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Hurra, wir leben noch!
Skizzen über die Welt



Überlegungen zur Transdisziplinarität


§1

Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt?
Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1987. S.254.

Die folgenden Texte des Essayfragments Hurra, wir leben noch! stellen keine wissenschaftliche Analyse und keine literarische Bearbeitung der Welt dar. Sie unternehmen den Versuch, mein Denken zu verschriftlichen, das einen Mittelweg zwischen diesen beiden Formen wählt.


§2

Der Essay aber lässt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch die Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. [...] Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe.
Theodor W. Adorno. Der Essay als Form. In: Philosophie und Gesellschaft. Fünf Essays. Stuttgart 1984. S.6

Für meine Form des Schreibens, existiert in den Wissenschaften der Begriff der Interdisziplinarität. Menschen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen erforschen gemeinsam ein Thema. Dabei gibt es eine enorme Ergebnisverbesserung. Ich für meinen Teil bevorzuge jedoch die transdisziplinäre Arbeitsweise, denn interdisziplinäres Arbeiten verlässt nur selten den Boden des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, während mit Transdiziplinarität die Einbeziehung künstlerischer und politischer Arbeitsweisen gemeint ist. Die Form mit der sich die Erkenntnisse der transdisziplinären Arbeitsweise adäquat ausdrücken lassen, ist der Essay.


§3

Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den ‚künstlerischen‘ Aspekt. Kunst ist subjektive und parteiische Bevorzugung gewisser Wirklichkeitselemente vor anderen. […] Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, prägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung. Kurz: die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir als die einzig berechtigte Kunstform der Kulturgeschichte.
Egon Friedell. Kulturgeschichte der Neuzeit I. München 1976. S.18

Der Essay vermittelt nicht nur Fakten, sondern auch verarbeitete Realität – also Fiktionalität. Der Essay lässt Hochrechnungen ebenso wie Spekulationen zu. Meine Betrachtungen sind also nicht nur das Resultat akribischer Forschung. Sie sind weder objektiv bestätigbare und überprüfbare Wahrheiten, noch bloß subjektiv und künstlerisch bearbeitete Werkstücke. Meine Texte sind Ergebnisse eines anderen Blicks auf die Geschichte und die Möglichkeiten darin Welterfahrungen zu spiegeln. Ich versuche Plausibilität durch die Logik der Erzählkraft herzustellen. Damit bin ich dem Schriftsteller wohl näher als dem Wissenschaftler. Die Nachvollziehbarkeit, die Überprüfbarkeit meiner Behauptungen ist nicht mit facts alleine zu bewerkstelligen, sondern ist nur durch die Kombination wissenschaftlicher Forschung, künstlerischer Inspiration und politischer Überzeugungen machbar. Meine Argumentationen sind daher auch spekulativ und anekdotisch.


§4

Nicht nur von dieser letzten, sondern von allen hier aufgestellten Behauptungen gilt: Sie sind niedergeschrieben, damit sie nicht wahr werden. Denn nicht wahr werden können sie allein dann, wenn wir ihre hohe Wahrscheinlichkeit pausenlos im Auge behalten, und dementsprechend handeln. Es gibt nichts Entsetzlicheres als recht zu behalten. – Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ‚Wenn ich verzweifelt bin, was geht es mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!
Günther Anders. Die atomare Drohung. München 1981. S.104-105


Transdisziplinarität gibt bis zu einem bestimmten Maß den Anspruch auf Wahrheit letztlich auf Faktizität auf. Und das ist gut so, da in einer technologischen und von Codes bestimmten Gesellschaft fact and fiction längst nicht mehr voneinander zu trennen sind. Eine progressive Geschichtswissenschaft kann Phänomene der technologischen Gesellschaft nur dann erklären, wenn sie die Vermischung von facts und fiction in der Darstellung historischer Vorgänge zulässt.
Dennoch bin ich der Meinung, dass die anekdotische nicht der wissenschaftlichen Arbeitsweise widerspricht, sondern einen ihrer wesentlichen Teile ausmacht. Es ist wie in der Kostenrechnung. Verändere ich die Parameter, erhalte ich ein anderes Bilanzergebnis. In der Geschichtsforschung ist es ebenso. Verändere ich den Blickwinkel, kombiniere ich Gelesenes neu, erhalte ich eine andere Geschichte. Dort, wo sich Widerspruch gegen das geschriebene Wort regt, dort, wo nachgefragt wird, wo festgehalten und verworfen wird, dort entsteht Wissenschaft. Ob im Detail, ob im Überblick, ob überprüfbar oder glaubhaft: Wissenschaft ist Widerspruch.
Widerspruch regt sich immer wieder auch bei mir selbst gegen meinen eigenen Text, da ich mir als Mensch ein Thema schreibend aneigne, das mir oft fremd und unzugänglich ist, wie zum Beispiel die Maschinen und ihr Netzwerke, ihre Logik, ihre Herkunft und Vernichtungspotentiale. Doch ein derartiger Widerspruch hat auch in der Wissenschaft eine lange Tradition. Freud als Mann schrieb über die weibliche Sexualität, Engels als Fabrikantensohn und Marx als Philosoph schrieben über die Arbeiter, erwachsene Forscher über Kinder.
Dieses Buch ist aus Sicht eines Menschen geschrieben, der einen Blick auf die Welt und ihre Maschinenzivilisation geworfen hat. Ich stand vor einem Insektenstaat und verstand kein Wort, weil ich immer noch versuchte aus dem Blickwinkel eines Menschen zu schreiben. Erst als ich versuchte über meinen menschlichen Schatten zu springen, den Humanismus im Orkus meines Denkens entsorgte, konnte ich ein wenig die Ambivalenz überwinden, die sich an allen Ecken dieses Textes eingeschlichen hat, jene ein Mensch zu sein und gleichzeitig als Mensch [im Sinne der Gattung und des Individuums] überflüssig geworden zu sein.
Vielleicht liegt aber ja gerade darin der Sinn der technologischen Zivilisation, nämlich den nächsten Schritt in der Evolution zu gehen. Vielleicht werden wir Menschen eines Tages in die Geschichte eingehen, als Bindeglied zwischen einer in Natur und Gott verfassten Gesellschaft, in der der Mensch an der Peripherie gesellschaftlichen Denkens und Handelns stand und der technologischen Zivilisation, in der wir wieder an die Peripherie geraten sind. Dazwischen liegen etwa sechstausend Jahre, in denen der Mensch das Zentrum evolutionärer Entwicklung bildete.
Was wir Menschen begreifen sollten: Eines Tages werden wir nichts weiter als eine historische Anekdote in den Datenspeichern in der von uns geschaffenen technologischen Netzwerkkultur sein. Trotz aller Widersprüche, denen ich diesen Text ausgeliefert habe, bleibt eines für mich gewiss: Hurra, wir leben noch! drückt meine Freude darüber aus, dass ich an meinen eigenen Analysen noch nicht verzweifelt bin und es mir täglich gelingt, in all dem Wahnsinn doch noch so etwas wie ein Stück Glück zu finden, bei den Menschen und durch die Menschen.

eingestellt am: 16.7.2017 | zuletzt aktualisiert: 16.7.2017
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