20.211.022:0.817 Zum Archiv

Als er erwachte, roch er ihren Körper. Sie duftete nach schlafwarmer Haut und ihr Haar nach süßen Träumen. Er lauschte ihrem tiefen Atem, der die zurückliegende Nacht einsog und wie ein Traumgebet ausstieß. Ihre Nacktheit konnte er an den Fingerkuppen seiner Hand spüren, die träge und schlaftrunken auf ihrer Hüfte ruhte. Trocken klebte seine Zunge am Gaumen. Seinen Durst bezwang er, um sie nicht in Bewegung zu versetzen. In Schwingungen. Für ein paar Augenblicke wollte er sein Begehren an ihrer weichen Falte auskosten. Der Vorhang seines Blickes weigerte sich noch die Bühne des kommenden Tages preiszugeben. Der Gunst ihrer Anwesenheit, ihrer Wärme, ihrer Trägheit wollte er nicht verlustig gehen. Ein verräterisches Zucken seiner Hand wurde ihr Weckruf und ihre Geister füllten seinen Morgen mit ihrem Erwachen.

Zugleich entzog sich ihr Körper seiner Hand, richtete sich an der Bettkante auf. Sie drehte sich noch einmal um, beugte sich zu ihm hinab, gab ihm einen Kuss auf die Wange und nun öffnete er seine Augen. Durch den Vorhang brach ein schmaler streifen Licht, fiel auf ihr Haar, ihre Schultern, ihre Brust und ihre Hüfte. Ihr Lächeln ein Lippenspiel, das ihm verkündete, alles sei gut und die Prüfungen der Nacht hätten sie bestanden und als Paar blieben sie vereint, gerüstet für den Tag.


20.211.021:0.730 Zum Archiv

Früher grüßte man sich, wenn man sich begegnete. Auf einem Spazierweg. Durch die Gassen der Stadt. Auf Landwegen. Wanderungen. Lüftete den Hut leicht mit der einen Hand und schlug mit der anderen Hand in die entgegengestreckte ein. Man sprach ein leises Grüß Gott, schwatzte ein wenig. Tauschte sich aus über den neuesten Klatsch und Tratsch, unterhielt sich über die neuesten Entwicklungen in Wirtschaft und Politik, ließ sich zu einem unbedachten Gerücht hinreißen, verabschiedete sich und jeder ging seiner Wege.

In Zeiten wie diesen kennt man sich kaum, stellt Vermutungen an, wer die Person gegenüber sein könnte, wem sie ähnelt. Achtlos und in Gedanken geht man aneinander vorüber. Nicht aus Böswilligkeit. Gründe dafür gibt es viele. Zeitnot. Bedeutungslosigkeit. Sprachlosigkeit. Die Geschichten gleichen sich zu sehr, um sie auszutauschen. Der Gegenwert, den man erhielte, würde das Innehalten nicht rechtfertigen. Manchmal reicht es gerade noch für ein aus der Ferne zugerufenes: Hallo, wie geht's! – Und schon ist man einen Schritt weiter. Hörte das: Gut! – wie ein schwaches Echo.

Die Bedeutung, die einem früher durch die Tonlage des Grußes zugesprochen wurde, ist kaum noch zu erahnen. Die Begegnungen sind flüchtig, der Gedanke kaum gefasst, schon verklungen. Die Arbeit wartet. Alles muss erledigt werden. Rasch. Unaufhaltsam. Die Aufträge abgearbeitet. Weitergereicht. Die Kette der Sachzwänge, die durch das Lüften des Hutes gerissen wäre, muss halten. Auch um den Preis, dass wir wieder ein Stück Menschlichkeit verlieren.


20.211.020:0.730 Zum Archiv

Wenn mich die Aufklärung und in der Folge dieser Aufklärung der Sozialismus, der Kommunismus und der Anarchismus etwas gelehrt haben, dann die Idee, dass wir unser Leben nicht dazu leben, um reich zu werden, sondern um eine Idee zu entwickeln, wie wir leben wollen. Betrachte ich die Aufklärung aus diesem Blickwinkel, dann ist die Frage die Politik, Wissenschaft und Kunst stellen sollten, nicht: Wie wollen wir herrschen?, sondern: Wie nutzen wir unsere Möglichkeiten, die Welt in einen besseren Ort für alle zu verwandeln und unsere Möglichkeiten zur Macht zu nutzen, diese Vorstellung von Welt auch zu erreichen.

