlen, denn es handelt sich um ein germanistisches Werk. Ich fand keine Antwort darin, warum erste Säze mich fesseln und in ihren Bann ziehen.

Darum werde ich mich hier nun öfter mit den Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen, die erste Sätze in mir auslösen, denn die Texte, die auf sie folgten, führten mich durch manch dunkle Stunde meiner Lebenszeit. Der Satz, dem ich mich bis heute eng verbunden, dem ich mich verwandt fühle, ist jener in Franz Kafkas Romanfragment Der Prozeß, der in seiner Kürze und Präzision unerreicht ist: Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Niemand nach ihm konnte mit einem Satz der staatlichen Willkür mit wenigen Worten ein literarische Klinge mitten in ihr verbrecherisches Herz jagen, denn Josef K. wird im Indikativ verhaftet und verleumdet, die zugrundeliegende Tat wurde von Josef K. allerdings im Konjunktiv verübt. Dennoch: Niemand, der in unseren Demokratien bei Sinnen ist, denkt bei einer indikaiven Verleumdung und einer konjunktivistischen Tat ernsthaft an die Unschuld eines Verhafteten.

Was aber, wenn Josef K. ohne vorangegangener Verleumdung verhaftet worden wäre? Es findet ja alles nur im Ungefähren statt. Nichts Genaues weiß man nicht. Was wäre denn dann? Wäre seine Verhaftung dann nicht noch ein viel größerer Skandal gewesen, in einem Staat, der sich einen Rechtsstaat nennt? Und wäre der Skandal nicht noch größer gewesen, wenn er tatsächlich nichts Böses getan hätte?

Würden wir das als aufgeklärte, rechtschaffene Bürger*innen einer Demokratie nicht furchtbar finden? Würden wir nicht aufschreien, wenn solcherlei in unserer Mitte geschieht? Sind wir sicher, dass es uns eines Tages nicht ebenso gehen könnte? Heute. Müssen wir uns nicht angesichts des kafkaschen Experiments auch fragen, was ist dieses Böse, dessen sich Josef K. schuldig gemacht haben soll? Wem dient die Verhaftung von Josef K.? An welchem Morgen ist es denn geschehen? Und wer hat ihn verleumdet? Kafka stellt mit unerreichter Meisterschaft Fragen, ohne sich eines einzigen Fragesatzes zu bedienen.

Seine Waffe im Kampf gegen die Willkür der Welt ist der Konjunktiv.


20.200.713:0.758 Zum Archiv

Ich verzichte in meiner Lyrik auf Punkt und Komma, auf die Groß- und Kleinschreibung. Erstens: Ich habe keine Begabung für die Orthographie. Zweitens: Orthographie ist eine Zumutung für meinen poetischen Rhythmus. Drittens: Jeder/jede soll beim Lesen die Möglichkeit haben, seinen/ihren Rhythmus für ein Gedicht zu finden. Kein äußeres Korsett soll ihn/sie hindern, zum Inhalt vorzudringen, der sich aus der Abfolge der Hebungen und Senkungen ergibt. Die Aussetzung der Orthographie setzt den äußeren Takt der Welt außer Kraft. Nur so kann sich enthüllen, was sich von mir in der Welt spiegelt.


20.200.712:0.918 Zum Archiv

Wo kommt dieses Bedürfnis her, sich mitteilen zu wollen? Sollte dieser Strom der Gedanken nicht längst versiegen, nach mehr als vierzig Jahren täglichem Notieren von Gedanken und Texten? Warum kann ich nicht schweigen, in dieser Welt, in der das Sprechen kaum noch Sinn ergibt. Irgendwann muss doch das Denken in immerwährenden Wiederholungsschleifen versteinern, einfrieren. Eine Selbsteinschätzung, ob man sich in seinem Schreiben nicht längst wiederholt, ist oft schwierig. Für mich ist ja jeder Gedanke neu, ist jede Formulierung ein Sieg über den geistigen Verfall. Doch auf die lange Strecke gesehen, ist die Gefahr der Wiederholung eines Gedankens größer als seine Fortentwicklung.


