20.210.923:0.731 Zum Archiv

Ihm selbst war die Welt des Supermarktes vertraut, hatte er sie doch von Kindheit gleichsam mit der Muttermilch in sich aufgesogen und konnte sich in ihr bewegen, wie ein Fisch im Wasser. Jedes Stückgut war ihm geläufig in seiner immerwährenden Erscheinung. Jede Delikatesse ein Spiegel seiner selbst. Der Supermarkt gab Sicherheit. Und verschwand ein Artikel für immer aus den Regalen, war es wie der Tod eines geliebten Haustiers, ein unwiederbringlicher Verlust, als wäre ein Freund gestorben, eine Welt verloren.

Seltsam, dachte er, wie die Waren ihm selbst doch glichen und er am Ende seines Weges durch das Labyrinth der Warenwelt nicht wusste, wer für wen da war, die Waren zu seinem Vergnügen oder stand er als Käufer als Garant für ihr Überleben.

Mit dieser unbeantworteten Problem lud er das eingesammelte Hab und Gut in seinen Kofferraum und folgte der Spur, die er bei der Ausfahrt ausgelegt hatte, zurück in sein Zuhause. Dort verwahrte er in Kästen und Schubladen die eingesammelten Waren. Und auf das Jagen und Sammeln folgte das Zubereiten, das Kochen und Garen, der Verzehr, der manchmal einem Beischlaf glich, schnell und auf das Stillen des Hungers ausgelegt und an anderen Tagen wie eine heilige Zeremonie, als würde man den Göttern huldigen und sie preisen, wenn man die Waren in besonderer Weise zubereitete.

In der Welt, die er vor Jahren hinter sich gelassen hatte, in die er nur noch auszog, um sich mit Nahrung zu versorgen, hatte auch das Kochen, das früher dazu diente, den Körper ausreichend mit Kalorien zu versorgen, um das Dasein zu verkraften, beinahe zeremonielle Formen angenommen. Da wurde gebrüht und gesiedet, in Kesseln brodelten die exotischsten Speisen. Kochbücher beschrieben die raffiniertesten Gerichte, zur Freude der geübten Gaumen.

Er selbst konnte jedoch die Bedeutung, die Menschen dem Essen zugestanden, nicht nachvollziehen. Aber er konnte sie nachvollziehen. Durch den weihevollen Vollzug der Zubereitung, erhob der Mensch sich über seine tierische Natur, wuchs über seine bloße, nackte Existenz hinaus. Er konnte diesem Wollen keine Folge leisten, denn für ihn war Essen wie Beischlaf, eine Frage des Bedürfnisses, der Sehnsucht, des Augenblicks, von Stimmungen und Verstimmungen.

Für religiöse Huldigungen und Betrachtungen war er noch nie empfänglich gewesen.


20.210.922:0.530 Zum Archiv

Ich brauche den Wald, weil er der Anfang von allem ist, weil er mich durch meine Jugendjahre brachte. Ich brauche den Wald, weil seine Vielstimmigkeit und Stille mich durch die Welt begleitet. Sein üppiges Grün stillt meine Sehnsucht nach dem Augenblick. Ob es nun der Mischwald meiner frühen Tage ist oder der Wald der Berge und Täler meiner späten Jahre, er nährt mich und fragt nicht. Er nimmt nicht, er gibt.


20.210.921:0.831 Zum Archiv

Der Mensch beharrt auf dem Eigenen und bleibt sich doch immer fremd. Gewissheit verschafft ihm in dieser Fremdheit nur sein Abbild, die Welt seiner Erzeugnisse, die Zeugnis ablegen können, von seiner Existenz, denn durch ihre Darstellung und Ausstellung erlangt der Mensch seinen ursprünglichen Sinn als Konsument zurück, als Jäger und Sammler, welcher er von Anbeginn der Zeit gewesen ist. Das Wesen des Menschen ist das Konsumieren. Die Gestalt des Produzenten, des Ackerbauern und Viehzüchters, die er später annahm, war nur der Versuch, sich aus der Natur zu lösen und das Konsumieren als kulturelle Existenzform zu tarnen. Was früher die Natur zur Verfügung stellte, kann er nun selbst hervorrufen, er kann sich sein eigenes Schlaraffenland begründen, kann Wasser in Wein verwandeln und Hühner in gebratenes Fleisch, das er an jeder Ecke einsammelt, um es später, in der heimatlichen Höhle, zu verzehren.


