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Einander Zwei
Erzählung



Kapitel Vier

Zwei Uhr morgens, und die Stille der Nacht stand im Gegensatz zu den aufgeregten Stimmen der Männer und Frauen, die auf die Abfahrt des Busses über Rio Grande nach Punta Arenas warteten. Die kleine Kammer, in der es die Tickets zu kaufen gab, war geheizt. Die Nacht war kalt, eisig, winterlich. Der Buschauffeur stand gemeinsam mit dem Ticketverkäufer etwas abseits und rauchte genüßlich einen Cigarillo, der seinem Auftreten etwas Seriöses verlieh. Paul und Karla saßen auf zwei der Polstersessel, die dicht an einen kleinen Glastisch gerückt standen. Der Zwischenraum bot kaum Platz für die in den Knien abgewinkelten Beine. Sie sahen sich schweigend im Raum um und hielten sich mit belanglosen Gesprächen wach, um nicht im Polstersessel aneinander gekuschelt die Augen zu schließen und sich einem traumlosen Schlaf hinzugeben. Nach einer endlos erscheinenden halben Stunde riß sich der Fahrer doch noch von seinem Gespräch los, wandte sich an die Fahrgäste und bat sie, ihr Gepäck im Bus zu verstauen und einzusteigen. Ein letzter Gruß an den Ticketverkäufer, dann ruckte der Bus an und fuhr los. Die Fahrt folgte zuerst den gespenstisch leeren Straßen, auf die das Licht der Laternen weiße Schatten entlang der Gehsteige warf. Das Meer dehnte sich dunkel gegen den Horizont.

Selbst das monotone Motorengeräusch des Wagens hatte verhindert, daß Paul einschlief. Immer wieder war er während der Fahrt aus dem Schlaf gerissen worden. Ein Schlagloch, der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens, das Räuspern eines der Passagiere, jede Kleinigkeit holte ihn aus seinen unruhigen Träumen. Er grübelte, ob es richtig gewesen war, mit Karla mitzufahren. Was konnte denn aus dieser Reise werden? Sie waren grundverschieden und irgendwann würden sie sich ja ohnehin einmal trennen müssen, spätestens wenn Karlas Urlaub ein Ende fand.

Eine kleine Stadt kam in Sicht. Rio Grande, dachte Paul. Seine Assoziation war ein Western mit John Wayne. Der hätte sich solche Fragen nicht gestellt. Er wäre aufrecht in den heraufdämmernden Sonnenaufgang geritten, ohne Zweifel, ohne Ahnungen, ohne Zukunft. Ein kurzer Blick auf den Nebensitz beendete Pauls Zweifel. Da saß Karla, den Kopf ein wenig seitlich geneigt, an die Rückenlehne geschmiegt, die Lippen ein wenig geöffnet, die Augen geschlossen und flach atmend. Paul hätte sich am liebsten zu ihr hinübergebeugt und ihr einen Kuß gegeben. Schon gestern Abend, als sie das Gefängnis verlassen hatten, als Karla davon sprach, weiterreisen zu wollen, hätte er sie gerne umarmt und geküßt. Er wußte nicht, was ihn abhielt, vielleicht die Angst, es könnte mehr geschehen, als diese Reise nach Norden tragen könnte. Ein Haus mit Tankstelle kam in Sicht und Paul dachte, er sollte aussteigen und sich die Füße vertreten, als er doch noch einschlief.