20.200.711:0.722 Zum Archiv

Es waren Schriftsteller wie Herrmann Hesse, Jean Paul Sartre, Albert Camus, Schriftstellerinnen wie Simone de Beauvoir oder Marlen Haushofer, die mich in meinem Wunsch zu schreiben bestärkten. Sie ermöglichten mir, mich als mehr zu begreifen als ein Individuum. Vereinzelt, ausgestoßen, verloren. Durch ihre Texte begriff ich mich als Teil einer Gesellschaft, die nicht nur ungerecht, sondern vor allem gewaltätig und voller Schrecknisse ist. Sie gaben mir durch ihre Worte eine Stimme, die mit jeder Seite, die ich las, kräftiger wurde, bis sie sich selbst in Literatur verwandelte.


20.200.710:0.618 Zum Archiv

Warum sollten mich die persönlichen Einträge von Katrin [Röggla]: Letzte Woche ist mir was passiert. Eine verletzte oder kranke Katze lag einen ganzen Tag verstört direkt vor meiner Tür, mehr interessieren als jener der dreizehnjährigen [Amy] aus einem SOS Kinderdorf: Heute ist der letzte Schultag zu Hause. Wir müssen dann schon jeden zweiten Tag zu Hause lernen, aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man die ganze Woche zu Hause lernt, oder nur 2 bzw. 3 Tage.

Was unterscheidet denn ein Tagebuch einer regionalen Berühmtheit von jenem eines dreizehnjährigen Mädchens. Warum sollte das Katzenproblem von Katrin Röggla mehr Interesse in mir wecken als der Bericht von Amy: Draußen kann man jetzt nicht viel machen, da es den ganzen Tag regnet.

Den Unterschied macht der Markt. Die Selbstbehauptung, dass das eine Literatur sei und das andere Alltäglichkeit. Das Umfeld, in dem ein Text erscheint, adelt ihn, nicht alleine seine inhaltliche Präzision. Was einen Text zur Literatur macht, ist auf der gesellschaftlichen Ebene eben nicht seine sprachliche Qualität, sondern der Umstand seiner Erscheinung in einem literarischen Umfeld.


20.200.709:0.616 Zum Archiv

Eintrag im Coronatagebuch von Thomas [Stangl]: Welche meiner Einträge scheinen mir im Nachhinein dumm, falsch oder peinlich? Ich kann kein Tagebuch führen, ohne dass Einträge mir im Nachhinein dumm, falsch oder peinlich erscheinen, meist erst nach Jahren oder Jahrzehnten; manchmal aber auch nach Tagen oder Monaten. Diese Aussage bestärkt mich in meinem Glauben, dass Tagebücher eben immer nur im Nachhinein publiziert werden sollten, als Teil einer Werkausgabe, niemals am Tage des Geschehens selbst. Im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass Einträge dumm, falsch oder peinlich sein können, denn das würde ja voraussetzen, dass man ihnen mehr an Bedeutung zugesteht als eine individuelle, persönliche, dass ihnen so etwas wie eine Allgemeingültigkeit innewohnt, dass sie etwas über die Welt enthüllen und über das Erleben und die Erfahrungen des Schreibers, der Schreiberin hinausreichen, hineinreichen in eine künstlerische und politische Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert oder funktionieren sollte. Die Tagebucheinträge müssten mindestens den Geruch von Utopie in sich tragen. Doch hätten sie diesen Geruch von Freiheit, dann wären die Einträge nicht mehr Teil eines Tagebuchs, sondern wären diesem Genre längst entwachsen.


20.200.708:0.806 Zum Archiv

In den letzten Wochen wurden an allen Ecken und Enden Tagebücher publiziert. Persönliche und gesellschaftliche. Beobachtungen. Bespiegelungen. Manche sprechen bereits von einem neuen Genre, dem Coronatagebuch. Tagebücher sind eine tolle Sache. Ich selbst schreibe auch Tagebücher. Seit meiner frühesten Jugend notiere ich Ereignisse, Gefühle, Beobachtungen. Doch publizieren würde ich sie zum gegebenen Zeitpunkt nicht.

Wer sollte sich denn für mein Frühstück interessieren, ob ich gut oder schlecht geschlafen habe; ob ich Trump für einen Idioten, Psychopathen oder genialen Selbstdarsteller halte; was ich über die österreichische Tagepolitik denke; ob meine Zehennägel geschnitten werden müssen und ich kein Klopapier mehr habe. Was wäre der politische und künstlerische Mehrwert derartiger Informationen. Machen sie die Welt runder, bereichern sie das Leben der anderen?

