20.250.317:0.813 Zum Archiv

Einen Countdown will ich beginnen. Noch vier Tage bis zu meinem Geburtstag. Ich habe nun beinahe fünf Jahre dieses Journal geführt und ich denke, es ist gesagt, was zu sagen war. In dieser Form. Ich spüre, wie sich in mir Leere breit macht. Eine Art Sprachlosigkeit vor der Grausamkeit der Welt. Letztlich ist alles, auch das Schreiben, das Handeln, das Sichengagieren, die Freundlichkeit und die Unnachgiebigkeit nichts weiter als ein Zeitvertreib bis zum letzten Atemzug.

Meine arbeitsbedingten Erkrankungen nehmen von Jahr zu Jahr zu. Ich schleppe mich durch die Wochen, zähle die einzelnen Tage und hoffe darauf, noch den einen oder anderen Winter zu überstehen, um dann in nicht allzuferner Zukunft den vermeintlich sicheren Hafen der Pension zu erreichen, nach der ja ohnehin nur mehr das Unausweichliche, das Löffelabgeben auf mich wartet, wie die Katze auf die Maus und Umkehr ist nicht merh möglich.

Gestern in einer Serie den Satz gehört: der Tod habe keine Reißzähne, sondern er lächle. Aber vielleicht ist das auch nur eine andere Form der Propaganda, die uns das Leben und letztlich das Sterben schmackhaft machen möchte. Ich würde es gerne glauben. Doch es fällt mir schwer, denn der Tod beendet alles, was mir lieb und teuer war, die Zeit und mit ihr die Sprache, das Geschichtenerzählen.


20.250.318:0.930 Zum Archiv

Das Journal einfach zurückzulassen, wie ein weggelegtes Neugeborenes erschiene mir falsch. Deshalb braucht es nach dem Schweigen der letzten Wochen einen Abschluss, eine Art Resumee, denn dieses Journal war ja kein Tagebuch, kein Nachtbuch, kein persönliches Notizbuch über die Unzulänglichkeiten meines Lebens und der Welt, sondern eine Art Beobachtungsbuch, ein Logbuch, wie ich schon einmal eines geführt habe vor beinahe zwanzig Jahren, als ich meine ersten Gehversuche in der digitalen Welt unternahm.

Als ich dieses Journal begann, schrieb ich schon in meiner ersten Notiz von einer Angst, die mich heute eingeholt hat und sich in eine Realität verwandelt hat: Manchmal ängstige ich mich, dass mir eines Tages ein Morgen grauen wird, der mich außerstande setzt, zu schreiben, dass ich keinen Gedanken mehr fassen könnte, der sich sprachlich meistern, bezwingen und formen ließe. Im Kopf gähnende Leere. Wie an manchen Tagen, wenn ich mich nach einer Siesta vom Sofa erheben möchte und mein Körper gegen die Gravitation rebelliert und die Gedanken träge und zäh im Raum hängen, wie Lampions an einem Geburtstagsfest.

Die Geburtstagslampions sind gelöscht, die Gavitation hat gesiegt. Dieses Gefühl keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, hat sich nach fünf Jahren Journal verfestigt. Die Sprache kommt mir zusehends abhanden. Nicht, dass ich nicht in der Lage wäre zu sprechen, mich zu äußern, sprachlich gegen die Welt anzukämpfen, die mir ihre Regeln und ihr Wollen und Wirken aufzwingt, aber das Schreiben verliert an Bedeutung. Und was mich heute ängstigt, ist nicht mehr der Verlust des geschriebenen Wortes, sondern die Angst das Sprechen zu verlernen. Frei nach Tucholsky, wenn das Schreiben nicht mehr nützt, das Sprechen kein Ziel mehr hat, dann bleibt nur das Schweigen.

Und vielleicht wird dieses Schweigen mich in absehbarer Zeit wieder hinaus in die Natur treiben. Stunden um Stunden werde ich durch die Wäder streifen, wie ich es in meiner Jugend tat, als die Welt sich gerade öffnete und ich aus den Wiener Wäldern hinauszog in die Asphaltstadt, um mir Freunde zu suchen, ein Publikum zu erwirtschaften und eine Familie zu gründen. Aber im Gegensatz zu Bertolt Brecht, der eine Brücke darstellt vom zwanzigsten in mein einundzwanzigstes Jahrhundert, rauchte ich nie Virginias und meine Freunde hatten nie ihre Füße auf meinen Tisch gelegt, und so werde ich ohne Zeichen und Rang zurückkehren in meine Wälder. Aber es werden nicht jene meiner Kindheit und Jugend sein, die wie ein Zauberglanz der Sehnsucht in mir lagern, sondern es werden die Wälder meines Sterbens werden, die Wälder an den Berghängen, von denen man ins Land blicken kann, ins Licht und die Täler, dorthin, wo man den Urgrund der Dunkelheit finden kann.


