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Fern-sehen und all das Andere
Meditation zu Neil Postman und Günther Anders


Fern-sehen: ein doppelter Sinn

Fern-sehen ist ein doppeldeutiger Begriff. Er bezeichnet rein technisch gesehen einen Vorgang, bei dem der Fernseher (Betrachter, Zuschauer) auf einen Fernseher (Bildschirm, TV-Gerät) starrt. Im Wort Fern-sehen finden wir also zwei Begriffe, die als wesentliche Kategorien unserer Zeit angesehen werden können.


Fern(e)

Die Ferne ist das Weite, das am Horizont des Meeres Ins-Nichts-Gerückte, das nur vage oder gar nicht Sichtbare bzw. Erkennbare. Das Ferne geht auf Distanz zum Betrachter, es ist auch das Fremde, das Noch-nicht-Gekannte, auf einer Reise der Punkt, an den wir gelangen möchten, das Ziel aller Sehnsüchte und Ängste, letztlich der Endpunkt des Lebens, der in zeitlicher Ferne liegende Tod.

Ferne kennzeichnet also ein räumliches wie zeitliches Distanzverhältnis. War es früher so, daß die Ferne, das Entfernte, das Hinter-den-Bergen-bei-den-sieben-Zwergen-Liegende, das sagenumwobene Fremde, meist als gefährlich und oft als barbarisch bezeichnet wurde und das Nahe als das Heimische, das Eigene, das Gute und Alltägliche, so kehrt sich dieses Verhältnis in der multimedialen Kultur um. Das Ferne oder besser der/die ferne Person, das ferne Bild, die ferne Information wird uns zum Maß für das Ideale, das Eigene, das Heimische. Nehmen wir nur das Internet, die Chatrooms und Talkshows. Im multimedialen Zeitalter - der letzten aller historischen (also menschlichen, also modernen) Epochen - erscheint uns das, was am Bildschirm (TV- oder Computermonitor) vor sich geht, nahe, vertraut und unserem Lebensalltag angemessen. Wir finden Sexual- und Lebenspartner per Chatroom, wir holen uns Informationen vom Bildschirm (nur einen Mausklick entfernt) und wir lassen uns von Talkmastern in allen Lebensbereichen beraten, belehren und führen.

Widerstand ist in dieser fernen Welt nicht möglich. Sicherlich könnte ich den Fernseher oder Computer abschalten. Noch. Denn wer wird seinen Arbeitsplatz, seine sozialen Bindungen aufrechterhalten, wer seine Alltagsgeschäfte erledigen können, wenn er seinen Monitor, der den Blick in die Ferne freigibt, am Morgen nicht unter Strom setzt. Die Zukunft der multimedialen Zivilisationsverweigerer sieht nicht rosig aus: ein Leben in Armut und Isolation. Die Ferne wurde in den letzten dreißig Jahren zum gesellschaftlichen Maß, an dem sich alle/alles messen müssen/muß.


Sehen

Sehen heißt erkennen. Doch wie Günther Anders schon schreibt: Was wir herstellen, können wir uns nicht mehr vorstellen. Bleibt die Frage zu klären, wenn wir uns unsere Produkte nicht mehr vorstellen können, sehen wir sie dann noch? Nehmen wir nur ein TV-Gerät. Was sehen wir denn da? Eine, zumeist schwarze, Hülle mit mehr oder wenigerflimmerndem Bildschirm.

[Exkurs: Die Schwärze sollte uns zu denken geben. Welchen zeitlich fernen Sehnsüchten geben wir hier nach, indem wir täglich dem schwarzen Tod ins Auge sehen?]