Natürlich ist mir bewusst, dass die Isolation in Zeiten von Pandemien für Menschen schwierig ist und sie sich mitteilen wollen, so wie ich mich hier mitteile, in eine Welt hineinschreibe, echolos. Aber nur weil wir die Banalitäten unserer Leben aufschreiben, und in dieser Frage will ich mein eigenes Schreiben nicht ausnehmen, sondern ausdrücklich einschließen, werden sie ja nicht erträglicher, sondern entlarven sich gerade dadurch als banal.

Tagebücher sind wichtig, keine Frage. Journale sind von Bedeutung, aber wenn wir sie nicht literarisieren oder politisieren, dann sind sie keine Kunst und vor allem politisch völlig irrelevant. Und wenn sie keine Kunst sind oder politische Statements, dann haben sie im öffentlichen Raum nur insoweit Berechtigung, als sie Teil der schriftlichen Quellen sind, die wir heranziehen können, um unsere Zeit historisch zu verstehen. Sie sind dann wie die Tagebücher aus Zeiten des Krieges, der Pest und des Notstands. Sie sind Zeugnisse der Befindlichkeit von Menschen. Zeugnisse ihrer Lebensumstände, die uns den Zustand einer Epoche enthüllen und uns Zugang verschaffen zu einer Welt, die vor uns war. Diese Zeugnisse verschaffen uns vielleicht eines Tages ein Verständnis darüber, warum wir geworden sind, was wir dann geworden sein werden.

In dieser Funktion sind all diese Tagebücher bedeutsam. Und wenn ich sie lese, dann lese ich sie wie ein Archäologe, als ein augebildeter Berufshistoriker, um herauszufinden, wie lebt einer, der nicht aus dem Haus darf, worum kreist eine, die alleine zu Hause hockt und sich selbst ausgeliefert ist.

Alle gemeinsam, die wir unseren Schmerz, unsere Ohnmacht und unsere Bedeutungslosigkeit digital herausschreien, weil in der analogen Welt keiner mehr von uns Notiz nimmt, müssen wir erkennen, dass jedes Wort seine historische Berechtigung hat, als politisches Statement von Einzelindividuen aber völlig wirkungslos bleibt, und vor allem folgenlos, weil uns die politisch relevanten Spieler längst aus den Augen verloren haben.

In diesem Unvermögen eine relevante politische Handlung zu setzen, liegt die eigentliche Tragik all dieser Tagebücher, sie verweisen nicht über ihre unmittelbare Entstehung hinaus. Sie reichen nicht in einen künstlerischen Diskurs hinein. Sie sind in ihrer Banalität nichts weiter als historisch banal. Vor allem aber, keine Kunst.


20.200.707:0.748 Zum Archiv

Sartre hat einmal sinngemäß geschrieben, dass eine Epoche immer eine durch ihre Literatur verdaute Epoche ist. Ich gebe ihm insoferne recht, als sich in der Summe aller literarischen Werke so etwas wie das Geschehen eines georgraphischen Raumes und einer historischen Zeit spiegelt. Jedoch ist dies nicht die Geschichte einer Epoche, sondern nur das, was eine bestimmte Berufsgruppe, nämlich die Autor*innen über ihre Zeit denken und in ihr sehen.

Was kann uns Literatur also bieten, was ist dann der Sinn der Literatur einer Epoche? Sie kann uns helfen, die Gemeinsamkeiten unserer eigenen Handlungen zu erkennen und noch in unserer Zeit ein Handeln einzuleiten, dass uns einer bewussten, von Interpretationen bestimmten Veränderung der Welt näher bringt.

Für uns Babyboomer, die wir aus dem Uterus der Kriegskinder gekrochen sind, bedeutet dies, uns damit zu beschäftigen, wer wir sind, woher wir kommen und was uns letztlich dazu befähigt, die kreative Zerstörungskraft des Kapitalismus nicht zu unterwandern, sondern in zahlloser und vielfältiger Weise zu beschützen, denn nichts anderes tun wir, wenn wir als Systemerhalter*innen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ameisengleich die Höhlensysteme abstützen, sichern und erweitern, um darin unsere Pflicht an der Brut der Königin des Ameisenstaates zu erfüllen.