***

Karla erwachte, als der Bus mit einem kurzen Ruck stehen blieb. Für einen Moment versuchte sie sich zu orientieren und dann sah sie den kleinen Laden, vor dem der Bus gehalten hatte. Zwei Zapfsäulen und sonst nichts als ein paar wenige Häuser, die ein noch kleineres Nest bezeichneten als Usuhaia. Neben ihr saß Paul am Fenster, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Er schien ruhig und fest zu schlafen. Karla dachte, was er wohl für einen guten Schlaf hatte. Nicht einmal das Halten des Busses konnte ihn aufschrecken. Er mußte wirklich Routine im Reisen haben. Karla erhob sich vorsichtig, um Paul nicht zu wecken. Seit er sich seinen Bart zurecht gestutzt hatte, konnte sie die Linie seines Gesichts besser erkennen. Er war ein schöner Mann, dachte Karla. Seine Lippen waren leicht geschwungen, seine Nase kräftig und er hatte runde, leicht nach außengewölbte Ohrläppchen. Karla liebte es, an den Ohrläppchen der Männer zu knabbern oder manchmal nur damit zu spielen. Pauls Hände umfingen seinen Körper, so als wolle er sich selbst festhalten, um im Schlaf nicht verloren zu gehen. Er hatte kräftige, aber gleichzeitig feingliedrige Finger. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie Paul zum ersten Mal wirklich wahrnahm, nicht nur als einen Zufallsbekannten, der sie mitzog, als einen zufälligen Reisebekannten, sondern als einen Mann, als einen Körper. Schon in der Pizzeria war ihr vorgekommen, als wäre plötzlich nicht mehr nur seine Stimme ausschlaggebend gewesen, sondern plötzlich auch ein Teil seiner Bewegungen zu ihr vorgedrungen. Doch das hatte sie sich nicht zugestehen können, denn damals war er wach, er hätte ihre Reaktionen bemerkt, und das war das letzte, was sie brauchen konnte, eine Freundschaft, die vielleicht mehr sein könnte, als nur ein paar flüchtige Blicke. Die ganze Sache hätte ohnehin keine Zukunft, denn irgendwann wäre ihre Reise zu Ende, und er würde weiterreisen an irgendein Ziel in Südamerika. Vielleicht hätten sie sich in Usuhaia trennen sollen, ein Ende setzen, bevor der Beginn zu einer Geschichte werden konnte. Ja, es hatte etwas begonnen. Und Karla hatte Angst, daß es ein Glück sein könnte, daß ihr wieder entwischen würde.


***

Mittags fuhren sie noch immer durch die gleiche Landschaft, die sie schon seit zwei Stunden zu Gesicht bekommen hatten. Kaum ein Strauch, kaum ein Busch. Die Wälder waren verschwunden. Sie sahen nur mit Gras bewachsene Hügel und staubige Straßen. Überall Schafe, die in großen und kleinen Herden über die Insel zogen. Manchmal konnte der Eindruck entstehen, daß es hier nichts weiter gab als diese Leere.

"Wir werden alles aufessen müssen", sagte Karla.
"Das ist doch Unsinn. Sie werden sicher nicht alle unsere Nahrungsmittel beschlagnahmen. Warum auch?" fragte Paul.
"Das machen sie immer so auf kleinen und großen Inseln. Ich war einmal in Australien, da durfte ich keinerlei frische Nahrung ins Land bringen."
"Aber wir sind ja bereits auf der Insel. Wir wechseln nur die Nation und nicht vom Festland zur Insel. Wenn wir etwas eingeschleppt haben, dann haben wir das schon auf unserem Flug getan", stellte Paul fest.
"Wir werden ja sehen", sagte Karla. "Ich werde jedenfalls meinen Apfel und meine Kekse aufessen."
"Da vorne ist die Grenzstation. Du mußt dich beeilen, sonst raubt dir der Grenzer den letzten Bissen aus dem Mund."
"Jetzt lachst du noch. Nachher wirst du weinen, wenn ich satt bin und dein Magen knurrt."


