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Einander Zwei
Erzählung



Kapitel Sechs

Paul schlug die Augen auf. Die Sonne schien ins Zimmer. Die drei anderen Betten waren noch belegt. Ein flüchtiger Blick auf seinen Wecker zeigte ihm, daß er noch vor dem Weckruf aufgewacht war. Er rekelte sich, rollte sich noch einmal ein, um dann doch aufzustehen. Das grelle Licht konnte seinen Körper nicht täuschen. Es war noch früh am Morgen. An manchen Tagen dieser Reise fiel ihm das Aufstehen schwer und er mußte instinktiv an seinen früheren Arbeitsplatz denken. Selbst jetzt, ein Jahr nach seiner Kündigung, konnte er sich gegen unvermutet aufsteigende Erinnerungen nicht zur Wehr setzen. Würde Karla nicht auf ihn warten, hätten sie diesen Ausflug nicht schon gebucht, er würde sich noch einmal in den Schlafsack wühlen und weiterschlafen. Doch Paul erhob sich mannhaft, schlüpfte rasch in Hose und Hemd, nahm sein Waschzeug und zog beim Verlassen des Zimmers so lautlos wie möglich die Tür ins Schloß.

Der Korridor war leer.

Aus der Küche war Geschirrgeklapper zu hören und am Ende des Ganges das Rauschen von Wasser. Er war also doch nicht der Erste, dachte Paul und ging auf den Duschraum zu. An der Tür hielt er an. Eine Frau stand am Waschbecken. Ihre langen schwarzen Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt, sie trug ein weit ausgeschnittenes T-shirt und eine Trainingshose. Ihre nackten Füße bewegten sich auf dem kalten Kachelboden hin und her. Paul beobachtete die Frau, betrachtete ihren Hintern, ihre ausladenden Hüften, die Krümmungslinie ihres Rückens, den kräftigen Nacken, die energischen Bewegungen, mit denen sie sich Wasser ins Gesicht schaufelte. Sie prustete und drehte den Wasserhahn ab, tastete nach ihrem Handtuch und rubbelte sich das Gesicht trocken. Paul trat in den Raum.


***

"Hallo, schon so früh auf?" fragte Paul.
"Ja, genau wie du."
"Ich heiße Paul."
"Ich heiße Maria."
"Du bist Argentinierin?" fragte Paul.
"Woher weißt du?"
"Die Aussprache", sagte Paul.
"Richtig", sagte Maria.
"Ich treffe selten auf Einheimische."
"Ja, es gibt so manchen Europäer, der Argentinien besser kennt, als die Leute, die hier leben", sagte Maria. "Und wo kommst du her, Paul?"
"Wien."
"Eine schöne Stadt."
"Wenn du dort nicht leben mußt, geht es. Und du, wo lebst du?"
"In Buenos Aires."
"Eine lebendige Stadt."
"Für Leute, die nichts anderes kennen."
"Es ist seltsam, wie wenig wir die Städte schätzen, in denen wir geboren sind."
"Wie lange bist du schon unterwegs?" fragte Maria.
"Beinahe ein Jahr", antwortete Paul.
"Eine lange Reise", sagte Maria.
"Willst du mit uns frühstücken?"


***

Karla war früh aufgewacht. Für ihre Verhältnisse hatte sie eigentlich zuwenig Schlaf bekommen, dennoch fühlte sie sich ausgeruht, denn der Schlaf war tief und traumlos gewesen. Sie stellte fest, daß sie erholt war. Die Reise zeigte Wirkung: endlich kam ein wenig von ihrer Fähigkeit, Freude und Glück zu erleben, zurück. Karla fühlte sich vital und hatte nach der Morgentoilette einen Spaziergang entlang des bescheidenen Bachbettes gemacht. Der Staub auf dem Weg war trocken und die Luft roch nach Sommer. Es war wie überall, wo Frühsommer hereinbrach, die Nächte noch kühl, die Morgen aber warm, durchmischt mit dem Geruch von feuchtem Morgentau. Ungewollt dachte sie an Berlin, an den vergangenen Sommer. Oft war sie früh aufgewacht, aufgeschreckt aus unruhigem und flachen Schlaf. Die Trennung von Ulf hatte ihr schwer zugesetzt. Sie schlenderte morgens durch die Vorstadt. Kein Mensch auf der Straße, nur ein Wagen der Straßenreinigung spritzte Wasser auf die Wege, spülte den Staub in die Kanalisation. Vielleicht konnte sie sich an diesen Geruch so gut erinnern, weil ihre Sinne geschärft waren, weil ihr Schmerz die Welt deutlicher an sie herantrug. Sie war verletzt gewesen und mit einem Mal konnte all das in den vergangenen Jahren Erlebte, alles, was sie jahrelang mühsam von sich fern gehalten hatte, ganz nahe an sie herantreten. Für einen kurzen Augenblick mußte sie sich ausliefern. Doch schon im darauffolgenden Herbst hatte sie sich wieder voll im Griff.