Die Entstofflichung des Fernsehers ging schrittweise vor sich. Mußten wir zu Beginn des TV-Zeitalters noch Knöpfe und Regler bedienen, also physischen Kontakt mit dem Gerät aufnehmen, so wurde mit der Entwicklung der Fernbedienung, die unsere letzte körperliche Erfahrung mit dem Gerät darstellt, ein weiterer Schritt in die Virtualisierung des Bildes gemacht. Was übrig blieb, war eine flimmernde Kiste, die in den Nachkriegsjahren auch als Flimmerkiste bezeichnet wurde. Das Flimmern störte schon damals das Sehen, erregte aber noch soviel Aufmerksamkeit, eine Art Widerstand, der zu überwinden war, um das Bild sehen, um die Information aufnehmen zu können. Um diese Informationsaufnahme zu stoppen, mußte also das Flimmern verschwinden. Und das tat es dann auch. Was blieb, waren die Informationen und das Gerät. Doch selbst dieser letzte symbolische Rest unserer Sterblichkeit wird bald verschwinden, wenn die Fernseher durch Wandprojektoren ersetzt werden, die wir nicht mehr sehen können, und vielleicht durch einen Chip, der in unseren Gehirnen verankert ist, ihre Kommandos erhalten. Der einzige materielle Beweis dafür, daß sich die Ferne in einem Gerät, in einer Maschine befindet, wäre damit beseitigt. Das Bild würde in eine virtuelle, entstofflichte Ferne rücken.

Sehen ist nun aber auch noch mehr als Wahrnehmen und Aufnehmen. Sehen bedeutet in einem weiter gefaßten Zusammenhang auch Erkennen. Denken wir nur an den Beruf des Sehers, dessen Aufgabe es war, etwas Zukünftiges zu erkennen, zu antizipieren, sich und die Welt in der Zukunft zu entwerfen. Das Fernsehen hat uns aber daran gewöhnt, uns mit dem Sehen ohne Erkennen zufrieden zu geben.

Gehen Sie doch mal in einen Elektronikgroßmarkt, in die TV- und HiFi-Abteilung. Dort werden Sie Geräte sehen, von denen Sie nur durch die Beschreibung auf den Geräten oder den beigestellten Hinweistafeln erkennen können, welche Funktion sie erfüllen, ob es sich um einen Satelitenreceiver, einen CD-Player oder einen Videorecorder handelt. Erst die Auf-Schrift, die eingebrannte Spracherkennung macht die Unterscheidung möglich. Unsere Kaufentscheidung hängt also nicht in erster Linie vom Sehen, sondern vom Lesen ab. Und Lesen ist ein Erkenntnisprozeß, der über das bloße Sehen hinausgeht.

Sehen ist durchaus etwas, das sich mit der Ferne kombinieren läßt. Sehen ist etwas, das nur in der Distanz möglich ist. Wenn ich mir ein Buch zu nahe vor die Augen halte, kann ich nichts mehr sehen. Für das Sehen brauche ich Distanz. Das Erkennen - Ich habe ihn erkannt - spielt sich aber im Denken ab, also bei mir, in meinem Kopf, in der Nähe.


Distanzierung

Dem Fern-sehen wohnt von vornherein noch kein Erkenntnisprozeß inne. Wer nur in die Ferne sieht, wird noch lange nichts sehen. Er wird zwar wahrnehmen, vielleicht sogar noch aufnehmen, aber hat er deswegen schon erkannt? Erst wenn ein Mensch mir nahe kommt, kann ich ihn unterscheiden, ihn als jemanden, den ich kenne, erkennen oder ihn eben als unbekannt klassifizieren. In der Ferne bleibt er vage, unkenntlich und fremd. Das In-die-Ferne-sehen kann durchaus die Phantasie anregen, Überlegungen provozieren, diese sind aber immer spekulativ, unüberprüfbar. Die Entfremdung, der wir ausgesetzt sind, wenn wir in die Ferne sehen, seit wir begonnen haben, uns aus den germanischen, keltischen und gallischen Dorfstrukturen zu entfernen, ist jene der Distanzierung. Wir distanzieren uns von dem, was uns heimisch ist, von der Gruppe, dem Kollektiv.