***

Ein Blockhaus markierte die Grenze zu Chile und trat aus dem Schatten einer flachen Hügelkette hervor. Die Sonne stand genau über der Grenzstation. Gegenüber öffnete sich die Landschaft in eine weite Ebene. Das Haus grenzte linker Hand an ein quadratisches Gelände, das von hohem Maschendraht umgeben war. Überhaupt wirkte die Station wie eine Festung in Miniaturausgabe. Über eine Holztreppe gelangten Paul und Karla ins Haus, dem eine schmale Veranda vorgelagert war. Im Haus erwarteten sie drei Beamte hinter einer Theke. Es war eine Grenzstation wie tausend andere auf diesem Kontinent: karge Einrichtung, weiß getünchte Wände, an denen Verbrecherfotos, Hinweistafeln und ein Bild von Präsident Carlos Menem hingen. Eine Tür führte in den einzigen für Reisende zugänglichen Nebenraum. Karla und Paul mußten sich hinter den übrigen Passagieren aufstellen und mit gezücktem Paß und der Einreisebestätigung, die jeder beim Betreten von Argentinien erhält, auf den Kommandanten der Station warten. Ein wenig nervös, wie es Paul schien, tuschelten die Reisenden und verstummten, als der Kommandant durch die Seitentür den Raum betrat. Ein wahrlicher Bulle, stiernackig, und mit seiner Uniform und der tief in die Stirn gezogenen Mütze wirkte er äußerst bedrohlich. Sofort breitete sich eine drückende Atmosphäre aus.

"Paß- und Zollkontrolle. Halten Sie Ihre Pässe und Ihr Gepäck bereit. Weisen Sie den Paß vor und öffnen Sie nach Aufforderung Rucksäcke und Koffer", kommandierte der Adjutant.
"Strenge Sitten herrschen hier", flüsterte Karla.
"Es ist wie überall", sagte Paul. "Wir brauchen im übrigen nicht zu flüstern. Die Diktatur ist zu Ende."
"Hast du den Stacheldrahtzaun gesehen. Vielleicht haben Sie hier noch ein paar Leichen im Keller. Also halt dich ein wenig zurück, Paul, bitte", sagte Karla.

Paul bereitete sich bereits innerlich darauf vor, als nächster aufgerufen zu werden. Er sammelte sich, um aufrecht vor den Kommandanten hinzutreten. Er kannte diese Typen. Es gab sie überall in Lateinamerika, in den Städten, in den Dörfern, an unzähligen Grenzstationen. Doch dieser war von einem besonderen Schlag, das hatte Paul sofort erkannt. Das mußte einer von den übriggebliebenen Faschisten sein, dachte Paul. Wahrscheinlich hatten sie ihn nach dem Sturz der Generäle hierher versetzt. Es schien ihm als sei die Zeit an diesem entlegenen Ort stehengeblieben. Er erinnerte sich an Freunde aus Buenos Aires, die ihm erzählten, daß sich noch heute Leute umdrehen, um nach der Polizei Ausschau zu halten, bevor sie über die politische Lage diskutieren. Er konnte sich diesen Comandante gut vorstellen, in einem der Folterkeller der Videladiktatur, wie er Verhaftungsbefehle unterfertigte, ein Telefonat führte und dann nach Hause ging zu seiner Frau und seinen Kindern, sich an den Wohnzimmertisch setzte und empanadas zu sich nahm, zufrieden mit sich und der Welt, im Glauben wieder eine gute Tat im Namen des Volkes, des Vaterlandes, der Nation gesetzt zu haben. Paul fühlte sich nicht wohl, als der Kommandant den Paß eines Israeli in seine Hände nahm. Seine Augen musterten den Mann und er tuschelte mit dem Adjutanten bei jedem neuen Blick in den Paß. Pauls Körper spannte sich, er erwartete einen Schlag, eine Waffe im Anschlag, einen Schrei, ein sich zu Boden werfen. Der Adjutant herrschte den Israeli an, seinen Rucksack auf die Theke zu stellen. Er war der erste, dessen Gepäck eingehender untersucht wurde. Und der Adjutant fand etwas, das ihm verdächtig schien: eine Kamera.

"Haben sie Einfuhrpapiere?" fragte der Kommandant.
"Ich bin durch halb Lateinamerika ohne Rechnung gereist. Nirgendwo habe ich bisher eine Rechnung gebraucht", verteidigte sich der Mann.
"Hier ist Argentinien und hier brauchen Sie Papiere."
"Glauben Sie tatsächlich, ich reise bis an Ende der Welt, um eine Kamera nach Chile zu schmuggeln?"
"Wir müssen die Kamera beschlagnahmen", sagte der Kommandant.
"Das können Sie nicht machen", rief der Mann. „Geben Sie sie mir sofort zurück."