Wir die Babyboomer, zu denen ich ebenso gehöre, wie viele derer, die mich umgeben, sind bereit den Schmerz unserer Epoche zu verdauen, denn wir sind aus den Kittelfalten des Krieges geboren und in uns hat er sich eingenistet, wuchert wie ein Geschwür, das unsere Eltern nicht aus uns getilgt haben. Und wir haben ihn wie ein Virus weitergetragen, an unsere Kinder vererbt, nicht mit Waffengewalt, denn wir sind ja friedliebende Bürger*innen.

Was wir dabei übersehen: Wir stehen im Zentrum eines viel brutaleren Kriegsgeschehens als unsere Eltern, aber unsere Waffen sind nicht Gewehre und Panzer, sondern unser Arbeitseifer und unsere Geldbörsen. Wir schlendern freiwillig und freudig durch die analogen und digitalen Konsumtempel, opfern unsere kostbare Lebenszeit, um im Eifer des Gefechtes unseren Mann und unsere Frau zu stehen. Unser Einkauf ist unser Dienst an der Sache. So werden wir Teil der modernen Kriegsführung des Konsumkapitalismus. Im Namen des Mehrwerts und seiner Alternativlosigkeit führen wir Krieg gegen die zahllosen Arbeiter*innen in den Ländern des Südens, wie wir sie früher nannten, als wir noch in unseren universitären Cliquen herumgehangen sind und Reden geschwungen haben von einer gerechteren Welt.

Es ist Zeit, die Babyboomer als das zu entlarven, was sie sind, die Havlitscheks dieser Erde, die nicht nur in Horvaths Geschichten aus dem Wienerwald ihr Unwesen treiben, sondern jeden Tag bereit sind, mit ihrer Hände Arbeit, diese Welt immer mehr in ein Schlachthaus zu verwandeln. Nicht, indem sie, wie der Kleinbürger Oskar, wie eine Spinne in ihrem Netz auf ihr Opfer lauern, um es dann hinzuschlachten.

Bei uns Havlitscheks reicht es nicht für eine verbrecherische Tat an der Menschlichkeit, denn wir sind feige und mutlos, weil wir moralisch gut und frei sein möchten, daher verwandeln wir uns in Handlanger der Mörder und Schlächter. Ganz im Sinne unserer Großväter und Großmütter, ganz im Sinne der Wenigen, in deren Metzgereien das menschliche Vieh in Abfall verwandelt wird.

Es wird Zeit, dass wir als Generation begreifen, dass wir uns in einer freundlichen Version unseres Spiegelbildes als engagiert und aufgeklärt, friedliebend und umweltbewusst erkennen wollen, aber in Wahrheit nichts anderes sind als Mitläufer und Systemerhalter, dass wir uns als Teil einer Epoche begreifen, in der wir unsere Rolle als Sargnagel der Menschheit spielen und all unsere reformistischen Rhetoriken nicht darüber hinwegtäuschen können, dass wir Angst vor der Revolution haben.

Und weil dem so ist, sind wir nicht besser als unsere Väter und Mütter. Das einzige, was uns von ihnen noch unterscheidet: Wir sind die Vielen. Wir sind die, die Revolution anführen könnten und haben uns dazu entschieden, sie tief in unseren Herzen zu begraben.


20.200.706:0.529 Zum Archiv

Meine Verunnsicherung nach Abschluss eines Textes, vor allem bei längeren Erzählungen oder Romanen, rührt wahrscheinlich von meiner negativen Schulerfahrung her. Sprachunterricht stempelte mich immer zum Versager. Latein. Englisch. Deutsch. Immer hielt ich mich für unbegabt, eine dieser Sprachen regelkonform zu erlernen. Das lag wohl auch daran, dass ich in meiner Muttersprache keinen sicheren Tritt fand. Oft lief ich Gefahr, dass mir der Dialekt bei meinem verkrampften gymnasialen Bildungssprech dazwischenfuhr. Zu meiner Schulzeit galten Menschen, die im Dialekt sprachen, als ungebildet.

Was für ein unsinniger Bildungsdünkel. Als würde man komplexe Sachverhalte im Dialekt nicht ebensogut zum Ausdruck bringen können wie in der Bildungssprache, diese künstliche Sprechweise, die außer in der Schule, an Universitäten und in intellektuellen Diskursen niemand beherrscht und auch nicht versteht, letztlich nur den Bildungseliten und ihren Kapitalgebern und der systematischen Unterwerfung und Demütigung von Menschen, was sage ich, von Kindern und Jugendlichen dient.