Bis gestern.

Jetzt stand sie in der Küche der Jugendherberge und bereitete Frühstück zu. Sie hatte frisches Gebäck aus der Stadt mitgebracht. Karla nahm einen Löffel aus dem Geschirrschrank und holte die Eier aus dem kochenden Wasser. Alles war bereit.


***

"Karla, darf ich dir vorstellen, daß ist Maria", sagte Paul, als er durch die Tür trat.
"Hallo!" sagte Karla.
"Maria, ist aus Buenos Aires."
"Ich hoffe, ich störe nicht?" fragte Maria.
"Nein."
"Komm‘ setz dich", sagte Paul.
"Von wo bist du, Karla?" fragte Maria.
"Berlin."
"Eine Tante von mir wohnt in Berlin."
"So, so!" sagte Karla.
"Sind deine Eltern Emigranten?" fragte Paul.
"Nein, nein. Meine Tante mußte ins Exil, damals in den Siebzigern. Sie war in Basisbewegungen aktiv. Die Militärs hatten sie bedroht. Zuerst floh sie nach Mexico. Dort hat sie dann einen Deutschen kennengelernt. Seither lebt sie in Deutschland. Was haltet ihr davon, wenn ihr mich in Buenos Aires besuchen kommt. Mein Urlaub ist in zwei Tagen zu Ende. Meine Eltern haben ein Wochenendhaus etwas außerhalb der Stadt. Dort könntet ihr ein paar Tage wohnen. Ich komme euch dann besuchen."
"Gern", sagte Paul. "Was meinst du Karla."
"Ich weiß nicht. Ich würde gern Buenos Aires ansehen. Ich weiß nicht, ob ich genug Zeit haben werde. Du weißt, ich habe nur drei Wochen."
"Ich gebe euch auf alle Fälle meine Nummer", sagte Maria. "Ruft mich einfach an, wenn ihr in Buenos Aires seid. Es ist im übrigen ganz in der Nähe von Tigre, im Deltagebiet des Río de la Plata. Und Tigre solltet ihr euch unter keinen Umständen entgehen lassen."
"Unser Bus fährt in zehn Minuten", sagte Karla.
"Stimmt", sagte Paul.
"Wo fahrt ihr denn hin?" fragte Maria.
"Wir fahren zum Gletscher", sagte Paul.
"Ich auch", sagte Maria.
"Perito Moreno", sagte Karla.
"Ich auch", sagte Maria.
"Dann laßt uns gehen", sagte Paul.
"Ich muß noch etwas aus dem Zimmer holen", sagte Karla. "Wir treffen uns beim Bus."


***

Als Karla zum Minibus kam, saß Maria bereits neben Paul auf der Sitzbank. Karla mußte sich zwischen einem Sitzplatz im Rücken der beiden oder neben Maria entscheiden. Karla beschloß sich neben Maria zu setzen, denn so konnte sie zumindest versuchen, das besonders angeregte Gespräch zwischen Maria und Paul zu ignorieren. Demonstrativ blickte Karla zum Fenster hinaus. Über einen dieser endlosen, kurvenreichen Sandpisten fuhr der Bus durch ein weites Tal, das am Westrand von Hügeln begrenzt wurde, gespiegelt in den ausufernden Wasserpfützen, die in die braune Steppenlandschaft eingebettet lagen. Der Himmel war wolkenlos. Karlas gute Stimmung der letzten Tage verflüchtigte sich zusehends. Warum unterhielt sich Paul nur so angeregt mit dieser Maria, dachte Karla. Noch am Vorabend hatte er sie in diesem Restaurant am Rande der Stadt mit den Augen aufgefressen. Eigentlich waren sie schon auf dem Rückweg zur Jugendherberge gewesen, weil sie im Ort kein Lokal gefunden hatten, in dem es einigermaßen gemütlich gewesen wäre. Und dann hatte Paul doch noch in einer Seitenstraße dieses winzige, beleuchtete Schild entdeckt und es war ein wunderbarer Abend geworden.