Bisher hatte Karla keine Vorstellung von dem, was sich hier noch vor ein paar Jahren abgespielt haben mußte. Natürlich hatte sie die Filme gesehen, verschleppte Personen, große Stadien, bis auf die obersten Ränge mit Gefangenen besetzt, Erschießungskommandos, Panzer in den Straßen, Jeeps mit Ladeflächen, die überraschend vorfuhren und scheinbar wahllos Menschen mitnahmen. Sie fühlte sich plötzlich so verloren, einsam und ausgeliefert. Wenn der Kommandant jetzt auf die Idee käme, sie alle verschwinden zu lassen, sich einbilden würde, sie wegen Staatsgefährdung oder kommunistischer Umtriebe einzusperren, es würde niemand verhindern können. Sie wären einfach nur ein paar Vermißte mehr, die nie wieder auftauchen. Und für sie würden wahrscheinlich nicht einmal Mütter auf der plaza de mayo mit Fotographien vor der Brust demonstrieren.

Bisher hatte sie große Schwierigkeiten gehabt, sich vorzustellen, wie es wohl damals unter den Nazis gewesen sein mußte. Sie hatte gegen etwas rebelliert, was sie nicht wirklich begreifen konnte. Ihr Angriff gegen den eigenen Großvater, ihre Fragen zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, die Vorwürfe wegen seines Mitmarschierens, seines Befehleausführens, ohne Widerspruch, ohne Gegenwehr, ohne kritische Anmerkung, waren Kämpfe gegen ein politisches Phantom gewesen. Aber plötzlich fühlte sie sich selbst bedroht, von einem Augenblick zum nächsten war sie hineingeraten, in diese Angst mitgenommen zu werden. Ihre Kehle fühlte sich trocken an und sie nestelte nervös an ihrem Paß. Immer wenn sie an die vorfahrenden Lastwägen dachte, die damals die Juden, die Kommunisten und Zigeuner abgeholt hatten, war das irgendwie abstrakt, eine Bildflut, die aus Büchern und Filmen hervorquoll, aber jetzt, hier mitten in Feuerland, an der Grenze zwischen Chile und Argentinien, mit den Augen des Kommandanten auf ihrem Körper, seine dicken Finger an ihrem Paß, nahmen die Bilder eine erschreckende Realität an. Jeden Moment erwartete Karla, daß einer der Adjudanten seine Waffe in Anschlag brachte, ein paar spanische Wörter schrie und sie aufforderte sich an die Wand zu stellen. Dann würden sie ihr die Arme zurückdrehen, sie würde in das Nebenzimmer geschleift und weggebracht, in irgendeinen Folterkeller. Bisher hatte sie keine Ahnung gehabt von den Folterkellern, weder aus dem Jahr neuzehnhundertvierzig noch aus neunzehnhundertachtundsiebzig, aber wenn es irgendwo möglich war, sich dieser Erfahrung anzunähern, dann hier, mitten in diesem Nirgendwo, auf dieser Insel, von der schon die Anarchisten vergeblich zu fliehen versuchten und immer wieder eingeholt wurden von ihren Folterknechten. Karla bekam Angst vor ihrer eigenen Furcht, vor diesem Ausgeliefertsein, dem sie sich nicht wiedersetzen konnte. Immer hatte sie gedacht, wenn es einmal soweit kommt, wird sie aufrecht stehen und sich nicht in die Knie zwingen lassen. Doch das Maschinengewehr der Soldaten, der feiste Schweinekommandant haben sie dazu gebracht, den Blick zu senken, Schuldbewußtsein zu zeigen, wo es gar keine Schuld gab. Und aus dieser Schuld würde früher oder später die Gewißheit einer Schuldigkeit entstehen, die für die Faschisten Anlaß genug war, sie einzusperren, ein Geständnis zu erzwingen. Denn jeder kannte jemand, der potentiell Gefahr bedeuten könnte, jede ist schon einmal mit einem an einem Tisch gesessen, der vielleicht ein Wort zuviel gesagt hatte und niemand konnte sicher sein, daß nicht jemand seinen Namen an einem Ort ausgesprochen hat, in einem Zusammenhang, der ihn verdächtig machen würde. Das alles ging Karla durch den Kopf, als der Kommandant ihren Paß begutachtete und sie war erleichtert, als er ihn ihr zurückgab und sie mit einer nachlässigen, aber doch bestimmten Handbewegung aufforderte, zur Seite zu treten. Karla war wütend und ängstlich zugleich. Sie haßte sich dafür, daß sie diesem Mann die Macht eingeräumt hatte, über ihre Existenz zu bestimmen. Karla trat zur Seite und blickte auf Paul, der sich vor dem Kommandanten aufbaute und ihm den Paß entgegenstreckte. Sie dachte noch, hoffentlich macht er keinen Unsinn, denn die Geschichte mit dem Israeli hatte ihn mächtig aufgeregt. Sie hatte ihn beobachtet. Sie wußte auch nicht, warum sie ihm zutraute, daß er sich mit den Soldaten anlegen würde, wenn es notwendig wäre. Im Geiste sah sie den Lastwagen vorfahren, während sie selbst in den Autobus verfrachtet wurde, sie könnte gerade noch wahrnehmen, wie sie Paul auf die Pritsche des Wagens zerren und der Bus sich in Bewegung setzen würde. Er bliebe allein mit den Soldaten zurück, sich festklammernd an den Planken des Lastwagens. Wie im Film, dachte Karla. Aber schon im nächsten Augenblick stand Paul neben ihr. Karla berührte seine Hand, suchte sein Einverständnis und fand es.