Die Aufklärung und ihr kritischer Impuls waren der Versuch, Nähe zurückzugewinnen, denn Kritik ist nur dort möglich, wo Nähe, also Überprüfbarkeit herrscht, wenn auch nur in Form eines schriftlichen Textes vermittelt. Der schriftliche Text und die philosophische Rede, letztlich die moderne Philosophie, sind Bollwerke gegen diesen Prozeß der Distanzierung. Alle Wissenschaftlichkeit wäre demnach der Versuch, die verlorene Nähe der Dorfstruktur zu transformieren, um sie in einer sich am Ende des Mittelalters neu formierenden, städtischen Kultur (im Entstehungsprozeß der Moderne) zu bewahren bzw. wiederzugewinnen. Der Widerstand, der im schriftlichen Text gegen die Entfremdung und damit gegen die Distanzierung unternommen wurde, war zwecklos, denn schließlich war der schriftliche Text/das Buch der notwendige Übergang zum Bild/Fernsehen und schließlich zur Information/Computer. Erst diese Übergänge machten die Entwicklung einer Massengesellschaft, in der die Menschen als Masseneremiten leben, möglich. Das Buch/der schriftliche Text war nur ein erster Schritt im historischen Distanzierungsprozeß.

Im multimedialen Zeitalter, in der Vollendung des menschlichen Traums einer körperlichen Unsterblichkeit (wir stehen ja kurz davor, sie virtuell und gentechnologisch zu verwirklichen) – die virtuelle haben die Religionen längst vorweggenommen – gibt es kein kritisches Vermögen mehr, weil Nähe im fernen Sehen nicht möglich ist. Die Verweildauer der Bildsequenzen ist zu kurz, um noch irgendeine Form der Nähe herzustellen und damit aus dem fernen Sehen ein nahes Erkennen zu formen.

[Exkurs: Die Psychotherapie kann in diesem Zusammenhang auch als verzweifelter Versuch gewertet werden, der im 19. und 20. Jahrhundert rasant anwachsenden Distanzierung und Entfremdung schrittweise entgegenzuwirken, Nähe herzustellen, wo sie zwischen Menschen verloren geht. Doch je rascher die multimediale Durchdringung der Gesellschaft voranschreitet, desto weniger wirksam sind die hunderterlei Formen der Pschotherapie, weil sie auf Basis eines Nähe-settings: Klient/Therapeut zustande kamen. Bei Menschen, die zunehmend ohne menschliche Arbeitskollegen, Beziehungs-, Sexual- und Freizeitpartner auskommen müssen, also ihre Erfahrungen in einer Monitor-Mensch-Beziehung, also einer Fernseh-Beziehung machen, muß die Psychotherapie rasch neue Methoden entwickeln (eine ist die Re-theologisierung über die Esoterikwelle), um nicht als antiquierte Reparaturwerkstatt für die zwischen ihren Geräten herumlungernden Menschen zu verkommen und damit die falschen Symptome zu bearbeiten und somit wirkungslos zu bleiben.]


Wir informieren uns zu Tode

Das Kino wird oft mit dem Fernsehen verglichen. Doch Kino ist etwas anderes. Es ist mehr als nur Unterhaltung, es macht Kunst möglich, es entwickelt eine eigenständige Ästetik und es ist ein in sich geschlossener Vorgang, ähnlich einem Buch. Ein Kinofilm hat einen eindeutigen Anfang und ein ebensolches Ende. Wir müssen den Kinosaal verlassen, wenn der Film zu Ende ist. Im Kino bewegen wir uns noch in der Welt, im Fernsehen bewegt sich die Welt um uns, denn Fernsehen endet nie, außer vielleicht damals in den achtziger Jahren in Österreich, als der Bildschirm nach Mitternacht mit einem Testbild versorgt wurde. Insofern war das Testbild ein Meilenstein in der Fernsehunterhaltung: billig, funktionell, permanent einsetzbar und unterhaltend.

