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Vom Wesen der Unsterblichkeit
Essay über das Utopische


Von der Aventure des Artusromanes bis in die heutige Moderne zieht sich ein roter Faden, der nichts weiter spiegelt als das utopische Wesen des Menschen. In der Aventure der Ritter ist die Utopie die Frau, die Gemeinschaft der Menschen in der Familie, dem Stamm, dem Volk. Eine Utopie, die im Nationalsozialismus seine grausamste Form entfaltet hat. Abgelöst wurde sie in der Aufklärung durch eine Feier des Individuums, denn nichts weiter ist der Humanismus, als jene Geburtsstunde des Individuums. Im Zentrum der Aufklärung steht die Vernunft, die besagt, dass keiner dem anderen etwas zufügen solle, was er sich selbst nicht ebenso zumuten wollte.

So verlor die Gemeinschaft ihren utopischen Charakter und an ihre Stelle trat die Utopie der Freiheit, die Befreiung des Individuums aus allen gesellschaftlichen Fesseln. Günther Anders hat es so formuliert: Das Wesen des Menschen ist seine Künstlichkeit. Und zu dieser Künstlichkeit gehört eben auch der Wunsch, sich aus allen gesellschaftlichen Fesseln zu befreien, seien es nun religiöse, politische, soziale, körperliche oder geistige Fesseln. Diese Utopie der Freiheit war der notwendige Schritt zur Verwirklichung jener utopischen Vorstellung des Menschen, in der wir uns gerade befinden, der Erlangung von Unsterblichkeit. War der mittelalterliche Mensch eine Ausgeburt von Gottes Gnaden, so ist der aufgeklärte Mensch das entfesselte Naturwesen, das in der Lage ist, die Welt nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen zu formen. Doch nun tritt das entfesselte Individuum, das nur noch lose verbunden ist mit ein aufgeklärten Kollektiv der Freiheit, das wir Bürgerlichkeit nennen, in eine neue Phase ein, denn es nutzt sein Wesen der Künstlichkeit, um mit der von ihm geschaffenen technologischen Utopie Unsterblichkeit zu erlangen. Natürlich setzt es damit alle bisherige Freiheit aufs Spiel, doch Freiheit ist eben nicht mehr sein Ziel, sondern die Überwindung des Todes. Dafür ist der aufgeklärte, sterbliche Bürger bereit, die von ihm geschaffene soziale Gemeinschaft, als Hort der Sicherheit zu opfern und seine Individualität aufzugeben, die ihm Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bringen hätte sollen, also Gleichberechtigung aller Individuen in einem Staat der freien Bürger.

Irgendwann scheinen wir Menschen begriffen zu haben, dass diese Freiheit der gleichberechtigten Bürger in einem freiheitlich-libertinären Staat nicht vereinbar ist mit der Utopie des Mittelalters, einer mordenden und brandschatzenden Ideologie der Liebe, in der das Leben immer am Rande des Abgrundes pulsiert. Und auch nicht mit einem modernen Aberglaube, dass die Freiheit des Individuums eben dieses Morden und Brandschatzen beenden könnte, denn in einer freien und gleichberechtigten Gesellschaft geht die Möglichkeit sich zu beweisen, sich hervorzuheben, letztlich das Individuum als Zentrum des gesellschaftlichen Handelns verloren. Und umso wichtiger erscheint es uns heute, uns durch Abgrenzung und Unterwerfung, Übervorteilung und Demütigung voneinander abzugrenzen, um noch so etwas wie Leben in Freiheit spüren zu können. Doch wir haben erkannt, dass der Mensch ohne Aventure und ohne gemeinschaftliche Liebe, dem Gegensatzpaar seiner biologischen Existenz eben nicht in Freiheit leben kann, denn die Auflösung dieses Widerspruchs zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit hat uns näher an die Auslöschung der menschlichen Existenz geführt als je zuvor.

Und vielleicht bringt uns ja gerade deshalb jene Utopie, die erstmals ohne philosophischen Boden, ohne philosophische Kategorien und ohne absoluten Wahrheitsanspruch, ohne ideologisches Fundament in der Mitte unserer Gesellschaft entsteht, die Verwirklichung dessen, wovon Günther Anders einst gesprochen hat: Indem nach den Utopien der sozialen Liebe und der bürgerlichen Freiheit nun die technologische Utopie der Unsterblichkeit, die wir vielleicht einmal als letzte menschliche bezeichnen werden, das anthropologische Schicksal der Menschheit erfüllt.

Der Mensch ist bereit das Wesen seiner Künstlichkeit aus den ursprünglichen Fesseln der Natur zu befreien, seine Menschlichkeit abzulegen und sich als historisches Subjekt aus der Weltgeschichte zu verabschieden.

eingestellt am: 9.12.2017 | zuletzt aktualisiert: 9.12.2017
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