Als sie endlich wieder im Bus saßen und er sich auf chilenischer Seite in Bewggung setzte, konnten sie die Grenzstation hinter sich lassen, sich dem Bergrücken hingeben, der sie ins flache Land verwies. Karla und Paul hatten ihre erste Grenze überschritten.


***

Am frühen Nachmittag erreichte der Bus die Estrecho de Magellanes, jene Meerenge, die Feuerland mit dem südamerikanischen Kontinent verband. Auf einem nicht weiter befestigten Kiesstrand legte gerade eine Fähre an, die Auffahrtsrampe ging mit einem schabenden und schnarrenden Geräusch nach unten. Zuerst verließen die Autos und Busse die Fähre, dann folgten die Passagiere, duzende deutsche Touristen strömten an Land. Am rechten Pistenrand stand eine Hinweistafel, auf der mit großen Buchstaben die Ankunft auf Tierra del Fuego angezeigt wurde. Nichts hielt die deutschen Weltreisenden davon ab, hinzustürmen, sich davor in Pose zu werfen und sich photographieren zu lassen.

"Es ist seltsam, wie gierig die Menschen darauf sind, Artefakte touristischer Kultur zu dokumentieren", sagte Karla.
"Einmal würde ich gerne all diese Videos, die die Touristen drehen, zu Gesicht bekommen", sagte Paul.
"Es würde dich maßlos langweilen. Sie fotographieren alle dasselbe Motiv, dieselbe Stelle. Sieh sie dir doch nur an, einer entdeckt das Schild als Bildmotiv und alle rennen ihm hinterher."
"Ja, sie sind wie die Pinguine", sagte Paul. "Springt der erste ins Meer, folgen ihm alle anderen, das erhöht die Chance des Überlebens."