Wie schon im Radio, wo Musik, Diskussionen, Nachrichten und Hörspiele sich abwechselten ohne Ende, hat das Fernsehen dies fortgesetzt und mit Unterhaltung durchsetzt; selbst das Wetter ist unterhaltsam und spannend geworden, als ob es für einen Städter (und die Mehrzahl der Menschen lebt heute in Städten) irgendeine Bedeutung hätte, ob es regnet oder die Sonne scheint. Der Unterschied liegt höchstens in der Frage: Soll ich einen Regenschirm mitnehmen oder nicht. Im Fernsehen wird der Wetterbericht jedoch zu einer fundamentalen, täglich aufs neue die Nerven zerreibende Nachricht hochstilisiert, zu einer Information, ohne die unser Leben an Sinn verlieren würde. Im Fernsehen wird also sogar das Bedeutungslose noch zur Unterhaltung.

Mag ja sein, daß uns das Fernsehen, wie Neil Postman formuliert, zu Tode amüsiert, weil es keinen Zugriff auf Inhalte bietet, aber das ist ja nur ein Teil der Geschichte. Mittlerweilen müßte die These von Neil Postman im Lichte der multimedialen Telekommunikationsnetzwerke ergänzt werden durch den Satz: Wir informieren uns zu Tode.

In der multimedialen Telekommunikationsgesellschaft wird dem Hören (Radio), dem Sehen (TV) und der Ästethik (Kino) auch noch die Information (Computertechnologie) hinzugefügt ,und wir werden auf Knopfdruck mit Informationen überschüttet, so wie wir im Fernsehen mit Unterhaltung zugepflastert werden. Die Suchmaschinen im world wide web sind Ausdruck dieser User/Benutzerüberforderung. Die Zukunft gehört denjenigen Menschen, die in der Lage sind, Informationen zu sortieren, zu analysieren, zu filtern und neuerlich zur Verfügung zu stellen. Und damit könnten wir mit Postman schreiben: Problematisch an den multimedialen Netzwerken ist nicht, daß sie uns über Themen informieren, problematisch ist, daß sie jedes Thema als Information präsentieren.

Wenn wir so wollen, ist die Informationsgesellschaft die Quadratur der Distanz, denn die Information ist nichts wert ohne ihre Bewertung, Bearbeitung, Umarbeitung, Zerstückelung und Veränderung. Aber auch dieser Vorgang setzt wieder Denken voraus. Und Denken findet bei mir, in meiner Nähe, in meinem Kopf statt. Das Besondere ist ja nicht die Technologie hinter der Information, sondern daß sie auf uns Menschen trifft, die durch das Fernsehen bereits so auf Distanzierung gedrillt sind, daß uns das Fehlen von Nähe gar nicht mehr auffällt. Wir sind es so gewohnt, fern zu sehen und uns fern zu informieren, so daß wir das, was wir vor Ort sehen, was uns vor Ort informiert, gar nicht mehr wahrnehmen und in Erkenntnis verwandeln können. Solidarität per Internet mit den Zapatistas in Mexiko, den Erdbebenopfern in der Türkei, den Kriegsgeschädigten in Ex-Jugoslawien, auch mit dem Nachbarn, sofern er sich im Internet befindet, ist leichter herzustellen, als mit Mitarbeitern im eigenen Betrieb, einem Inhaftierten in den heimischen Gefängnissen und den Opfern sozialer Repression im eigenen Land. Besonders hilflos sind wir, wenn uns diese Menschen auf der Straße begegnen, uns die Hand entgegenhalten und uns um etwas bitten, um eine Gefälligkeit, um ein paar Almosen oder um ein Gespräch. Diese Menschen kommen uns nahe, sie sind plötzlich anwesend in unserem Leben – keine Oberflächen mehr und keine Bilder, sondern reale Körper, die uns bedrängen, die uns herausfordern, zu denen es uns nicht gelingt, Distanz herzustellen. Trainiert auf Distanz, können wir Nähe nicht mehr ertragen. Das körperlich Anwesende ist zu nahe, zu wenig unterhaltsam und viel zu informativ. Denn die nahen Opfer fordern von einem vom Geist des Humanismus durchträmkten Individuum eine moralische Tat, ein Handeln. Das ferne Opfer fordert vielleicht eine Geldspende, möglicherweise eine schriftliche Solidaritätsbezeugung, aber selten eine moralisch-körperliche Stellungnahme, keinen Einsatz des Lebens, der sozialen Stellung oder des beruflichen Ansehens. Die Distanzierung der multimedialen Kultur kann also auch als eine Überwindung der humanistisch-aufgeklärten Moderne gesehen werden.

