20.241.221:0.858 Zum Archiv
Nie war mir vergönnt, einen Roman von Bedeutung zu schreiben, einen wie ihn Rilke zustande brachte, mit seinem Brigge Roman oder Hermann Hesse mit seinem Siddartha oder Sartre mit dem Pfahl im Fleisch oder gar Camus mit Der Fremde. Vielleicht ist es aber gar nicht notwendig, den Roman meiner Zeit zu schreiben, vielleicht reichen ja auch kurze Prosastücke, wie sie Kafka zustande brachte, der im Grunde nur zwei Romane schrieb, am Anfang seiner Karriere, alles andere sind Versatzstücke von Erzählungen, die Max Brod zu einer Art Roman montierte.
Völlig geschlagen will ich mich allerdings noch nicht geben, denn in mir schlummert dieser Roman, der in meinem Kopf bereits existiert, zu Papier gebracht in Variationen, in unterschiedlichen Formen, die eigentlcihe Form noch suchend, eine Form zu meinem Leben und meiner Zeit passt, denn ohne die passende Form ist der Roman nicht das Papier wert, auf dem er einst zum Ausdruck kommen wird.
Doch die Form zu finden wird immer schwieriger in Zeiten, da das ultimative autobiographische Projekt von Knausgard nun abgeschlossen ist und einer aus meinem Land die Marketingromane als Kopiermaschinen des neunzehnten Jahrhunderts entlarvt hat. Welche Form soll denn ein Roman über meine Zeit, und wenn ich von meiner Zeit spreche, dann meine ich die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, haben. Eine Zeit, in der der sich das neunzehnte Jahrhundert noch in seiner vollen Blüte präsentierte und das einundzwanzigste seine Schatten vorauswarf. Die Zeit, in der die bürgerliche Aufklärung begann sich aus der gesellschaftlichen Mitte zu verabschieden, die Bourgeoisie implodierte und die Rückkehr des Geldadels gerade erst begonnen hatte.
Ein Roman also, der die Banalität des Alltages fassen und ihr soviel literarische Essenz mitgeben könnte, sodass die Hölle dieser Banalität und Bedeutungslosigkeit meiner Existenz, die Unbrauchbarkeit meines Charakters tatsächlich eine Gültigkeit bekommt, die über mich selbst hinausreicht. Ein Roman, der für seine Zeit stehen kann, gerade weil es eben im Individuum das kollektive Scheitern zeigen würde. Es wäre kein großer Roman und er würde kein Publikum finden, aber er wäre in der Welt und das ist doch letztlich Sinn und Zweck von Literatur, in der Welt zu sein, um zu zeigen, wie sie ist die Welt, die Zeit und wie es ist: unser Leben.
20.241.220:1.346 Zum Archiv
Manchmal denke ich darüber nach, wo ich herkomme, aus einem Gemeindebau am Rande der Welt. Geboren an einem Tag als dieser Tag noch ein Frühlingsanfang war, in einem Jahr, in dem die Welt an einem Abgrund stand. Man könnte denken, mein Leben begann im Zeichen des Krieges, der immer in mir hauste, der immer unerklärt blieb, wie ich irgendwann einmal geschrieben habe in einer Trilogie über unsere Zeit. Ein Stück Theater, das niemals zur Aufführung kam und in dem so viel über meine Zeit gesagt ist und doch sprachlich so hilflos daher kam, wie dieser Arbeiterbub, der sich ins Gymnasium verirrt hatte und dort verwirrt herumhockte und selbst dort das Gefühl nicht loswurde, nicht dazuzugehören, ein historischer Unfall, der durch die Alleinregierung der Sozialisten (wie sie sich damals noch stolz nannten) möglich wurde und den ich einem jüdischen Heimkehrer verdankte und all seinen Mitstreiter*innen, die in mir Wohnstatt nahmen, die mir heute wie aus einem anderen Jahrtausend erscheinen, mit ihrer widerständigen und sozialen Haltung, von der die heutigen Gesinnungstäter*innen meilenweit entfernt scheinen.
Und manchmal, wenn ich darüber nachdenke, woher ich komme, aus den südlichen Wäldern, aufgewachsen zwischen den satten Weinreben und den hohen Föhren, die alles überwucherten; ausgetragen von meiner Mutter in einem der kältesten Winter seit Menschengedenken, geworfen unter die Menschen, an die ich mich nie gewöhnen konnte und die sich mir näherten wie einem streunenden Kater, dann denke ich, dass ich es weit gebracht habe. Aus dem Schoß der kleinbürgerlichen marxistischen Arbeiterschaft hervorgekrochen, ausgestattet mit wenigen Büchern im eigenen Haus, die einem Kind wie mir helfen hätten können. Später dann wurde mir mit Hilfe eines Ausweises Zugang zu dem Mädchen mit den langen Strümpfen verholfen und zu den roten Häusern in Schweden. Die Geschichten über die Menschen und ihre Landschaft las ich mit Leidenschaft. Immer und immer wieder.
Und wenn ich so darüber nachdenke, so ist mein Nullpunkt vielleicht doch nicht Hermann Hesse und sein Satz vom werdenden Schriftsteller, sondern die Villa Kunterbunt, die an einem namenlosen Ort steht, bei der anarchischen kleinen Pippi, die mir bis heute wahrscheinlich mehr Vorbild ist, als ich dachte. Und wenn ich darüber nachdenke, woher ich komme und was mir von vielen Menschen prohezeit wurde, muss ich sagen, dass ich gegen alle Widerstände geworden bin, was mir möglich gewesen ist.