In diesem Sinne war mein Antrieb, nie berühmt zu werden (auch wenn ich eine unstillbare Sehnsucht danach hatte), nie reich zu werden (auch wenn ich mir immer ein Haus am Meer gewünscht habe), nie beliebt zu sein (auch wenn mein Ego sich danach verzehrte), sondern Kunst zu machen, um meine Sicht auf die Welt zu verändern und damit mich selbst in ihr zu wandeln. Und wenn ich zurückblicke, auf das, was ich an Wegstrecke hinter mich gebracht habe, dann bin ich der geworden, der ich immer schon sein wollte: ein Schriftsteller. Einer der Welt erfindet, um Welt sichtbar zu machen, wie sie nie zuvor gewesen ist.

Das ist der Kern aller Politik, aller Kunst und aller Utopien, letztlich der Kern meiner Selbst.


20.211.019:0.751 Zum Archiv

Verlagsarbeit ist für mich nicht der Versuch, auf einem Markt Fuß zu fassen, wie auch immer dieser benannt werden könnte, sondern er ist eng verwoben mit Begriffen wie Freundschaft und Solidarität. Verlagsarbeit bedeutet ja nicht, lediglich Bücher zu produzieren, sondern die Schreibenden in ihren Sehnsüchten nach Sichtbarkeit, der Ermöglichung von Echo für ansonsten echolose Werke zu unterstützen und einen Diskurs über das Schreiben und Dichten zu ermöglichen. Verlagsarbeit selbst ist Teil des künstlerischen Prozesses, der ja immer auf ein Gegenüber ausgerichtet ist, nie für sich selbst steht, sondern immer für die anderen, immer der Versuch ist, Kommunikation mit der Welt in einer immer sprachloseren Welt herzustellen.

Es handelt sich dabei oftmals auch um Dokumentationsprojekte, wie Brecht einmal so treffend formulierte: Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In Ihnen ist die Sprechweise des Verfasser enthalten, eines wichtigen Menschen. Was Brecht hier über Gedichte sagt, lässt sich auch auf andere Genres übertragen. Letzlich handelt sich bei Verlagsarbeit um die Sichtbarmachung des Verborgenen, eines Menschen, von Gedanken, die es andernfalls nie zwischen zwei Buchdeckel geschafft hätten, gäbe es keine Verlage, die jenseits der kapitalistischen Logik ihr Handeln vorantreiben.

Letztlich bedeutet es aber auch, die Rettung all dessen, was in digitalen Welten herumlungert und um Aufmerksamkeit buhlt und im Labyrinth der Einbahnbeziehungen kaum noch Eingang in den globalen und multimedialen Diskurs findet und mit dem Tod und der Löschung der Webpublikation verschwindet. Der Mythos, dass das Netz nichts vergisst, gilt ja nur für die, die bereits Aufmerksamkeit haben. Alle anderen bleiben so vergessen, wie es ihre Kunst auch analog gewesen war. Natürlich lagern diese Produkte dann in Bibliotheken wie ein guter Schinken, der zur Reife gebracht wird. Unbemerkt, unausgeliehen, verloren. Dennoch ist der Gedanke, die Geschichte, der Mensch in seinem Buch materialisiert, in der Karteikarte sichtbar und nutzbar gemacht, und das Leben des Autors dadurch gerettet, um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen.

Wir sollten als Schreibende das Produzieren von Büchern nicht den multinationalen Medienverlagen überlassen, die nicht sehen, was an den Rändern existiert, auch nicht denen, die sich immer damit rühmen, Qualität hervorzubringen. Wir sollten dem etwas entgegensetzen, etwas das nichts mit Inhalt, mit Diskurs oder gar Kritik zu tun hat, etwas, das wichtiger ist als alle Ansprüche auf einen künstlerischen Genius, etwas das werthaltiger ist, als Kapital.