20.210.916:1.438 Zum Archiv

Frau will eine gendergerechte Sprache, eine den sozialen und ethnischen Bedingungen gegenüber gerechte Sprache. Eine, die alle sichtbar macht, alle gleich behandelt, gleich wichtig nimmt. Eine solche Sprache mag dem Bürger und der Bürgerin vielleicht gerecht werden. Dazu muss frau aber Stellung beziehen, sich einmischen, die herrschenden Verhältnisse stürzen. Eine Revolution anzetteln. Ich bin mir nicht sicher, ob frau dazu bereit ist.

Andererseits: Kann Sprache überhaupt für Gerechtigkeit sorgen? Ist Sprache nicht immer auch Ausdruck herrschender Machtverhältnisse und setzt ein gerechtes Sprechen nicht eine gerechte Gesellschaft voraus? Um eine gerechte Gesellschaft herzustellen, müssten alle privilegierten Frauen zugunsten der unterprivilegierten Frauen und Männer auf ihre Privilegien verzichten. Ebenso wie sie es von den Männern wie selbstverständlich verlangen. Und keine sage mir, es gäbe keine privilegierten Frauen unter denen die eine gendergerechte Sprache fordern.

Gerechtigkeit ist kein exklusives Recht für einige wenige Privilegierte, die es sich richten können, sondern etwas, das sich strukturell in allen gesellschaftlichen Bereichen verwirklichen muss, um den Anspruch einzulösen, der sich sprachlich im Wort gendergerecht verbirgt. Gerechtigkeit ist keine Frage von Reformen, sondern von Revolutionen. Gerechtigkeit fordert nicht weniger als den Umsturz aller bestehenden Herrschaftsverhältnisse, den Verzicht auf Gewalt, egal von welchem Geschlecht auch immer sie ausgehen mag.


20.210.915:0.605 Zum Archiv

Die Fülle der Waren in Supermärkten, ihre Gleichartigkeit bei höchstmöglicher Differenz und doch gleichem Nutzen, überrascht mich immer wieder. Ein nicht versiegender Strom von Produktion und Konsumation. Nehme ich zwei Produkte mit, wachsen zwei nach. Nehme ich zehn, wachsen zehn nach. Nehme ich alle, stehen Tage später formgleiche Packungen im Regal, dieselben Gebinde, die gleiche Farbe. Selbst die Schrift gleicht der Schrift aus früheren Tagen. Kopie und Original zugleich. Werden die gleichartigen Packungen jedoch aus ihrem Umfeld gelöst und nach Hause getragen, erscheinen sie nicht mehr als Abbild, sondern als einzigartige Urform, geschaffen, um allein mich glücklich zu machen.

Wie im Märchen vom Schlaraffenland, wo alles im Überfluss vorhanden ist, wo in den Flüssen Milch und Honig fließt und die Häuser aus Kuchen gebaut sind und in den Gärten liegen keine Steine auf den Wegen, sondern Käseplatten, Müßiggang gilt als Tugend und Arbeit und Fleiß als Sünde. Ein Land nach meinem Geschmack und ich käme als Einwohner dem Ideal dieser Utopie sehr nahe. Und jeder darf auf seine Weise glücklich werden, nicht weil die Menschen sich von einander unterscheiden, sondern weil ihr einziges Begehren darin besteht, die Überfülle anzunehmen und darin zu nisten, wie ein Adler in seinem Horst, unantastbar. Damit ist ein jeder in seinem Bestreben, das ihn Umgebende anzunehmen, zu verzehren und zu gebrauchen, ein Gleicher unter Gleichen.

Was mich seit jeher umgetrieben hat und eine unbeantwortete Frage aufgeworfen hat: Warum Menschen auf der Vorstellung beharrten, sie wären einzigartig, unverwechselbare Subjekte? Dieser Gedanke ließ sich im Angesicht der millionenfachen Duplikate, die sich in Supermärkten aneinanderreihten wie ein endloses Band, das die Welt zusammenhält, nicht aufrechterhalten. Jedes Produkt für sich ein Original, doch unter all den anderen erscheint ein Leben wie das andere. Nirgendwo zeichnete sich die wahre Natur des Menschen stärker ab, als hier, in der von Menschen geschaffenen Welt der Waren.


20.210.914:9.145 Zum Archiv

Manchmal lässt mich die Welt sprachlos zurück. Habe heute einen Satz gelesen, der mich doch nachdenklich gestimmt hat. In der Schule von Morgen soll es soviel digital wie möglich und anlog wie notwendig geben. Ein derartiger Zugang zum Unterricht scheint vom Glauben beseelt, dass mehr Digitalität automatisch eine bessere Schule bedeutet. Dem ist wohl nicht so, denn dies würde ja bedeuten, dass analog ausgebildete Menschen, im Grunde wir Boomer, eine bessere Bildung genossen hätten, wenn unsere Schulen bereits digital gewesen wären.