20.241.218:1.756 Zum Archiv
Jeder Mensch hat einen biographischen Nullpunkt, denke ich. Und ich habe in den letzten Tagen darüber nachgedacht, was mein Nullpunkt sein könnte. Über Günther Anders habe ich einmal geschrieben, sein Nullpunkt wäre der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima gewesen. Meiner ist bei Weitem nicht so welthistorisch bedeutend. Es ist der Tag, an dem ich einen Satz von Hermann Hesse gelesen habe, in einem kurzgefassten Lebenslauf, in dem der Autor über sich selbst folgendes schrieb: Die Sache war so: von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle. Und als ich diesen Satz las, dachte ich, ich war vielleicht gerade einmal siebzehn Jahre alt, was der kann, kann ich auch und wollte Schriftsteller werden, denn eines wusste ich damals schon, für einen Dichter würde es niemals reichen.
Wa sich damals noch nicht wusste, war die einfache Tatsache, dass Hermann Hesse aus einem völlig anderen sozialen Hintergrund kam, aus einem bildungsbürgerlichen Gelehrtenhaushalt und dieses Vorhaben daher, zwar kein massive Unterstützung erfuhr, aber durch frühe Lektüre in der Bibliothek der Eltern durchaus indirekt gefördert wurde. Ich hingegen wuchs im Auge des rhetorischen Tsunamis meiner Eltern auf. Umspült vom ersten Tag an von Redseligkeit. Keine Minute stand das Mundwerk meines linkssozialistischen Vaters und meiner im protestantsichen Geist erzogenen Mutter still und ihr Arbeistethos prägt auch heute noch meine tiefen Erschöpfungszustände.
Dieses Milieu, das von hochpolitischen Diskursen und wenig literarischer Bildung geprägt war und meine unzureichende schulische Ausbildung, durch Lehrerinnen, die von mir sagten, ich sei sprachunbegabt, hatte zur Folge, dass ich bis zur Mitte meiner dreißiger Jahre benötigte, um mein literarisches Stammeln zu überwinden und Texte zu produzieren, die den Anspruch erheben konnten, mit dem, was ich sein wollte, ein Schriftsteller, formal und sprachlich auch Schritt zu halten.
Heute weiß ich, dass ich mit Hermann Hesse in der Lyrik mithalten kann und ihn in der Essayistik weit überrage. In der Epik hingegen hat er die Nase vorne. Was mir naturgemäß nicht gelungen ist, weil die Zeit gegen mich war, ist die gleiche gesellschaftlichen Bedeutung zu erlangen wie er. Das gelingt aber heute kaum noch jemand im deutschen Sprachraum, weil die Zeit keine Dichter mehr braucht. Sie braucht Schreibmaschinen, die sich gut vermarkten lassen. Aber sprachlich bin ich in vielen Texten mit ihm auf Augenhöhe. Mit ihm, dem Steppenwolf, der im Jahr meiner Geburt starb und damit den Weg für mich frei machte.
Dennoch: Ich bin kein Dichter geworden, aber das, wofür ich angetreten bin: ein Schriftsteller.
20.241.203:1.613 Zum Archiv
Es ist spät geworden. Er sollte nach Hause gehen. Wenn sie ihn hier so sitzen sehen, um diese Uhrzeit, kurz bevor die Dämmerung hereinbricht, werden sie vielleicht denken, dass er einer ist, der nicht das Recht hat, an einem Sonntagabend auf einer Bank unter einer Trauerweide zu sitzen und nachzudenken. Er macht ja nicht einmal den Eindruck eines denkenden Menschen. Vielleicht wirkt sein Blick ja auch nur leer. Vollständig leer. Ins Nirgendwo gerichtet.
Er sollte zwischendurch den Kopf drehen, damit er zumindest den Anschein von Leben erweckt. Wenn ihm das nicht gelingt, wird vielleicht einer, der sich nicht sicher ist, ob er Patient oder Besucher ist, das Personal benachrichtigen und einer von den Pflegern wird jemanden schicken, ihn befragen und dann, wenn er nicht willens oder nicht in der Lage wäre zu antworten, mitnehmen. Sie werden Untersuchungen mit ihm anstellen, trotz des angenehmen und wunderbaren Herbsttages, der nun hinter ihm liegt. Vielleicht einem der letzten wirklich warmen denn sie haben eine Schlechtwetterfront angesagt, die mit Regen und Schnee bis in die entlegenen Alpentäler des Hochgebirges hereinbrechen wird.
Vielleicht ist es ja tatsächlich einer der letzten Restherbsttage, bevor der Winter sich über die Stadt wirft und den Rand des Waldes, den er in seiner Kindheit auf Entdeckungsreisen durchstreifte, in den die Stadt nun immer weiter hineinwuchert, als wären ihre Häuser metastasierende Knoten in einem immer weiter verfallenden und zerfallenden Bindegewebe. Eine Stadt, die einst Kerben in seine Kindheit schlug und alles zerstörte, woran er gute Erinnerungen hatte. Vielleicht will er an diesem Tag festhalten, weil es einer ist, an dem die Erinnerung zurückgekehrt ist. Heute hat er sich wieder erinnert, an die Farben seiner Kindheit.
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