***

"Fotostopp", sagte der Fahrer. "Sie können sich ein wenig die Beine vertreten."
"Wurde aber auch Zeit", maulte ein Mann.


***

Karla sah aus dem Fenster und suchte nach dem Gletscher. Sie hatte sich ein bestimmtes Bild davon gemacht, blau-weiße Eismassen, viel Wasser, Kälte, Wind, unruhige See. Und jetzt: offene Prärie. Es dämmerte ihr natürlich rasch, daß ihre Reise noch nicht zu Ende war, aber dennoch fühlte sie sich betrogen.


***

"Genießen Sie die Landschaft. Calafate-Tours zeigt Ihnen alle Naturschönheiten dieser Gegend. Der Vorteil: Sie buchen, fahren, hören und sehen alles auf bequeme Art und Weise. Buchen Sie bei uns und Sie erhalten einen rundum Service. Mein Name ist übrigens Alberto. Beschwerden richten Sie bitte an den Eigentümer."
"Und wer ist der Eigentümer?"
"Haben Sie eine Beschwerde?"
"Vielleicht."
"Ich bin der Eigentümer", sagte Alberto.
"Vergessen Sie‘s", sagte der Mann.
"Das können Sie doch nicht machen", erwiderte Alberto. "Jetzt haben Sie meine Neugier geweckt, geben Sie mir eine Chance. Wirklich, Sie können mir ... ."


***

Paul warf einen verstohlenen Blick auf Karla, die neben Maria stand und nur widerwillig auf ihre Fragen antwortete. Paul war verwirrt. Die ganze Fahrt über, dachte er darüber nach, was geschehen sein, was er falsch gemacht haben könnte. Karla hatte sich über Nacht verändert. Sie verhielt sich ihm gegenüber abweisend, zynisch und reserviert. Gestern abend noch waren sie sich sehr nahe gewesen, viel zu nahe, wie Paul gedacht hatte. Aber vielleicht war das ja auch nur eine seiner üblichen Täuschungen. Er interpretierte freundschaftliche Zuneigungen oft als eine Art erotisches Angebot. Vielleicht hatte sie einen Rückzieher gemacht, weil er zu aufdringlich gewesen war. Während er das Gespräch des Vorabends noch einmal in allen Einzelheiten durchging, nach Aussagen oder Gesten seinerseits suchte, die Karla irritiert haben könnten, tat er einen Schritt von der Straße weg, hinein in die Landschaft und da war plötzlich wieder dieser Western in seinem Kopf. Vielleicht waren es die Konturen der Landschaft, der verfaulte, weiß schimmernde Baumstamm vor ihm oder auch nur das Flimmern der Luft über dem Wasser. Er konnte förmlich die Siedlertrecks sehen, die durch das Tal zogen; die Indianerhorden, die vom Talende heranbreschten; die Desperados, die sich auf einen Zug schwangen; die einsamen Männer, die auf der Suche nach Gerechtigkeit endlose Prärien durchquerten, sich kasteiten, während sie im Kampf standen, denn aus dem Kampf leiteten sie ihren Rechtsanspruch auf die Frauen ab, die sie in den Städten zurückließen, wo sie auf sie warteten, empfangsbereit. Damals, in seiner Jugend war die Welt noch in Ordnung, Frauen und Männer waren an ihrem Platz, da gab es ein geheimes System, mit ungeschriebenen Gesetzen, da gab es diese eindeutigen Bilder, ganz bestimmte Vorstellungen über das andere Geschlecht, Erwartungen, Hoffnungen und Träume, die erfüllt werden mußten. Doch von Jahr zu Jahr, von Beziehungsversuch zu Beziehungsversuch zeigte sich, daß das, was Paul darüber gehört, gelernt und gedacht hatte, nichts mit den realen Frauen und Verhältnissen zu tun hatte. Frauen standen keineswegs dort, wo er sie gerne hingestellt hätte, nämlich eine Stufe unter ihm, gehorsam, fügsam und willig. Die Frauen widersetzten sich seiner Form des Glücks und verließen ihn mit zunehmendem Alter immer rascher. Je älter er wurde, desto kürzer wurden die Zeitintervalle, die zwischen dem ersten und dem letzten Kuß lagen. Bei Karla war er nicht einmal bis zu einem Kuß vorgedrungen. Auf seiner Reise hatte er das Beziehungsspiel verlernt. Es gab nie mehr als eine flüchtige Bekanntschaft. Er war einfach ungeübt in Liebesangelegenheiten. Vielleicht war er ja auch deswegen von zu Hause weggefahren, um dieser Beziehungsstörung zu entkommen. Auf Reisen war eine Liebesbeziehung immer beschränkt. Paul war erstaunt, daß er an Liebe dachte, wo doch zwischen ihm und Karla nichts weiter vorgefallen war als eine gemeinsame Wanderung, ein Spaziergang und ein, zugegeben etwas romantisches Abendessen.