Der Glaube an den technologischen Fortschritt, an das digitale Universum lässt uns die simple Tatsache verkennen, dass Lernen nur durch emotionale und soziale Bindung funktioniert. Die Bindung an Lehrer*innen ist das, was Lernen und Lehren gelingen lässt. Das Denken lässt sich nur durch Diskurs formen. Und Diskurs bedeutet sprechen. Davon wussten schon die alten Griechen ein Lied zu singen und auch im Film "Club der toten Dichter" wird dies verdeutlicht. Lernen braucht intellektuelle und soziale Vorbilder, nicht mehr Digitalisierung. Und vor allem Zeit, nicht mehr Technik.

Geben sie einem schelchten Lehrer alle nur erdenklichen digitalen Tools an die Hand, er wird sich dadurch nicht in einen guten verwandeln. Ein guter Lehrer zeichnet sich meines Erachtens durch eine breite Bildung, durch eine klare politische Haltung, durch einen schülerzentrierten Unterricht und eine ausgeprägte Kritikfähigkeit aus. Nur in der analogen Begegnung kann das Denken, welches ja analog funktioniert, in unseren Gehirnen, in Kombination mit einer offenen, fairen und gleichgestellten Auseinandersetzung wachsen. Und nur dort, wo das Denken frei ist, ist gelingendes Lernen möglich. Die digitale Welt macht uns unfrei. Zwingt uns in Schablonen und die Welt wird zusehends von Algorithmen beherrscht. Die Welt wird also immer häufiger mathematischen Strukturen unterworfen und verliert dadurch ihre grammatische Bedeutung.

Der Mensch ist von seinem Wesen her jedoch nicht mathematisch, sondern grammatisch. Deshalb würde ich meinen, wir brauchen in der Schule soviel Analoges wie möglich und soviel Digitales wie nötig. Eine Reform der Schule, die das Digitale im Auge hat, also die Äußerlichkeit, verkennt, erfolgreiche Lernprozesse immer etwas mit innerer Motivation zu tun haben. Und diese Motivation ist immer analog.


20.210.913:0.555 Zum Archiv

Möglicherweise habe ich nur deshalb zu schreiben begonnen, um den Unsinn der anderen in Sinn zu verwandeln.


20.210.911:1.232 Zum Archiv

Das Morgen ist schon lange kein Versprechen mehr, sondern eine Drohung. Die Utopien der letzten Jahrhunderte haben sich in Dystopien verwandelt. Darum ist es so schwierig, über das, was noch zu tun wäre, im Indikativ statt im Konjunktiv zu schreiben. Vielleicht war das der tiefere Sinn von Kafkas Liebe zum Konjunktiv. Heute müssen wir über das Kommende im Indikativ sprechen, weil der Verlust aller Utopien in der bürgerlichen Mitte uns mit einer gewissen Zukunft konfrontiert.


20.210.909:0.824 Zum Archiv

Was bedeutet es, wenn einer sagt, er wolle in Würde altern. Früher hat einer sich auf sein Altenteil zurückgezogen. Eine Bank vor seinem Haus als Zielort gewählt, darauf geruht und gewartet, dass der Tod ihn findet. Heute fahren die Alten mit ihren SUVs durch die Welt, auf der Suche nach dem Leben und verpassen es gerade deshalb.

Ich denke, in Würde altern heißt, dass einer sich mit dem Tod beschäftigt, ihm ins Auge blickt und ihn erwartet, in Geduld und voll Demut. Ich hoffe, dass mir gelingt, mich auf das Wesentliche zu besinnen. Die Beständigkeit der Tage, die am Rande zum Herbst am deutlichsten zu Tage treten, anzunehmen, als wären sie ein Teil von mir.


20.210.908:0.927 Zum Archiv

Wir sind die Vielen. Die Boomer. Wir werden gesellschaftlich für drei Dinge gebraucht. Wir dürfen zuallererst alle paar Jahre unser Kreuz an der richtigen Stelle abgeben. Wobei die richtige Stelle sich aus der Tatsache ergibt, dass es mittlerweile vollkommen gleichgültig ist, in welchen Kreis wir unser Kreuz setzen. Wichtig ist, dass wir als Stimmvieh unsere Schuldigkeit getan haben, wie wir es jahrelang in der Schule lernten: Die Demokratie ist nicht die beste Regierungsform, aber wir kennen keine bessere. Nicht nur, dass wir diese Lüge einfach hingenommen haben, nein, wir haben sie auch verinnerlicht und sind aufrechte und gute Staatsbürger geworden. Systemerhalter. Und dabei sind die Frauen ausdrücklich mitgemeint.