Die Fragen der Aufklärung, also jener nach kritischer Vernunft, müssen daher neu gestellt werden, denn dort ist Kritik nicht mehr möglich, wo Information nicht mehr in Wissen transformiert, also verarbeitet, in Erkenntnis verwandelt werden kann, weil sie sofort von neuen Informationen hinweggespült wird, in kurzer Zeit veraltet, bevor sie im Denken eine gewisse Selbständigkeit erlangen kann. Wenn wir Foucault folgen, der schreibt: "Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden." (...) "Nicht regiert werden wollen" heißt schließlich auch: nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfall nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe, es anzunehmen, selber für gut befindet, dann haben auch Informationen dadurch eine Art Autoritätscharakter in der Telekommunikationsgesellschaft entwickelt, so daß sie als wertneutral angesehen werden. Informationen sind aber nicht wertneutral, sie sind von irgend jemand in die Welt gesetzt worden, der ein bestimmtes Ziel verfolgt: Informationen sind im weitesten Sinne auch Wahrheiten. So, wie das Fernsehen eine neue Definition von Wahrheit hervorgebracht hat, letztes Kriterium für die Wahrheit eines Satzes ist die Glaubwürdigkeit des Sprechers (Neil Postman), hat auch das www eine Art von Wahrheit hervorgebracht. Das Kriterium für die Wahrheit einer Information ist die Information selbst. Überprüfung ist nicht mehr unbedingt notwendig, da wir die Information ohnehin sofort wieder weitergeben oder sie in ein System mit anderen Informationen einbetten. Die im telekommunikativen Universum vorhandenen Informationen sind schließlich und endlich aus ihrem Entstehungskontext herausgelöst und somit wertlos. Erst wenn wir sie bearbeiten, verarbeiten, in eine Textstruktur einbinden, also verschriftlichen, erhält die Information wieder einen Wert, dazu muß sie aber kritisch befragt werden. Nur wenn wir Information in Wissen verwandeln, ist es möglich, von den Medien und ihrer Desinformationspolitik nicht regiert und letztlich nicht beherrscht zu werden.

Kritik ist also die Verarbeitung, Be-, Ver- und Umwertung von Informationen, ist ein Aneignungsprozeß, der über das Sehen, das Hören, also das Wahrnehmen, hinausgeht. Die Bildschirme (TV- oder Computermonitore) sind Wahrnehmungsapparate, die dort, wo es sich nicht um Diskurs (also Frage- und Antwortspiele; chatrooms, newsgroups) handelt, keine Kritik mehr zulassen.

Und eines Tages wird uns der Monitor selbstverständlich sein, so wie wir einst das Buch als Informationsgeber akzeptiert haben. Und wir werden einen weiteren Schritt in der Distanzierung vorangekommen sein. Jedoch wäre das ein Schritt in die Totalisierung der Distanz, denn das Buch hat nie Zugriff auf unsere Alltagsgeschäfte (Liebe, Sexualität, Beziehung, Einkauf, Freizeit) genommen. Es hat uns angeregt, aufgeregt, erregt, aber uns nicht auf totalitäre Weise bestimmt.