***

Der Parkplatz vor dem Abgang zum Glaciar Moreno war etwas abschüssig. Reisebusse und Privatwagen standen auf den von weißen Linien markierten Parkfeldern. Eine Holzbrüstung trennte den Parkplatz vom Abhang. In einiger Entfernung war der Gletscher zu sehen, der sich von hohen Bergen begrenzt nach Westen ausdehnte.


***

"Halten Sie sich hinter den Holzmarkierungen", sagte Alberto. "Betreten Sie unter keinen Umständen die Uferböschung, versuchen Sie nicht auf den Gletscher zu kommen. Es ist gefährlich. Durch abbrechende Eisbrocken könnte eine Flutwelle ausgelöst werden, die Sie mitreißt und ins Wasser spült. Die Folge wäre: Tod durch Erfrieren. Im Übrigen wären Sie nicht die ersten. Vor zehn Jahren bestiegen zwei Touristen ohne fachkundige Begleitung den Gletscher. Die Folgen: sie fielen in eine Gletscherspalte und ertranken. Vor zwei Jahren gab das Eis die beiden frei. Die gute Nachricht: sie waren hervorragend konserviert, ihre Verwandten erkannten sie sofort wieder."


***

Alberto, der sich für seine Rede vor der Gruppe aufgebaut hatte, gab der Gruppe den Weg frei. Paul setzte sich sofort an die Spitze. Auf engen, abschüssigen Wegen legte er gerne sein eigenes Tempo vor. Er haßte es wie ein Pinguin hinter den anderen herzumaschieren, sich an dem Rücken, dem Hintern oder den Schuhen jenes Menschen zu orientieren, der vor ihm hertrottete. Der in Serpentinen angelegte Weg war mit Stufen durchzogen, die den Abstieg erleichtern sollten. Ein bequemer Abstieg, dachte Paul, als er Unten ankam. Er mußte sich noch zwischen ein paar Sträuchern durchkämpften bis er an der Uferböschung stand, die von runden Holzpfählen mit Querverstrebungen begrenzt war. Paul amüsierte sich, wie die Leute sofort ihre Positionen zu dem Geländer bezogen. Einige hielten sich einen Schritt vom Geländer entfernt auf, manche benutzten es als Haltegriff und wieder andere, getrieben von Albertos ausgesprochenem Verbot, kletterten hinauf, ohne sich jedoch darüber hinwegzusetzen.

Sie besetzten einfach die Grenze.


***

"Der Gletscher Perito Moreno ist siebzig Meter hoch und die Berge, die ihn umgeben, reichen bis auf zweitausend Meter Seehöhe", erklärte Alberto.


***

Die gigantischen Ausmaße des Gletschers erforderten eine enorme Imaginationsarbeit, denn die Betrachter standen zu weit vom Rand des Gletschers entfernt, um seine wahren Dimensionen spüren zu können. Das Gefühl für die Größe entstand durch Abstraktionsarbeit. Denn eigentlich wirkte der Gletscher vom Standpunkt der Betrachter aus klein und unscheinbar. Er bestand aus einem chaotischen Durcheinander von Brüchen, Kanten, Einschnitten, Erhebungen, Eisgipfeln und Schneetälern. Der Gletscherabruch glich einer Felswand in weißen Schattierungen. Dort, wo eine Kante einen Bruch zeigte, fiel Schatten auf das Eis und färbte es blau. Der Gletscher war permanent in Bewegung. Ein ewiges Prasseln, Knacken, Krachen, Donnern, Poltern und Grollen war zu hören. Zwischendurch brachen immer wieder dreißig, vierzig Meter hohe Eisblöcke aus der Wand und stürzten mit lautem Getöse ins Wasser, ließen Fontänen hochschnellen und trieben die entstehende Gischt vor sich her.