Paul war auch hier wieder von der Unmittelbarkeit menschlicher Zivilisation inmitten einer öden und leeren Naturlandschaft überrascht. Nichts weiter als ein kleiner gemauerter Anlegehafen und die Weite des Meeres. Das andere Ufer, das Festland war trotz der Nähe und des hellen Tageslichtes nur zu erahnen, lag unter einem Wolkenchleier verborgen. Der Wind peitschte kräftig übers Wasser und Paul mußte gemeinsam mit den anderen Fahrgästen den Bus verlassen und zu Fuß auf die Fähre hinüberwechseln. Sie war nicht besonders groß, bot gerade zwei Autobussen und vielleicht sieben oder acht Personenwagen Platz. Über eine enge Treppe gelangte er auf ein Aussichtsdeck, das vor der Kapitänskajüte lag. Mit schabenden, quietschenden Geräuschen schloß sich die Auffahrtrampe und die Fähre setzte sich träge in Bewegung, glitt in die vom stürmischen Wind aufgepeitschte offene See hinaus. Der Wellengang war hoch und die Fähre schlingerte durch die Wellenberge, nie in Gefahr zu kentern, aber doch heftig genug, daß es sich empfindlichen Menschen auf den Magen schlagen konnte, dachte Paul, der sich an die Reeling lehnte. Er dachte, wenn er jetzt verschwinden oder sterben würde, dann würde nichts von ihm zurückbleiben, keine Erinnerung, keine Spur in der Vergangenheit, keine Erzählungen, die weitergegeben wurden, über die Generationen hinweg. Ja, seine Eltern, sie würden trauern, würden sich an ihn erinnern. Aber wer war da noch? Seine Ex-Frau. Wahrscheinlich würde sie nur mit den Schultern zucken. Er hatte sich von allen und allem zurückgezogen. Schon bevor er sich auf das Schiff nach Südamerika begab, hatte er seine Freunde verloren. Und jetzt war da plötzlich Karla. Sie bot ihm die Chance, eine Spur durch die Gegenwart zu ziehen, die vielleicht eines Tages bis in eine unbestimmte Vergangenheit zurückreichen könnte. In eine Vergangenheit, in der es über ihn eine Geschichte geben könnte.


***

Karla schloß die Tür der WC-Anlage und ging die enge Treppe zum Aussichtsdeck hoch. Paul war nirgends zu sehen. Sie ging zur Reeling und versuchte die Konturen des anderen Ufers zu erkennen, von dem nur ein schmaler Strich zu sehen war. Karla erinnerte sich an ihre Reise nach Griechenland, am Beginn ihrer Beziehung mit Ulf, damals als ihr gemeinsames Glück noch intakt schien, ein Glück, das in Norwegen nur mehr eine böse Erinnerung war, ein Abgesang auf längst verlorene Tage, und vielleicht wollte sie sich selbst beweisen, daß sie jenes Glück, das sie damals mit Ulf verband, wiederherstellen konnte, aus eigener Kraft, nicht nur durch die unausweichliche Anziehungskraft zweier Körper. Damals auf ihrer Reise nach Griechenland brauchten sie nicht viel zu diesem Glück. Sie saßen in einem verschwiegenen Restaurant am Athener Hafen und schliefen nachts in einem Park nahe dem Busbahnhof. Karla konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, dicht an Ulfs Körper gedrängt, Schutz suchend vor den herumlungernden, verwahrlosten Gestalten, die sich auch von gelegentlichen Polizeipatrouillen nicht verscheuchen ließen. Sein Körper war am Morgen schlafwarm und selbst als sich die viel zu spät angekommene Fähre in Bewegung setzte, war dieses Gefühl der nächtlichen Wärme noch vorhanden, ging den ganzen Urlaub nicht verloren und begleitete sie auf der Fahrt durch den Hafen hinaus auf die offene See. Die Sonne stand tief und der Smog hüllte bereits die Stadt ein, langsam krochen die ersten strahlenden Sonnenstreifen hinter einer riesigen Coke-Werbung hervor. Die Athener Straßen verloren ihren scharfen Geruch und Karla erinnerte sich noch genau, wie sie mit Ulf an der Reeling stand, sich bei ihm unterhackte und einfach glücklich war. Aber sie hatte dieses Glück wie selbstverständlich hingenommen, diese Übereinstimmung der Gefühle, das Blinde-sich-Finden am Körper des anderen erschien ihr so normal, weil ihre Liebe frisch und ungebrochen war. Sie stand an der Reeling und folgte den Schaumkronen, die zum Heck trieben; den Möwen, die sich gierig ins Wasser stürzten, auf der Jagd nach aufgewühlten, getöteten Fischen. Weit draußen verlor sich dann der Himmel unterm Horizont. Sie scherzten darüber, wie es wohl sein würde, nie wieder zurückzukehren, der Fluchtfreiheit der Urlaubsmenschen zu entkommen, endlich einmal wirklich frei zu sein. Keinen Augenblick hätte Karla damals gedacht, daß dieses Gefühl eine Täuschung hätte sein können, denn die Taverne auf Naxos, in der sie endlich gegen Abend anlangten, schien mit ihrer weißen Fassade, den blauen Fensterläden und der ummauerten, blumenbewachsenen Terrasse unglaublich real. Eine alte Griechin begrüßte sie, redete ununterbrochen auf sie ein, stellte tausenderlei Fragen und erwartete doch keine Antworten. Karla spürt noch immer die aus Bast geflochtene Sitzfläche an ihrem Hintern, jeder Eindruck ist für sie so unglaublich nahe, so real, als wäre es gestern erst geschehen. Jedes Bild ist unausgelöschte Gegenwart und erst langsam findet sie sich in dieser Vergangenheit zurecht. Die Taverne stand am Beginn einer langgezogenen Bucht, deren Ende sie nur erahnen konnte. Der Sand war heiß, brannte auf den Fußsohlen und nur Palmen hatten gefehlt, um das Bild einer Südseeillusion perfekt zu machen. Sie waren die einzigen Gäste an diesem Abend. Die Nacht und die darauffolgenden Tage verbrachten sie an diesem Strand, weil sie beide dachten, daß er gleichzeitig mit ihnen verschwinden würde, wenn sie weggingen. Damals hatte Karla tatsächlich geglaubt, daß Dinge, Ereignisse und Menschen durch ihre Anwesenheit Realität würden. Hinter ein paar Felsen, etwas abseits der Taverne schlugen sie ihr Lager auf, schwammen hinaus in das klare, warme Wasser, frühstückten in der Taverne, spazierten am Strand entlang, den sie mit niemandem teilen mußten, außer mit ein paar streunenden Katzen. Nichts hinderte sie daran, nackt zu sein, ohne Scham zu ficken und zu reden. Karla dachte, daß es vielleicht die stimmigste Zeit ihres Lebens gewesen ist. Und manchmal fiel es ihr schwer zu begreifen, daß der Alltag all diese Übereinstimmung aufgesogen haben sollte. Auf der anderen Seite der estrecho magellanes kam die Anlegestelle in Sicht und Karla begab sich auf die Suche nach Paul.