Wir sollten den Menschen eine Stimme geben, einen Ort und ein Buch.


20.211.017:1.416 Zum Archiv

Es war der Tag danach und er wusste, dass sie auf ihn warten würde. Ihre Befindlichkeit war sein Wille. Der Tag der Sühne, an dem er durch sein Begehren, seinen Blick ihre Schuld tilgen sollte. Nein, musste, denn es war Teil der Abmachung, die seit ihrer ersten Begegnung bestand, zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes in ihrer Beziehung. Die Strafe musste er für sie auf seinem Habenkonto verbuchen, damit ihr Soll befreit würde, von der Last ihrer Ausschweifungen, die sich in ihren Körper eingezeichnet hatten. Und er tat es mit Freude, denn alles andere wäre unangemessen gewesen, denn nur so konnte sie von ihrer Schuld, die sich selbst zuschrieb, befreit werden und sie ihr Leben, durch die Sühne im hervorbrechenden Tag, weiterleben - mit ihm.

Er wusste was zu tun war, öffnete den Knoten in ihrem Haar, das sich augenblicklich auf ihrem Rücken ausbreitete, an den Seiten abfiel. Demütig senkte sie den Kopf. In Erwartung seiner Männlichkeit. Und er konnte es riechen, das Abenteuer der vergangenen Nacht, das Aroma, das ihr Körper verströmte, war der Odem ihrer Freiheit. Es war dieser Geruch, der aus all ihren Poren strömte, die Feuchtigkeit, die aus ihrem Schoß austrat, während sie auf ihn wartete, ihm die Üppigkeit ihres Körpers darbot.

Er trat zu ihr, nahm ihr Kinn, hob es leicht an, sodass sie ihn sehen konnte. Er betrachtete sie, strich das Haar aus ihrem Gesicht, nahm ihren demütigen Blick auf, zuckte und nistete sich zwischen der Wärme ihrer Lippen ein. Seine Fingerkuppen strichen über die Linien ihrer Schultern. Er langte nach ihrem Haar, verbarg darin seine Lust. Geriet in Bewegung. Verließ sie. Umrundete sie. Betrat die Bühne ihrer Fülle und Willigkeit. Und nahm sie mit Macht.

Keine Stelle ihres Körpers blieb verschont. Über jedes Stück Haut verfügte er mit seinem Willen, den er sich über die Tage nur für sie aufgespart hatte, für diese Momente der vorhergesehnen Vergeltung. Er zog ihre Rundungen an sich und nutzte ihre Wärme als Triebmittel, ihre Spalte als Balsam für seine Gier, die sich in ihm ausbreitete, an der sich ihre Sünde mit seinem Begehren danach vereinte. Ihr Körper diente ihm als Brandbeschleuniger und am Ende als warmes Nest für seinen aus ihm ausströmenden Regen, der wie in den Tropen alles benetzte und selbst den trockensten Boden in triefend fruchtbaren Morast verwandelte.

Am Ende traten sie beide freigesprochen, unbelastet, entschädigt aus dem Morgengrauen hervor. Seine Männlichkeit kehrte in seinen angestammten Wohnsitz zurück und ihre Weiblichkeit bedeckte seine Hüften.


20.211.015:1.637 Zum Archiv

Angesichts der Diktatur der Kleinbürger, der Minipotentaten, die sich allüberall in den Institutionen und Familien dieses Landes breit machen, herumhocken wie Spinnen in ihren Netzen und auf Beute lauern, stockt mir der Atem und mein Denken fällt ins Bodenlose.

Angesichts des Zustandes, in den die Welt von den Kleinbürgern und ihren Schergen versetzt wurde, bin ich verzweifelt, weil ich mein Leben tageweise unter ihnen verbringe.

Angesichts der Dummheit, die Kleinbürger zu dem macht, was sie sind, Tellerandgeschöpfe, immer beseelt davon einen großen Sprung zu wagen und doch zu feige für das Mögliche und so verharren sie im Machbaren, utopielos und ohne Fantasie. Getrieben von ihren Ohnmachtsgefühlen, ergreifen sie dort die Macht, wo die Mächtigen sie als nützliche Idioten gebrauchen können.