Wir Boomer haben es nicht geschafft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Unter unserer Regentschaft haben wir den Hunger nicht beseitigt, unter unserer Herrschaft ist die Schere zwischen arm und reich weiter aufgegangen als je zuvor. Unter unserer pädagogischen Führung haben sich die Schulen in einen Sumpf verwandelt, in dem jeder versinkt, der nicht mithalten kann oder will. Unsere pazifistische Pose, hat Kriege ohne Zahl auf dieser Erde hervorgebracht. Frauenmorde stehen auf der Tagesordnung. Die meisten Arbeitslosen leben an der Armutsgrenze. Wie gesagt, wir sind die Systemerhalter, wir halten den Kapitalismus am Laufen.

Und damit sind wir bei der dritten gesellschaftlichen Funktion, bei der wir unentbehrlich sind: Wir müssen konsumieren, denn wollen wir unseren Wohlstand erhalten, müssen wir einkaufen. Alles, immer und jederzeit. Und viele von uns haben die Ökonomie dazu, nicht nur weil sie schuften wie die Ochsen, sondern weil sie eines Tages ein unfassbares Vermögen von ihren Eltern erben werden - der Wirtschaftswundergeneration. Und wir werden die letzten Reserven unserer Eltern und Großeltern mit vollen Händen verprassen. Und irgendwann werden unsere Kinder und Enkelkinder an unsere Türen klopfen und sagen: Wo seid ihr gewesen, als es zu Ende ging? Was habt ihr getan, um uns ein gedeihliches Auskommen und gutes Leben zu sichern?

Und was wird unsere Antwort sein. Es wird die Antwort unserer Großeltern und Eltern sein. Die Antwort der Massenmörder und der Wirtschaftswunderkinder: Wir haben unsere Pflicht erfüllt. Ja, und auch wir werden sagen: Wir haben unsere Pflicht als Wähler, Systemerhalter und Konsumenten erfüllt. Und wieder sind die Frauen explizit mitgemeint und auch die Diversen, denn auch sie haben ihren Teil dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaften alle utopischen Vorstellungen einer besseren Welt aufgegeben haben, zugunsten der Erhaltung des status quo.

Wir sind die Boomer. Wir sind die Vielen. Wir haben die Welt in einen Ort des Schreckens, der Ausweglosigkeit und damit in einen Ort ohne Zukunft verwandelt.


20.210.904:1.732 Zum Archiv

Es geht zwar zu Ende, wie Beckett einst in seinem Endspiel geschrieben hat, aber es ist eben noch nicht zu Ende. Wir sind zwar alle schon tot, wir wissen es nur noch nicht, hat Phettberg in den Neunzigern gesagt. Das hat sich zwar langsam rumgesprochen und ist in Zeiten der Klimaerwärmung und der Pandemie ja auch kaum noch zu negieren. Aber dennoch. Es wäre noch soviel zu tun bis zum vorausgesagten Ende, das jeden von uns zumindest individuell trifft, denn bisher ist noch jeder gestorben, selbst Jesus. Der Auferstehung ging ja schließlich auch seine Ermordung voraus.

Da ich trotz messianischen Größenwahns nicht mit Auferstehung rechnen kann und will, muss ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und bald einmal den Löffel abgeben. Doch bis dahin wäre noch viel zu tun. Ich wollte immer schon ein Buch über Hermann Hesse schreiben, früher einmal eine Biographie, doch das lohnt nicht mehr. Die Liste der biographischen Arbeiten ist lang und beinahe unbewältigbar. Da macht ein weiteres Buch wohl auch das Kraut nicht mehr fett. Einen Text wollte ich schreiben über das Verhältnis von Zeit und Raum in Kafkas Werk. Vielleicht in der Pension, wenn ich den Rubikon in den Wartesaal zum bevorstehenden Ende endgültig überschritten haben werde.

Auch ein paar Reisen wollte ich noch machen, nach Schottland, noch einmal Norwegen und dann doch das Nordcap erreichen, vielleicht einen Sommer an der Ostsee, in Mecklenburg-Vorpommern. Das klingt nach Wind und Abenteuer, auf den Spuren von PW wandeln, der sich in dieser Gegend als Kind und Jugendlicher durchgeschlagen hat. Oder ein langes Jahr nach Griechenland, wenn sich die Rauchschwaden verzogen haben und alles ruhig ist. Lustwandeln entlang der Küstenlinien. Abends den Duft des Oleanders aufnehmen, essen und trinken, als gäbe es kein Morgen.


[Zum Archiv 20.2108] [Zum Archiv 20.2110]