Nur mein unbändiger Glaube daran, dass aus mir ein Schriftsteller werden kann, ließ mich dann doch noch meine eigene Sprache finden. Gegen und nicht dank meiner Lehrerinnen im Fach Deutsch fand ich zu meinem eigenen Sprechen. Ich lernte die Regeln der deutschen Sprache erst nach der Schule zu lieben und entdeckte in ihnen unzählige Geschichten, die es aufzudecken und aufzuschreiben galt und gilt.

Meine Lernbiographie beweist einmal mehr, dass aus einem scheinbar unbegabten Arbeiterkind doch noch ein passabler Schriftsteller, Verleger und Deutschlehrer werden kann, auch gegen den Widerstand eines Schulsystems, das vor allem damit beschäftigt ist, all jene, die sich den Regeln nicht beugen, auszugrenzen und mit dem demütigenden Urteil: unbegabt oder faul, zu brandmarken.


20.200.705:1.401 Zum Archiv

Ich habe als Kind nicht viel gelesen. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt ein Kindheitsexistenz hatte, eine Kindheitsvita. Etwas, das ich als mein Kindheits-Ich bezeichnen könnte. Es gibt zahllose Bilder, die in mir aufsteigen, wenn ich mich zurückerinnere, eine städtische Leihbbücherei. Bücher mit einem blauen Buchrücken in der Glasvitrine meines Großvaters. Bücher, die ich zu Geburtstagen und an Weihnachten bekam. Drei Bände Winnetou. Comics, die ich in einem Geschäft gegen gebrauchte Comics getauscht oder dort erworben habe. Auch Schundromane wechselten so ihre Besitzer.

Diese Läden sind aus dem Wiener Stadtbild verschwunden und fast wäre ich versucht zu sagen: mit ihnen auch meine ersten Leserfahrungen. Das richtige und ausgiebige Lesen lernte ich durch Hesses Steppenwolf. Und in der Rückschau scheint es mir, als hätte ich damals überhaupt erst soetwas wie ein Leben erhalten. Mit den Büchern Hesses gelang es mir eine Schneise in jenes Ich zu schlagen, das sich durch die Fremdheit der anderen in mir eingenistet hatte. Ich verstand Harry Haller damals nicht wirklich, aber ich wusste, dass ich mit ihm verwandt war, mehr als mit allen Verwandten aus meinen elterlichen Blutslinien.


20.200.704:1.029 Zum Archiv

Wie in Kindertagen. Schmale Pfade führen zum Gesang der Vögel. Umwege sind sichtbar und die Abwege vorbereitet. Schmal. Beinahe undurchdringbar. Ein Wald. Eine Lichtung. Ein Ausblick auf Hügelketten. In einen vielversprechenden Sommer. Die Welt atmet das Jetzt ein und haucht die Erinnerung aus. Wie diese unsere Zeit still steht. Eine handvoll Rast und Ruh. Ausgesetzt der Stille wird der Wind hörbar. Das Knarren der Äste spürbar. Das Spechtklopfen wie das rhythmische Pochen des Herzens. Alles ist allem zugehörig. Die Fremdheit im Inneren schweigt. Zurückgelassen bei den anderen. Nichts ist fehl am Platze. Blumen. Ungeschnitten. Vasenlos. Einfallslos in ihrer Farbigkeit. Lila. Blautöne. Gelb. Zu allerletzt Weiß. Unschuld. Blühen und Werden. Kein Versprechen auf Not und Sterben. Alles gleicht dem Ursprung. der Herkunft. Heimat. Kein Blut. Kein Boden.


20.200.703:1.831 Zum Archiv

Die Welt ist in ihren Äußerlichkeiten geometrisch und mathematisch organisiert, in ihrem Inneresten jedoch wird sie von der Grammatik zusammengehalten.


20.200.703:1.531 Zum Archiv

Lese in den Literaturen, die von der Zeitschrift Cicero aufgekauft wurden, kurze Kommentare von Autoren und Autorinnen über ihre Leserfahrungen. Das bringt mich ins Grübeln. Meine frühsten Leserinnerungen führen zurück in meine Kindheit zu Pippi Langstrumpf, zu den Kindern aus Bullerbü, Bärli Hupf.