Es sind die Kleinbürger mit ihren kleinmütigen und kleingläubigen Moralvorstellungen, die alles, was sich jenseits ihres Suppentellerrandes befindet, verfolgen, als wäre es schon deshalb verdächtig, weil es sich ihrer Kontrolle entzieht, und nichts anderes im Sinn hätte, als das System zu stürzen, das sie am Leben hält.

Es sind die Kleinbürger mit ihren vielfältigen Ängsten, ihrer Feigheit vor dem Leben und ihrer unbezwingbaren Mutlosigkeit, die mich in die Stille treiben, hinein in die Wege, die entlang der Wälder führen, wo aller Schmerz endet, in der letzten Stunde, wenn die Sonne sich in den Tälern verflüchtigt.


20.211.016:0.731 Zum Archiv

Ihre Unterwürfigkeit haftete als letztes Zeichen ihrer Schuld an ihr. Seit frühester Kindheit. Durch alle Jugendjahre hindurch. Ihr Mann konnte diese Schuld nicht aus ihr tilgen, für ihre Lust am Leben, an Menschen, am Suchen und Finden, der Jagd. Obwohl beide wussten, dass es dieser Schuld nicht bedurfte, denn sein Leben, seine Lebensweise, stand an manchen Punkten im vollständigen Widerspruch zu dem ihren. Diese Unvereinbarkeit hätte früher oder später zum Bruch ihrer Beziehung, ihrer Freundschaft, ihrer Liebe geführt. Zur Trennung. Nach menschlichem Ermessen. Doch dass eine Kindheit, die ihnen durch den Geburtskanal mitgegeben worden war, sie bis zu ihrem Lebensende bestimmen sollte, schien ihnen beiden widernatürlich, ja beinahe unmenschlich.

Sie waren als Paar, als Liebespaar so stark ineinander verwoben, dass ihnen das Zusammenleben unausweichlich schien. Jeder konnte nicht ohne die andere leben. Nein, sie wollten es nicht. Es war eine Entscheidung, die sie früh in ihrer Beziehung gefällt hatten, zusammenzuleben und einen Weg zu finden, wie sie durch das Leben miteinander, die Widersprüche, die sich aus ihren Leben als Individuen ergaben, als Paar und Gemeinschaft überbrücken konnten. Sie wollten kein symbiotisches Liebespaar sein, in dem die eine kein eigenes Leben mehr ohne den anderen hatte. Sie wollten auch nicht durch Abneigung oder Furcht und Schrecken aneinander gebunden sein. Aus freien Stücken wollten sie dieses Leben gemeinsam zu Ende bringen.

Das hatten sie sich geschworen, ohne Priester, ohne standesamtliche Vereidigung, im Bewusstsein all der Schwierigkeiten und Hürden, die auf sie lauern würden, an allen Ecken und Enden dieser Gesellschaft, denn die Kleinbürger würden sie umkreisen wie die Hyäne das zurückgelassene Aas.

Und zu dem Schwur, den sie geleistet hatten, gehörte es eben auch, sich den eigenen Bedürfnissen offen, und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten, bedingungslos zu stellen. Gegen die innere Sehnsucht, die aus der Kinderzeit noch übrig geblieben war, ein Leben in der Mitte der Gesellschaft führen zu müssen: nützlich, brauchbar, verfügbar.

Sie wollten sich einen Rahmen bauen, aus dem sie nicht fallen konnten und der stark genug war, um alles zusammenzuhalten, was zwischen ihnen als Zwist zu Zerstörung und Chaos führen könnte. Mit aller Vernunft, die ihnen zur Verfügung stand und gegen ihre immer wieder aufkeimende Angst, Feigheit und Mutlosigkeit.


20.211.010:1.002 Zum Archiv

Wenn es für den weltfremden Menschen keine Türen zur Welt gibt, so braucht er Fenster, durch die er in die Welt blicken kann. Und Kunst ist ein solches Fenster. Für mich war, ist und bleibt Literatur ein derartiges Fenster in einer Existenz ohne Türen.


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