20.250.319:1.017 Zum Archiv

Es kann natürlich sein, dass ich mich eines Tages wieder hinsetzen werde, um Notizen zu machen, aber dann wäre es, um mein Absterben, mein Verschwinden, mein Sterben zu protokollieren. A.A. hat letztens zu mir gesagt, ich sollte vielleicht ein paar Gebete schreiben, darauf habe ich geantwortet, das sei bereits erledigt und sie trügen den Titel Gebete eines Atheisten. Mehr wäre dem ja auch nicht hinzuzufügen. Aber worüber es sich am Ende vielleicht doch noch zu schreiben lohnen würde, ist in der Manier von Fritz Zorn, der in früheren Zeiten über seine Krebserkrankung schrieb. Eine Art Sterbetagebuch.

Vor vielen Jahren habe ich ein Totenbuch begonnen. Ein Erinnerungsbuch über die Toten meines Lebens, auf denen ich stehe und lebe, als wären sie nie gewesen. Damals wusste ich schon, dass das Erinnern der anderen die Essenz des Lebendigseins ausmacht. Wir leben unser Leben nicht durch uns, sondern nur durch die anderen. Wir sind nichts für uns, wir sind als Menschen an sich irrelevant, denn wir sind Menschen nur durch das Menschsein der anderen. Sind die anderen unmenschlich, werden wir es auch. Oder wie Sartre einmal sagte: Die Hölle sind immer die anderen.

Was er aber unterschlagen hat, ist die Tatsache, dass auch jeder einzelen von uns eine Hölle darstellt für die anderen. Jeder ist ein Höllenzustand. Und das ist der Grund, warum wir nie einen Himmel auf Erden schaffen können, warum brechtsche Freundlichkeit nicht hilft, weil sich in jeder freundlichen Geste eine höllische Verdammnis verbirgt, die sich nur noch nicht gezeigt hat. Frei nach Günther Anders, der einmal geschrieben hat: Es ist Krieg! Es ist Krieg! Der Friede ist immer geschieden..

Und in uns allen, als Generation danach, haust nicht nur der eine Krieg, die eine Katastrophe, der bisher letzte große Krieg, sondern alle bisherigen Kriege. Und weil wir uns nicht wagen, daran zu erinnern, den Krieger in uns nicht befrieden können, treiben wir immer weiter das voran, was ich und mit mir viele einmal nannten: Der Mensch ist des Menschen Feind. Es gibt kein Entkommen, weil jeder den Krieg in sich trägt, wie einen Stachel im Fleisch eines sehnsüchtig herbeigesehnten Friedens.


20.250.318:0.920 Zum Archiv

Manchmal erscheint mir der Tod beinahe wie eine Gnade, ein großes Versprechen. Es gibt Tage, die es früher zu keinem Zeitpunkt gab, da wünsche ich mir, tot zu sein, damit das Leben mit seinen Herausforderungen, Krankheiten und Erschöpfungen ein Ende hat. Nicht um der Sinnlosigkeit zu entkommen, die hat man als Atheist auf seiner Reise immer im Gepäck, sondern um dem Schmerz, der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ein Ende zu setzen.

Was mich aber nach wie vor am Leben hält, ist meine Familie. Meine Frau, meine Kinder, meine Katzen und der Hund meiner Frau. Und vielleicht an manchen Tagen ein Blick in den Himmel. An einem sonnigen Sommertag, wenn die Luft warm ist und nicht heiß, der Wind lau und nicht stürmisch, das Lachen der Kinder am See weit entfernt und der Gesang der Wasservögel ans nahe Ufer reicht. An diesen Tagen, wenn im Herbst der Fön durch die Täler zieht und die ersten kalten Nächte die Landschaft färben, dann lohnt sich das Leben doch noch, denn in der Natur bin ich zu Hause, im Frühling, wenn die ersten warmen Tage durch die Wiesen streifen und sie in sattes Grün verwandeln, dann bin ich dem Leben näher als an allen anderen Tagen meiner Zeit.

Im Grunde bin ich ein Romantiker, auch wenn viele das Gegenteil behaupten, denn kaum jemand kennt mich. Selbst nach einer beinahe fünfzigjähriger Schreibtätigkeit, in der ich mein Innerstes nach außen gekehrt habe, um meine Äußerlichkeit zu verdecken, bin ich der Welt immer der Gleiche geblieben. Werde ich als das bezeichnet, was ich in jedem Jahrzehnt für eine bestimmte Anzahl von Menschen gewesen bin. Aber wie sollte es auch anders sein, denn für die meisten, die mir begegneten, sind die Wege in meine meine Kindheit und Jugend verschüttet. Um mich zu finden, müssten die Menschen in mir lesen, wie in einem aufgeschlagenem Buch. Doch wer will sich dieser Mühsal schon unterziehen. Wozu auch? Angesichts der Irrelevanz des Menschen.


20.250.321:1.734 Zum Archiv

Nun mein Dreiundsechziger.
Mein vierhundereinundzwanzigster Eintrag.
Und mein letztes Wort.


[Zum Archiv 20.2502] [Zum Archiv 20.2006]