Es gibt in meinem Leben, denke ich, nicht die eine Lesererfahrung, die von meinem ersten Buch zum heutigen professionellen Lesen geführt hat. Ich habe nicht nur eine gebrochene Leseexistenz, sondern auch früh mit dem Schreiben begonnen, was meinem Lesebedürfnis abträglich war, denn das Schreiben beförderte zwar mein Denken, aber das Lesen trat dadurch in den Hintergrund. Im Vergleich mit befreundeten Schriftsteller*innen halte ich mich für unbelesen.

Lesen war und ist für mich kein Eintauchen in eine andere Welt, sondern strengt mich an, weil es die Aneignung fremder Welterfahrungen ist. Auch wenn das Lesen mich anregt und meinem Schreiben wichtige Impulse gibt, bin ich doch nur im Denken heimisch. Und diese Sesshaftigkeit im Denken, kommt durch mein Schreiben zur Sprache. Ich kann mir ein Leben ohne Lesen vorstellen, aber kein Leben ohne freies, offenes, selbstbestimmtes Denken und Schreiben.


20.200.702:0.633 Zum Archiv

Es herrsche Krieg, sagen sie. Und dennoch alles so still in unserem Frieden. Kein Donnergrollen. Über den Bergen ein lautloses Blitzen. Regen zieht über den See. Ein Röhren. Der Hirsch markiert sein Revier. Kein Zischen aus Gewehrkolben. Sirenen schweigen. Geweint wird heimlich. In den Nadelbäumen verfängt sich das Prasseln der schweren Regentropfen. In den Fängen versteigt sich kein Rauch. Die Häuser stehen auf festem Grund.

Dennoch sagen sie, es herrsche Krieg.

In ihrer Stimme eine Gewissheit, die einen schaudern lässt. Glaubhaft wird versichert, dass sich in der Welt der Hunger ausbreite wie ein Gechwür. Und in den Zweigen singt der Wind das alte Lied von der Ruh über den Gipfeln. Und dem Tod, der sich durch den Gesang der Vögel ankündigt. Die Glocken bimmeln an den Hälsen des Schlachtviehs. Die Idylle ist immer gefährlich. Im Hof geht der Bauer seinem Tagwerk nach. Die Wochenendmäher halten das Gras kurz. In frisch bezogenen Betten begegnen sich die Menschen im Gleichklang des Begehrens. In den Laken liegen sie Haut an Haut. Träumen von Abenteuern.

Und dennoch sagen sie, es herrsche Krieg.


20.200.701:0.739 Zum Archiv

Schreiben und unterrichten haben vieles gemeinsam. Die unangenehmste Gemeinsamkeit ist die Ungewissheit, ob eine Text oder eine Unterrichtsstunde gelungen ist. Manchmal fahre ich von der Schule nach Hause und spüre ein tiefes Unbehagen darüber, dass es ein verlorener Tag für die Schüler und Schülerinnen gewesen sein könnte. Ich nicht in der Lage war, etwas von dem zu vermitteln, was ich mir vorgenommen habe.

Letztlich bleibt immer die Frage nach der Messbarkeit von Ertrag im Unterricht. Immer wird nur aus der zeitlichen Distanz sichtbar, ob eine Übungseinheit gelungen ist, erst nach Wochen und Monaten der Arbeit, des Denkens lässt sich feststellen, ob es Fortschritte gibt, Entwicklungen. Daher sind die obersten Prämissen des Lehrberufes Geduld und ein Urvertrauen in die kognitiven und emotionalen Möglichkeiten von Schüler*innen.

Jeder Schultag ist ein zähes Ringen um die richtige Sprache, den richtigen Tonfall, die richtigen Fragen. Als Lehrer muss man eine hohe Frustrationstoleranz gegenüber Niederlagen haben, denn ein didaktischer Sieg ist nicht leicht zu erringen. Gleiches gilt für das Schreiben, bei dem das Scheitern vom ersten Satz an, mitgedacht werden muss. Ein Satz, der Bertolt Brecht zugeschrieben wird, gilt nicht nur für die Literatur, sondern eben auch für das Unterrichten: Damit auf einem Misthaufen ein goldener Hahn krähen kann, muss man zu allererst einen Haufen Scheiße produzieren.

Leider lässt uns der Schulalltag nicht genug Zeit, um ausreichend große Misthaufen zu produzieren. Wir sind so in das Gelingen von Unterricht verliebt, dass wir gar nicht realisieren, dass die fehlgeschlagenen Stunden oft die produktivsten sind.


[20.2006] [20.2008]