***

"Das wirklich erstaunliche dieses Gletschers ist ein Naturphänomen, das unter normalen Bedingungen alle vier Jahre auftritt", erklärte Alberto.
"Normale Bedingungen?" fragte ein Mann.
"Das Klima betreffend."
"Hat sich das Klima so stark verändert?" fragte Karla.
"Feuchten Sie einen Finger an und halten Sie ihn in die Luft. Sehr gut. Spüren Sie etwas?"
"Nein", sagte Maria.
"Sehen Sie, genau da liegt eines der Probleme. Normalerweise bläst es hier permanent Wind, oft artet er in einen Sturm aus. In Patagonien herrscht dieses Jahr seit beinahe drei Wochen völlige Windstille."
"Warum?"
"Manche meinen es hätte etwas mit der Klimaverschiebung zu tun. Jedenfalls bleibt das Phänomen, das ich Ihnen nun erklären will, aus. Sehen Sie da drüben den Durchbruch im Gletscher? Dort zwischen Felsen und Gletscherrand bildet sich normalerweise eine dicke Eisschicht, die das Wasser dieses Teiles des lago argentino, vom Wasser jenes Teiles abgrenzt. Die Eisbarriere bildet eine Art Staudamm. Im Laufe der Jahre sammelt sich eine große Menge Wasser an, die Druck auf das Eis ausübt und eines Tages bricht das Eis durch und eine riesige Flutwelle ergießt sich in den lago argentino. Glaciologen aus der ganzen Welt kommen hierher, um dieses Schauspiel zu beobachten. Das bedeutet vor allem Geld. Doch damit scheint es vorbei zu sein."
"Ist doch für die Natur gut, wenn nicht dauernd irgendwer durch die Gegend marschiert", sagte der Mann.
"Sie sind ja auch da, oder."
"Das ist wahr", sagte Maria.
"Und daran soll der ausbleibende Wind schuld sein?" fragte Karla.
"Gut aufgepaßt. Der Wind ist nur Teil des Problems, wie ich schon sagte. Kein Wind, höhere Temperaturen. Höhere Temperaturen, kein Eis. Kein Eis, kein Wasserstau. Kein Wasserstau, kein Naturphänomen. Kein Naturphänomen, kein Wissenschaftstourismus. Die Kette der Katastrophen ist endlos", sagte der Führer.