In einem totalitätren Pluralismus steckt die Gefahr des telekommunikativen Universums, weil dort in kongenialer Weise Unterhaltung (Fernsehen - Neil Postman) und Information (Maschinen - Günther Anders) zu einem Gesamtkontext verschmelzen, zu einer Art von Welterfahrung zusammenwachsen, die noch dazu den Anschein erweckt, als wäre diese Welt jederzeit neu programmierbar, neu herstellbar, also jederzeit ersetzbar. Und das für mich wirklich verblüffende ist, es hat nicht nur den Anschein, sondern es ist real so, es liegt eine Faktizität in dieser Fiktion. Damit wird aus einem science-fiction eine real-fiction. Ein neues Universum ist geschaffen, das sich permanent selbst erzeugt, und wir müssen mit und in ihm leben. Wir sind Menschen ohne Welt geworden, nicht weil wir zu viele zur Verfügung haben, sondern weil wir uns ausschließlich einer unterwerfen müssen, der Welt der Medien, mit der und durch die wir leben.


Noch eine Nebensächlichkeit: Politik

Ronald Reagan for President hat funktioniert, weil er als Schauspieler selbst nur ein Produkt der Fernseh- und Werbeindustrie war. Er war kein Produzent, sondern ein Mitläufer, ein, wenn auch gut bezahlter, Lohnarbeiter. Und solche Leute machen wir gerne zu unseren Präsidenten, schließlich hat er uns lange Jahre mit mehr oder weniger guten Filmen unterhalten. Er hat uns die Politik vorgespielt, denn nichts anderes ist ja Politik im Fernsehen: Dies ist die Lehre aller wichtigen Fernsehspots: Sie liefern einen Slogan, ein Symbol, das für die Zuschauer ein umfassendes, unwiderstehliches Bild ihrer selbst hervorbringt. Der Übergang von der Parteipolitik zur Fernsehpolitik richtet sich auf das gleiche Ziel. Man läßt uns nicht herausfinden, wer als Präsidnet, als Gouverneur, als Senator der Beste wäre, statt dessen können wir in Erfahrung bringen, wessen Image die Tiefenschichten unserer Unzufriedenheit am ehesten erreicht und diese Unzufriedenheit am ehesten beschwichtigt.

Bill Gates for President würde nicht funktionieren, weil die Programmierer immer noch die Feinde der User sind. Wir mißtrauen ihnen, weil sie die Welt herstellen, die wir benutzen. Und wer will schon Gott zum Präsidenten haben? Ronald Reagan hat das Medium nicht produziert, in dem er sich produziert hat. Er war selbst ein Produkt der Bildermacher. Bill Gates, oder wer auch immer, ist ein Miterfinder des Mediums. Er ist ein Networker. Daher werden wir ihn nie zu unserem Präsidenten wählen, schon gar nicht per Mausklick, denn den kann er viel besser kontrollieren, als wir je dazu in der Lage sein werden. In einer ersten Phase der neu entstehenden Netzwerk-Demokratie werden wir nur Politiker zulassen, die nichts mit der Produktion der Welt, in der diese Demokratie stattfindet, zu tun haben, außer vielleicht, daß sie sie finanzieren. Genaugenommen lassen wir ja auch in der nicht-virtuellen Demokratie keine Politiker zu, die unsere Welt herstellen: Priester, Kapitalisten, Künstler und Wissenschafter sind uns immer suspekt, wenn es um Wahllisten geht. Wir mißtrauen ihnen. Und das mit gutem Grund. Denn sie geben die Parameter vor, nach denen ein Leben sich zu lohnen hat.


Das monitorische Sitzen

Mit dem Fernsehen wurde Information jeder Art nicht nur zur Unterhaltung, sondern die Menschen wurden auch daran gewöhnt, vor einem TV-Monitor stundenlang auszuharren. Dies war die Voraussetzung dafür, daß wir alle heute in der Lage sind, acht, zehn, zwölf Stunden und mehr vor einem Computermonitor zu sitzen. Eine unglaubliche Disziplinierungsleistung, wenn wir bedenken, daß die amerikanische Gesellschaft auf dem Prinzip der Mobilität errichtet wurde – Auto, Schiene, Arbeitsplätze –, alles richtete sich nach dem Aufbruch Richtung Westen. Doch damals bewegte sich der Mensch in der Welt, heute bewegt sich die Welt rund um den Menschen. Heute haben wir alle Winkel der Erde mehr oder weniger erforscht, erobert und besetzt, wir müssen uns nicht mehr in der Welt bewegen, denn wir können uns jederzeit per Mausklick auf sie zu bewegen.

