20.201.228:1.520 Zum Archiv

Die härtesten Tage liegen noch vor uns, doch den Frühling kann man in diesem späten Jahr schon riechen, schmecken und fühlen. Erahnen lassen sich die wärmenden Ströme, die an den Iden des Märzes über die Berge ins Land einsickern, ein blitz-blanker blauer Himmel über den Seen der Täler. Und die Menschen machen sich bereit, um ihre Körper auf den Wiesen zu entblättern, wie man einen Teppich auslegt an den ersten Frühlingstagen.


20.201.224:0.755 Zum Archiv

Seltsam wie selten Literatur als Kunst begriffen wird. Hört man Bildungsbürger von Kunst sprechen, sind sie rasch bei der Malerei, der darstellenden Kunst, bei den Bildhauern, den Fotographen oder bei der Musik und dem Gesang. Doch Schreiben scheint ein Handwerk zu sein, als sei es keine Kunst, einen Text zu produzieren, sondern harte Arbeit, denn schreiben kann jeder und jede, haben wir alle es doch mit Mühe, und manche mit Not, in der Schule gelernt. Kaum jemand sagt: Schreibkunst.

Den Begriff, der oft fällt, ist jener der Schreibtechnik, auch wenn sich darin der künstlerische Ausdruck reflektiert, da ja das Wort Technik aus dem Griechischen stammt und unter anderem auch Kunst bedeutet. Jedoch, wenn von Technik die Rede ist, dann ist man rasch auch bei dem Begriff der Werkstatt, der Schreibwerkstatt und in einer Werkstatt lernt und übt man ein Handwerk ein und aus. Der Maler hat ein Atelier, der Tänzer eine Bühne und der Sänger ein Podest. Der Schreiber hat einen Schreibtisch, manchmal auch nur Blatt und Papier, ein karges künstlerisches Instrumentarium, keine üppige Farbpalette, kein wohlklingendes Musikinstrument.

Und dann sind da noch die Wörter, mit denen ein Schreiber bedacht wird, wenn über ihn gesprochen wird. Keiner sagt: Oh, sehen Sie mal, da kommt der Künstler!, wenn die Lesung zu Ende ist. Nein, man hört Worte wie: Autor, Schriftsteller und wenn man ihn in besonderer Weise adeln möchte, ihn abheben will vom Durchschschnitt seiner Zunft, fällt schon mal ein leicht dahingehauchtes: Da kommt er, der Herr Dichter.

Im Dichten reflektiert sich das Schreiben als Kunst, jedoch schwingt zugleich ein wenig Ironie mit, in der die Herabwürdigung des Schreibers mitgedacht wird, denn jeder weiß, dass das Malen und Singen nicht jedem mitgegeben ist, der göttliche Funke nicht in jeder sich entzündet, aber beim Schreiber ist man misstrauisch, hat er doch etwas perfektioniert, worauf jeder von uns Anspruch erhebt. Und diese Perfektion wird misstrauisch beäugt, denn sie konfrontiert die Alltagsschreiber mit ihrem Unvermögen, mit ihrer Unzulänglichkeit.

Dem Maler und der Musikerin unterwerfen sie sich, als wäre ihre Genialität eine Naturgewalt, nicht Arbeit, sondern unmittelbarer Ausdruck, in dem sich die Welt enthüllt und einem in die Knochen fährt und einen heiligen Schauer über den Rücken jagt. Der Schreiber macht den Menschen nicht zum Seher oder zum Hörer, sondern er degradiert ihn zum Leser und dadurch zwingt er diesen ins Denken, in die Selbstkonfrontation und letztlich zur Welterkenntnis.

Das Drama des Schreibers, der sich als Künstler verstehen will, liegt darin begründet, dass er das Bewusstsein der Menschen erreichen muss, um es emotional berühren zu können. Das ist aber gleichzeitig seine Erfüllung, denn es ist das, was seine Kunstfertigkeit ausmacht und ihn antreibt, weiterzuschreiben, an der Peripherie dessen, was eine Gesellschaft fähig ist, unter dem Begriff der Kunst zu imaginieren.


20.201.223:1.014 Zum Archiv

Meine Kindheit war erfüllt von stetigem Sprechen. Es wurde gesprochen von morgens bis abends, an Festtagen diskutiert, gestritten und polemisiert. All das kulminierte an den Weihnachtstagen, wenn sich das linke und das rechte Lager der Familie um diverse Weihnachtsbäume versammelte. Und doch: Trotz all des Sprechens war meine Kindheit seltsam still, denn über die Welt, die mich in ihren Erscheinungen immer schon fesselte, erfuhr ich wenig. Das Sprechen war immer politischer oder alltäglicher, nie psychologischer oder gar philosophischer Natur.