***

"Eigentlich ist alles wie in Argentinien", sagte Paul.
"Ja, die plaza de armas. Und sieh nur der Park in der Mitte der Stadt. Und überall die vielen Menschen."
"Ja, die Menschen. Sie sind sichtbar. Immer sind sie sichtbar."

Karla stieg aus dem Bus und steuerte direkt auf die Ticketausgabe der Busgesellschaft zu. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Mann hinter dem Schalter wußte sie, daß der nächste Bus nach Puerto Natales um neunzehn Uhr losfuhr. Karla ließ ihr Gepäck zurück. Sie warf Paul einen unsicheren Blick zu, den dieser erwiderte. Hoffentlich will er mit ihr gehen, dachte sie. Paul sagte kein Wort, stellte seinen Rucksack neben den ihren und kam auf sie zu.


Es war bereits dunkel als der Bus in Puerto Natales ankam. Im Bus befanden sich nur mehr Rucksacktouristen und ein Chileno, der im Ort zuvor zugestiegen war und sich die ganze Fahrt über mit dem Fahrer unterhalten hatte. Paul und Karla traten auf die Straße. Auf den ersten Blick konnten sie erkennen, daß die Stadt nicht sehr groß sein konnte. Sechs Blocks Richtung Umland und vielleicht fünfundzwanzig Blocks entlang der Uferstraße.Sie folgten vier jungen Menschen, die auf der bergabführenden Straße losmarschierten. Minuten später standen sie vor einer kleinen Pension, die im Reiseführer als nett und sauber mit Gemeinschaftsdusche beschrieben wurde. Eine Holztreppe führte zu einer schmalen Veranda hinauf. Als Paul und Karla durch die Schwingtür eintraten, fanden sie sich in einer Art Wohnzimmer. Sogleich kam eine junge Frau auf sie zu, die sie herzlich begrüßte. Am Tisch saßen zwei Männer, die, über eine Landkarte gebeugt, nur für einen kurzen Gruß aufblickten und sich wieder in das Gespräch über ihre Reiserouten vertieften. Paul und Karla suchten die ihnen zugewiesenen Schlafgelegenheiten in den Achtbettzimmern auf. Eine halbe Stunde später saßen sie mit den anderen am Tisch, über die selbe Karte gebeugt. Paul beteiligte sich an den Planspielen der Männer, während Karla eher beobachtend teilnahm.