Eine wesentliche Kategorie der Moderne muß damit neu bewertet werden: die Mobilität. Sie ist einer raschen sozialen Halbwertzeit unterworfen. Und dann gibt es da noch diesen Werbespot im Fernsehen über den Gründer von amazon.de (Internetbuchhandlung), der sich dreißig Sekunden lang mit der deutschen Post zusammengetan hat. Während er dafür wirbt, Bücher auf Mausklick zu bestellen, sagt danach ein Postbeamter sinngemäß: Aber einer muß noch aus dem Haus, um sie zu liefern. Die Frage ist: Wie lange noch? In Zeiten von books on demand kann sich heute jeder mit einem Hochleistungskopierer (die sind sogar bereits für den Privatgebrauch erschwinglich) Bücher direkt aus dem Netz laden und drucken. So ,wie die Musik- und Filmunterhaltungskonserven (CD, DVD) direkt aus dem Netz auf Datenträger gebrannt werden können. All dies wird in Zukunft gelöst sein. Nur das Problem mit der Nahrungsbeschaffung wird noch längere Zeit ungelöst bleiben. Aber auch das werden wir in den Griff bekommen. Ich bin zuversichtlich.


Vorläufiges Ende: Die 68er und ihre Kinder

Wie sich nun langsam herausstellt, sind die 68er im Zuge ihrer Regierungstätigkeit in aller Herren Länder nicht wesentlich flexibler als ihre Eltern. Sie beweisen es in ihrer alltäglichen politischen Arbeit: Die 68er sind traurige, verbissene und langweilige Gestalten, sie sind gefangen in ihren Schuldbekenntnissen für eine Tat, die sie selbst nie begangen haben. Sie leisten Sühne für die Toten, die ihre Eltern und Großeltern im Nationalsozialismus hinterlassen haben. Das ist es, was die Moral der 68er so grausam und sie selbst in der jetzigen Regierungsverantwortung so unattraktiv macht. Die 68er sind, um mit Neil Postman zu schreiben, eine Text/Buchgeneration (vielleicht die letzte). Doch ihre Kinder und ihre jüngeren Geschwister sind mit dem Fernsehen als omnipräsentem Medium aufgewachsen. Die Kinder der 68er überholen ihre Eltern im Internet und legen keinen Wert mehr auf ihre Inhalte. Sie wollen arbeiten, für ihre Leistung gut bezahlt werden und sich amüsieren.

Die Kinder der 68er brauchen keine Revolutionen mehr machen, denn sie leben in einer und durch eine hindurch. Alles steht ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie müssen nur die richtigen Felder anklicken, um Erfolg zu haben. Es grassiert Optimismus. 'Wir leben in einer Welt, die uns wahnsinnig viel zur Verfügung stellt', sagt Sommer. 'Wir müssen keine Hörsäle mehr erstürmen, wir müssen nicht mehr wie die 68er Freiheiten erkämpfen.' (Spiegel 21/2000) Da scheint Günther Anders' Vision von einem totalitären Pluralismus doch noch Wirklichkeit geworden zu sein: "Was ich meine, ist allein die Tatsache, daß wir allein durch den heimlichen Totalitarismus der Medien in der sog. 'freien Welt' dazu gezwungen sind, uns für 'frei' und für 'Gegner des Totalitarismus' zu halten." Die eineindeutige Welt ist verwirklicht, der Pluralismus/die Demokratie als Ideal der Aufklärung und als Gegensatz zum Totalitarismus hat uns endlich in die totale Freiheit geführt. Und in diesem Prozeß ging wohl keine Generation politisch so verloren wie die von 1968, denn sie waren geprägt von Sprache und Schrift. Ihre Vordenker waren aufgewachsen mit den Idealen der französischen und sowjetischen Revolution und konnten ihre Heldentaten dann auch noch selbst im Fernsehen bewundern. Sie sahen sich selbst am Bildschirm Steine werfen, gegen Wackersdorf demonstrieren, und sie sahen die Welt mit sich mitmarschieren. Das Fernsehen vermittelte, daß die Revolution kurz bevorstünde, daß die Arbeiter und Studenten in aller Welt mit ihnen solidarisch seien. Es wurde das Bild eines weltweiten Umsturzes, eines flächendeckenden terroristischen Netzwerkes unterstellt, denn überall geschah das Unglaubliche: in Argentinien, in Uruguay, in den USA, in Mexiko, in Frankreich, in Italien und in Deutschland. Sogar in Österreich fand sich eine verwegene Gruppe langhaariger Männer und Frauen, die es wagte auf den Katheder des Auditorium Maximum der Universität Wien zu scheißen bzw. zu urinieren. Alle haben wir es im Fernsehen gesehen.