Vielleicht bin ich deshalb Schriftsteller geworden, weil mir dieses Reden über den äußeren Zustand der Welt zu kärglich erschien, um mich meiner Existenz, meines Daseins zu versichern. Das unausgesetzte Schweigen in meiner Kindheit über das Innere der Welt, ihren Aufbau, ihre Funktion und Funktionsweise, über die Qualität ihres Sinns, ließ mich zum Forscher werden, zum Entdecker, letztlich zum Dichter.

Und von diesem Schweigen, das mich alle Tage umgab, ist es nur ein kurzer Weg zu den vier Heroen meiner Jugend: Hesse, Sartre, Camus und am Ende doch noch Kafka. Sie befreiten mich aus der Verschwiegenheit meiner Familie und ließen mich in das Innere der Welt blicken. Enthüllten das, was ich mir nicht erklären konnte und doch so naheliegend war. Das Sprechen ist nicht alleine dazu da, sich zu unterhalten über den politischen Alltag, den Einkauf, die eigenen Vorlieben und die Hoffnungen und Träume der anderen, sondern ist eine allumfassende Kommunikation darüber, was und wer wir sind, wenn wir den Mut hätten, offen zu sprechen, über das, was einmal gewesen war, uns heute in Bewegung setzt und vielleicht eines Tages zum Schweigen bringen wird.


20.201.219:0.708 Zum Archiv

Wer den liberalen, bürgerlichen, aufgeklärten und demokratischen Kapitalismus unserer Zeit durchschaut hat, seine Wirkmechanismen kennt, wird nicht reich, außer durch die Übernahme moralischer Schuld, manchmal auch durch legale Verbrechen, aber er kann sich und die Seinen immer einkommensmäßig absichern.

Wer sich jedoch weigert, diese Mechanismen zur Kenntnis zu nehmen, sich ihnen zu unterwerfen, sie zu nutzen und sich ihrer für die eigenen Zwecke zu bedienen, wird weder reich, auch nicht durch die Übernahme moralischer Schuld, sondern er wird hungern, von Obdachlosigkeit bedroht sein und als gsellschaftlicher Kollateralschaden zugrunde gehen.


20.201.216:0.710 Zum Archiv

Natur ist für mich eine Landschaft, üppig und sonnig, reif zum Pflücken, manchmal auch ein Nebel, den es zu durchqueren gilt, manchmal ein schneereiches Tal, eine Nacht, mondhell, wie aus einem Märchen entsprungen, in dem Drachen Prinzessinnen retten.

In meiner Natur ist es immer Sommer. Manchmal Frühling und in außergewöhnlichen Momenten Herbst. Doch niemals ist in dieser Landschaft Winter. Die Winter sind reserviert für die Kultur, die Dystopien unserer Zeit und die Verbrechen an der Menschlichkeit.


20.201.214:0.730 Zum Archiv

Das Geschwätz von der verlorenen Generation, die angeblich in unseren Schulen heranwächst, ist kaum noch zu ertragen. Was haben wir nicht schon an verlorenen Generationen zu Gesicht bekommen im letzten halben Jahrhundert. Einer gehöre ich selbst an, der No-future-Generation. Und dann war da ja noch die Generation-X und die Millenials sind den Boomern auch nicht ganz geheuer. Alle verloren, alle abgehängt vom gesellschaftlichen Establishment. Jene, die für das Systemversagen des Bildungswesens verantwortlich sind, sind jetzt diejenigen, die am lautesten den neuerlichen Untergang des Abendlandes verkünden, als selbsternannte Propheten.

All jene, die jungen Menschen einreden wollen, dass ein paar Unterrichtsmonate über die Zukunft einer ganzen Generation entscheiden, sollten wir aller Ämter entheben und sie ohne Stock und ohne Hut aus der Stadt jagen, bevor er noch größere Verbrechen begehen können, an der Psyche unserer Jugend. Wer mit der Angst junger Menschen spielt, sollte sich nicht wundern, wenn diese Angst eines Tages als Ohnmacht und Wut in unsere gesellschaftliche Mitte zurückkehrt.

Mich treibt, seit dieses unselige Wort von der verlorenen Generation im gesellschaftlichen Diskurs aufgetaucht ist, die Frage um: Kann eine ganze Generation überhaupt verloren gehen und von welchen Jahreskohorten sprechen wir eigentlich, wenn wir von einer verlorenen Generation sprechen? Wodurch weist sich eine Generation denn als verloren aus? Und wenn sie eines Tages als verlorene Kohorte im Dickicht der Großstädte herumtaumelt, können wir sie dann wiederfinden?