***

Karla sah Paul und Maria in friedlicher Eintracht an der Holzbrüstung stehen. Sie hoben sich in ihrer farbigen Kleidung von der weiß-blauen Landschaft deutlich ab. Unwillkürlich mußte sie an Ulf denken. Vielleicht weil es danach so weh getan hatte. Sie war immer davon ausgegangen, daß sie, wenn eine derartige Situation einmal eintreten sollte, großzügig sein würde, daß sie zwar verletzt, gekränkt und furchtbar böse sein, aber ihm dennoch verzeihen würde. Als er ihr eröffnete, daß er eine Affäre mit einer anderen Frau gehabt hatte, warf sie ihn kurzer Hand aus der Wohnung. Eine Überreaktion wie sie sich später eingestand, aber sie wollte ihn einfach nicht in ihrer Nähe haben. Die Vorstellung er könnte versuchen, sie zu berühren, ekelte sie an. Karla wollte einfach nicht von den gleichen Fingern gestreichelt werden, die vielleicht noch kurz zuvor in der warmen Feuchtigkeit einer anderen Frau herumgewühlt hatten. Und gerade weil sie sich so sehr danach sehnte, von ihm umarmt zu werden, sich einhüllen zu lassen, so zu tun, als wäre immer noch alles am richtigen Ort, im richtigen Zusammenhang, mußte sie ihn loswerden. So rasch wie möglich. Zuerst hatte er an ihre Vernunft apelliert, dann hatte er sie um Verzeihung gebeten, doch sie blieb hart. Sie sagte, er müsse gehen. Ulf verbrachte die Nacht bei einem Freund, und schon am nächsten Morgen wurde ihr klar, daß sie kein Recht hatte, sich so aufzuführen, schließlich war es ihr auch schon passiert, daß sie nicht widerstehen konnte. Doch es blieb ein Rest von diesem Recht-haben-Wollen zurück, denn damals war es schließlich etwas anderes gewesen, der Zeitpunkt, die Gelegenheit und der Grund waren einfach anders, nicht derart ungünstig. Ulf kam zurück, nach einer langen schrecklichen Nacht für beide. Es folgten zahllose Gespräche, Wochen der Auseinandersetzung, der Klärung, der Verweigerung der Erkenntnis, daß es eigentlich längst zu Ende war. Es wären nur ein paar Tage gewesen, während seines letzten Skiurlaubes, nichts von Bedeutung, ein Abenteuer. Karla war gekränkt, sie war kein Abenteuer mehr für ihn, sie war sein Alltag, so wie er ihrer geworden war. Dann war sie auch noch dumm genug gewesen, ihn nach ihr zu fragen und er hielt sich auch nicht zurück und erzählte freimütig, als wolle er eine große Beichte ablegen, sich seiner Schuld entledigen, als hoffe er auf Absolution. Das Frage-Antwortspiel half ihnen zwar über den Schmerz, die Kränkung und die Schuld hinweg, machte aber die Trennung immer unausweichlicher. Schon lange hatte Karla an ihrer Beziehung gezweifelt, doch das fand sie ganz normal. Immer gab es Tiefpunkte, kein Mann ist der Traumprinzip, immer gibt es Reibungsflächen, Unzufriedenheiten, etwas zu Nörgeln, Gewohnheiten, die ihr einfach gegen den Strich gingen, die sie ihm aber nicht abtrainieren konnte, weil er sie als letzte Rückzugsbastion seiner Männlichkeit sah. Aber gerade an dieser Männlichkeit begann sie nun unsicher zu werden. Und mit Ihrer Unsicherheit wuchs seine Unzufriedenheit. Sie fragte sich, was ihn wohl dazu getrieben haben mochte. Was hatte ihn zu dieser Frau hingezogen. Natürlich, jeder wollte zwischendurch überprüfen, ob er das Spiel noch beherrscht, ob er noch attraktiv genug sein, ober er noch eine finden würde, wenn sie ihn sitzen ließe. Doch da war noch etwas anderes, das sie beunruhigte: war es wirklich nur ein hormoneller Reflex auf ihre riesigen, wippenden Titten gewesen, auf ihren sinnlichen Zungenschlag oder den übermäßigen Alkoholkonsum, wie er behauptet hatte. Karla konnte am Schluß nicht mehr sagen, ob Ulf es getan hatte, weil er seinen Hormonen erlegen war, oder weil er sich selbst beweisen wollte, daß er noch ein ganzer Mann war, weil er Stärke und macht demonstrieren wollte. Sie konnte mit dieser Machtphantasie nicht weiterleben. Sein Versuch sich mächtig zu fühlen, wurde zum Angelpunkt ihrer Beziehung. Was früher ein Spiel gewesen war, wurde zum Kampf.

Es ging um die Vorherrschaft.


***

"Seht nur!" rief Maria. "Jetzt!"


***

Ein Eisbrocken beinahe so hoch wie ein Einfamilienhaus hatte sich aus der Gletscherwand gelöst und stürzte ins Meer, trieb eine Welle vor sich her, die sich rasch auf dem See ausbreitete und mit einiger Verspätung gegen den Felsen schlug. Das schwimmende Eis wurde von den Wellen hoch gedrückt, schwankte und schlug gegeneinander, rieb sich, stieß sich und schließlich ließ die Brandung eine Gischt hochschlagen, die nur knapp unter dem Abhang gegen den Fels brandete.


***

"Eine Fontäne. Karla, sieh nur!" rief Paul.


***

Karla sah wie Paul sich ihr zuwandte, wie sein strahlendes Gesicht plötzlich einen Zug von Kindlichkeit bekam. Und dieses Lachen galt nur ihr, ihr alleine. Er wollte diesen Augenblick mit ihr teilen, dachte Karla und ging auf ihn zu.
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Dieser Text ist das sechste Kapitel der Erzählung Einander Zwei. Erschienen in der Edition Art Science 2009. Für alle die das Buch auch in Papierform lesen wollen, können es [hier] bestellen.

eingestellt am: 2.1.2021 | zuletzt aktualisiert am: 2.1.2021
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