"Wißt ihr", sagte José, ein Spanier aus dem Baskenland, "ich habe eine einfache Reisephilosophie entwickelt. Wo auch immer derjenige hinfährt, der mich mitnimmt, dort fahre ich auch hin. So fahre ich manche Strecke doppelt, so begegne ich manchen Menschen öfter, aber immer ist es irgendwie anders."
"Wird dir das nie langweilig?" fragte Karla.
"Nein, eigentlich nicht. Übrigens Paul, was hältst du davon, wenn du mich in den Nationalpark Torres del Paine begleitest. Es soll wunderbar sein im Augenblick. Das warme und klare Wetter hat die Tourenwege sehr sicher gemacht."
"Ich muß es mir noch überlegen."
"Vielleicht kann ich etwas dazu beitragen. Ich habe eine Karte dabei. Sehen wir uns die Wege an", meinte Tetsuo, ein Japaner aus Kyoto.

Paul mußte an seine Wanderung mit Karla durch den Nationalpark in Usuhaia denken. Sie war ihm damals gefolgt. Das war ein einfacher Weg gewesen, der mit ihrer Ausrüstung leicht zu schaffen war. Doch Torres del Paine war mehr als nur eine Wanderung, das war eine kleine Expedition, eine Woche auf sich selbst gestellt, vielleicht mit überraschendem Schneefall, mit Biwacks. Dorthin würde sie ihm nicht folgen. An all das mußte er denken, als er sich über die Karte lehnte und Tetsuos Finger folgte, der gleich einem kleinen Strategen die Wege kreuzte, Fußmärsche festlegte, Biwacks bezeichnete und Naturwunder kennzeichnete. Paul riß sich von Tetsuos Finger los und suchte Karlas Blick. Er fand ihn nicht, denn sie war damit beschäftigt, den Raum zu erkunden. Das Wohnzimmer war eigentlich zugleich ein Vorzimmer. Neben der Eingangstür stand auf einem Tischchen der Fernseher, darauf eine kleine Lampe. An den holzgetäfelten Wänden ein paar Bilder und ein Kreuz. Die Tochter des Hauses stand bei den Männern und gab Tips. Karlas Blick traf Paul unvermutet. In ihren Augen standen Zweifel.

"Was hast du vor?" fragte Paul.

Plötzlich bekam Karla ein unangenehmes Kribbeln im Magen, als sie Paul als Teil einer verschworenen Männergemeinschaft betrachtete. Schon in Usuhaia hatte Paul ihretwegen auf eine große Wanderung durch die Berge Feuerlands verzichtet. Ob er sich jetzt hier auch zurückhalten würde, blieb zu bezweifeln.

"Ich werde Morgen nach Calafate weiterreisen. Ich möchte mir gerne die argentinischen Gletscher ansehen", antwortete Karla.
"Das ist gut", sagte Paul.
"Und du, gehst du in die Berge?"
Karla fühlte sich von Pauls Augen getroffen. Sie waren hell, leuchtend und klar. Er hat sich entschieden, dachte Karla.
"Nein."
"Was machst du dann?" fragte Karla.
"Ich nehme den Morgenbus nach Calafate", sagte Paul.
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Dieser Text ist das vierte Kapitel der Erzählung Einander Zwei. Erschienen in der Edition Art Science 2009. Für alle die das Buch auch in Papierform lesen wollen, können es [hier] bestellen.

eingestellt am: 30.11.2020 | zuletzt aktualisiert am: 1.12.2020
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