Kurz und gut: Menschen gehen nicht verloren, sie scheitern vielleicht, aber nicht an einem Virus, sondern an gesellschaftlichen Umständen. Sie scheitern, wenn sie sich selbst aufgeben, wenn sie nicht bereit sind, diejenigen, die sie beherrschen, davonzujagen. Und wenn alle, über die je gesagt wurde, sie seien verloren, tatsächlich gescheitert wären, müsste unsere Gesellschaft längst in ihrem Inneren zerbrochen sein. Und vielleicht ist sie das ja auch.

Aber, als einer, der sich als Teil der No-future-Generation versteht, als einer, der als junger Mensch dachte, eines Tages werde er in einem atomaren Sturm untergehen, rufe ich den Verlorenen zu: Lasst alle Hoffnung fahren und und engagiert euch Hier und Jetzt für eine Zukunft, die eurem Wollen und Sehnen angemessen sein wird, dann ist zwar ein Scheitern möglich, aber eines, das ihr selbst zu verantworten habt und auf eure Fahnen schreiben könnt.


20.201.210:1.435 Zum Archiv

Auf den Straßen tanzten die Kinder. Junge Männer und Frauen flanierten durch die Stadt, trafen sich auf Grünflächen, streckten sich in den Tag und küssten sich bei jeder Gelegegenheit. Die Händler boten ihre Waren feil, allüberall blühten die Geschäfte und das Leben gedieh in besonderer Weise. Die Menschen reisten in den Süden, wie sie es von jeher getan hatten. Und immer schien die Sonne.

Doch betrat man die Häuser der Stadt, so fand sich dort der Tod, der auf Stühlen hockte, in Betten breit machte, in seiner Gegenwart verblich jeder Körper und der Geist ihrer Bewohner wurde ausgezehrt. Die Augen blieben ohne Erinnerung zurück, die Gedanken trieben träge durch die Tage und in den Nächten erwachte niemand mehr aus unruhigem Schlaf. Das Leben glich im Inneren einem stetigen Warten und Hoffen auf ein Ende.


20.201.207:0.825 Zum Archiv

Viele Schriftsteller waren Lehrer, bevor ihnen der Absprung aus der Schule ins Leben gelang, um sich der Literatur und ihren Untiefen zu stellen. In meinem Fall fiel der Sprung in umgekehrter Reihenfolge aus. Und seither ist es schwierig zu schreiben, wenn die rohen und unverbrauchten Worte aus den Schülerherzen sich in einem einnisten, als stete Mahnung, dass Schreiben kein Geburtsrecht ist, sondern erworben und nur allzu oft verdorben wird, durch germanophile Pädagog*innen.

Es ist schwierig auf die tabula rasa der jungen Schreiber eine Sprache einzuzeichnen, die mehr sein will, also nur nachgeahmtes Denken, das sich als Schrift und nicht als gesprochenes Schreiben manifestiert. Ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Schreiben eine Gewohnheit ist, ein Laster, aber auch ein Glück, das einem einen Tag versüßen kann, wenn es gelingt, aber in Abgründe stürzt, wenn sich die außergewöhnlichen Worte einem entziehen und sich hinter alltäglichem Geschwätz verbergen.

Schule und Sprache scheinen sich auf seltsame Weise auszuschließen, als würde sich im Garn der Pädagogen das kunstvolle Sprechen verheddern, wie der Fisch, der auf seiner Wanderung durch offene See dem Fischer das Netz füllt.


20.201.206:1.631 Zum Archiv

Ich war nie etwas anderes als ein Schriftsteller, einen Dichter will ich mich ja nicht nennen, denn dem Vergleich mit der Geschichte der Poesie und ihren Vertreter*innen hielte ich nicht stand.

An manchen Tagen tarnte ich mich als Möbelpacker, einige Jahre verdingte ich mich als Postbediensteter, auch als Vater gab ich keine allzuschlechte Figur ab, als Lebenspartner wies man mir zahlreiche Defizite nach, so manches Jahr verbrachte ich als Student, Germanist und Verleger, nicht zu vergessen das Jahrzehnt der Lehrerschaft, über das ich in nicht allzuferner Zukunft sprechen werde, als wärs eine schlechter Traum gewesen. Diese mir zugefallenen und zugewiesenen oder manchmal aus Mangel an Mut oder großer Verzweiflung ergriffenen Rollen habe ich stets gespielt, so gut ich konnte.

Aber im Kern meines Wesen war ich immer der Sprache und der Schrift verpflichtet. Trotz der geringen Begabung habe ich es mit Fleiß und Ausdauer zu einer mir angemessenen Meisterschaft gebracht. Und dieser Verpflichtung werde ich treu bleiben, bis zum letzten Atemzug.


20.201.205:1.249 Zum Archiv

Ich habe schon vor Jahren das Lesen zugunsten des Denkens aufgegeben. Lesen bedeutet, das wortgewandte Denken anderer in sich aufzunehmen. Doch irgendwann kommt der Punkt, da muss der Mensch sich entscheiden, will er nach dem Denken anderer leben oder das eigene verwirklichen und sichtbar machen.