Die Eltern der 68er fürchteten sich daraufhin so sehr vor ihren eigenen Kindern, daß sie die Polizei losschickten, um sie aufzuspüren, auszuräuchern und in Isolationshaft zu nehmen. Die 68er selbst wurden in ihrem revolutionären Gestus bestärkt. Die Kinder der 68er kamen aber zu spät zur Welt, um davon überhaupt noch Kenntnis nehmen zu können, außer vielleicht in ein paar historischen Dokumentationen über die Zeit des Ausnahmezustandes. Die Kinder der 68er spielten auf ihrem Commodore 64, sahen Serien wie den Rosarothen Panther, Wickie und die starken Männer und Babapapas. Während ihre Eltern auf der Straße Revolution spielten, sich in Marx, Lenin und Mao einlasen, saßen sie vor dem Fernseher und beobachteten Speedy Gonzales und Road-runner bei ihren höllischen Tempospielen in der mexikanischen und texanischen Wüste. Da gibt es nun mal wenig Gemeinsamkeiten, außer bei genauerer Betrachtung. Aber wer hat mit zehn Jahren schon die Möglichkeit, Marx und Speedy Gonzales miteinander zu vergleichen? Nun, das wäre ja auch eine Chance für die Jungen. Sie haben beide Kulturen aufgenommen, leider verabschieden sie sich zu rasch von der Buchkultur. Aber was solls. Es ist sicher nicht die erste und nicht die letzte historische Chance, die von einer Generation vertan wird.

Erst jetzt, wo die 68er sie als Wähler brauchen, versuchen sie, ihre Kinder und jüngeren Geschwister von den TV- und Computermonitoren loszueisen. Doch sie müssen erkennen, der Zug ist abgefahren. Vier Jahre rot-grün in Deutschland und Frankreich werden genug sein. In Österreich überspringen wir diese Phase gleich, schließlich hatten wir 1968 keine Revolte, sondern 1976 eine kulturpolitische Bewegung.

Und der Verlust der gesellschaftlichen Macht der 68er wird in der Zeitschrift Der Spiegel Heft 21/2000 auf den Punkt gebracht: Ihre Fähigkeit, offen und selbstkritisch über die Veränderung der Verhältnisse, nicht zuletzt der eigenen, zu reden, die sie einst "zum Tanzen" bringen wollten, tendiert gegen Null. Sie sind unfähig, die Fehler ihrer Elten nicht zu begehen, weil sie selbst aus dem Wissen der Aufklärung hervorgegangen sind, die gleichen Bücher wie sie gelesen haben. Die 68er haben zuviel demonstriert und zu wenig ferngesehen, um ihre Kinder verstehen zu können. Die 68er sprechen die Sprache der Bücher, ihre Kinder die des Fernsehens. Und wie Neil Postman schreibt, sind diese beiden Sprachen vollkommen unterschiedlich voneinander, stehen sich dabei zwei unterschiedliche Medienkulturen gegenüber.


eingestellt am: 2.5.2020 | zuletzt aktualisiert: 2.5.2020
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