20.201.204:0.715 Zum Archiv

Sprache ist immer nur Mittel zum Zweck, um Erscheinungen der Realität, die sich in der Welt zeigen, in Form von Zeichen sichtbar zu machen, denn Realität existiert auch hervorragend ohne den Menschen. Eine Welt ohne Menschen bedarf aber keiner Zeichen, denn nur dort, wo Menschen auftreten, müssen sie, um miteinander koexistieren zu können, Sprachsysteme nutzen, um sich einander und der Welt, in der sie leben, zu versichern, um gleichsam ihre Existenz zu sichern.

Auch hier gilt: Wäre der Mensch Teil einer naturhaften Erscheinung, müsste er sie nicht beschwören, müsste er sich nicht permanent vergewissern, was seine Rolle in ihr ist. Wäre er einmontiert in sie, in das Biotop, aus dem er einst hervorgekrochen ist, hätte er gar keinen Begriff von einem Außerhalb, einem Zustand jenseits der Natur, vor allem einem Zustand, in dem es notwendig sein könnte, eben diese Natur zu retten. Nur weil er eben einen Begriff davon hat, was Natur sein könnte, was sie für ihn bedeutet, kann so macher ökologisch motivierter Heilsbringer überhaupt ausrufen: Zurück zur Natur! Zurückkehren kann nur der, der zuvor einen Ort verlassen hat, ob dieser nun geographisch oder sozial sei.

Der Mensch von Anbeginn ausgestoßen aus der Natur, ihr augeliefert, in Gefahr von ihr gefressen oder getötet zu werden, hat mit gutem Grund, von eben dieser Natur mit den Mitteln und Möglichkeiten ausgestattet, danach getrachtet, sich aus ihr und den mit ihr verbundenen Gefahren zu befreien und sich die Biosphäre unterworfen, mehr noch, sie nach seinen Vorstellungen gestaltet.


20.201.203:0.715 Zum Archiv

Sie sagen: Niemand wird in diesen schwierigen Zeiten zurückgelassen.
Ich frage: Warum tun sie es dann in den einfachen?


20.201.202:0.735 Zum Archiv

Jeden Tag sagen sie, es wird besser. Wir müssen nur Geduld haben, denn am Horizont dämmert bereits ein besseres Morgen.

Jeden Tag sagen sie, es wird besser, bald. Und zu jeder Stunde endet das Sterben nicht.

Jeden Tag sagen sie, wird es besser, irgendwann. Und dennoch ist jeder Tag wie der Tag zuvor.


20.201.202:0.715 Zum Archiv

Der Nebel begleitet mich seit frühester Kindheit durch den Herbst, als Vorbote des Winters, den er in frostigen Tagen als Glitzern an die Bäume und Sträuche zaubert. Doch es gibt eben nicht den einen Nebel, der wie ein Ei dem anderen gleicht. Jeder ist vom anderen durch die Nacht geschieden.

An Tagen wie diesen, regnet der zu Eis erstarrte Nebel der verloschenen Dunkelheit aus Bäumen, als wär es Sommer und nicht einer dieser Tage, bevor der Winter sich heimisch macht im aufgezehrten Herbst. Das Licht des Tages ist nur ein kurzes Aufleuchten zwischen einem Grauen, das sich am Morgen nur träge verflüchtigt und einem, das sich abends eilig über die Landschaft wirft, als müsste der Glanz der Welt vetrieben werden.


20.201.201:0.712 Zum Archiv

Es ist Zeit, sagen sie. Und ich stimme zu, vorbehaltlos. Es ist Zeit, ein literarisches Experiment zu wagen. Eines, wie es Franz K. so meisterlich beherrschte. Einen Menschen in die Welt zu werfen, wovon Sartre so gerne sprach, wenn er von der Existenz des Individuums schrieb. Einen Menschen in die Mitte der Welt setzen, in ein Aufwachen, in eine Manege, ihn anlanden lassen an unsicherem Gestade und sehen, wohin die Zeit ihn treibt, durch eine Nacht, ein Schneetreiben, eine Finsternis; beobachten, ob es ihm glingt, anzukommen; ob er scheitert oder eingeht in das, was wir gemeinhin Leben nennen.

Alles bisherige war nur Auftakt, Vorspiel und Brücke, die es nun zu überschreiten gilt, von einem Leben ins andere, vom Begehren ins Lieben, vom Schatten des Möglichen ins Licht des Erhofften. Es ist Zeit den Mann ohne Eigenschaften wiederzuerwecken, ihm Würde und Anstand zurückzugeben, in diesen so unwirtlichen Zeiten, von denen wir alle nur das Boshafteste und Schrecklichste erwarten.


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