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Günther Anders (1902-1992)
Leben und Denken im Wort


§ 3 | Clara Stern

Clara Stern, geborene Joseephy, kam am 12. März 1878 in Berlin in einer Bankiersfamilie zur Welt. Der "Vater ist in Mecklenburg Großgrundbesitzer gewesen, bevor er nach seiner Heirat in Berlin Bankier wurde. Ihre Mutter stammte aus dem Rheinland und war über deren Mutter mit dem Dichter Heinrich Heine verwandt." (Deutsch 2002:136-137) Sie wuchs wohlbehütet in einem Haus auf, in dem ihre Großmutter den Ton angab und auch die jüdische Tradition pflegte. Sie kannte also die Macht, die von Frauen in bürgerlichen Häusern über ihre Familien ausgeübt werden konnte. Um so erstaunlicher ist, daß sie nicht in die Fußstapfen ihrer Großmutter trat, sondern einen eigenen, selbständigen Weg in der Familienführung verfolgte. Davon geben die Kindertagebücher von Clara Stern, die sie über beinahe achtzehn Jahre lang führte, Auskunft. Sie wurden zur Basis der meisten Bücher, die Clara und William Stern zur Entwicklungspsychologie publizierten. Mit der Publikation von Teilen der Tagebücher rückten aber auch die Kinder des Ehepaars Stern in den Blickpunkt öffentlichen Interesses, wie Eva Michaelis-Stern schrieb: "Wir drei Kinder wurden überall als 'William Sterns Kinder' vorgestellt; jeder kannte uns aus der 'Psychologie der frühen Kindheit' und wollte das Ergebnis der Erziehung in persona kennenlernen." (Michaelis-Stern 1991:134)

Die Bedeutung der Kindertagebücher, geführt von Clara Stern, kann wohl am besten an folgender Anekdote abgelesen werden, die Werner Deutsch 1994 in einem Artikel beschrieb. Im 1986 neu eingerichteten Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen (Holland) wurde eine Ahnengalerie der besonderen Art aufgestellt. Die nominierten Personen mußten zwei Kriterien erfüllen, sie mußten bahnbrechende Leistungen in der Psycholinguistik erbracht haben und sie mußten tot sein: "Die Liste der Vorschläge war lang. Also mußte abgestimmt werden, um eine demokratisch legitimierte Auswahl zu treffen. Die Abstimmung überlebten – in alphabetischer Reihenfolge – P. Broca, K. Bühler, F.C. Donders, R. Jakobson, E. Sapir, C. Wernicke, W. Wundt und auch eine, die einzige, Frau in der Ahnengalerie: Clara Stern." (Deutsch 1994:172) Eine beachtliche Ehrung für eine Frau, die keine Universität besucht hatte und sich auch nie als eine Frauenrechtlerin verstand.

Aus den Tagebüchern erfahren wir aber nicht nur wichtige Details aus dem Leben der Kinder, dem Familienleben der Sterns, sondern vor allem zahlreiche Details über Clara Stern selbst. Sie sind das Zeugnis einer Frau, die es verstand, diese Bücher nicht als eine Sammlung von Notizen und objektiven Beobachtungen zu betrachten und zusammenzustellen, sondern daraus ein Kaleidoskop aus lebendigen Geschichten zu bauen. Unter anderen Umständen hätte aus Clara Stern wahrscheinlich eine bedeutende Schriftstellerin werden können. Gerade die späten Eintragungen, in denen sie nicht mehr nur den genauen Wortlaut der von den Kindern erzählten Geschichten notierte, sondern aus ihrer Erinnerung schöpfte, zeigen eine große poetische Kraft.

Als Beispiel dafür sei eine Eintragung vom 23.1.1917 angeführt, in der sie über die Naturbeobachtungen ihres Sohnes Günther und seine Genauigkeit in der Analyse dieser Beobachtungen schrieb: "Die Schönheit der Natur genoß er in vollen Zügen. Er hat ja Blick für das Feine und Besondere – trotz der Kahlheit der Bäume, trotz des fehlenden Schnees, trotz der fehlenden Sonne fand er alles herrlich – er sieht mit dem Auge des Künstlers. Formen, Farben gab's auch in dieser Dezemberlandschaft; das rote Buchenlaub bedeckte über und über den Waldboden und kontrastierte wundersam zu den grünlichen Stämmen. Der See wogte nebelüberdeckt und täuschte ihm das Meer vor, da man die gegenüberliegenden Ufer nicht sah. Mächtige Baumriesen lagen, vom Orkan gefällt, quer über den Wegen. Einige sahen wir, von der Säge getroffen, fallen. Malerische Dorfhäuser, umgeben von Fichten oder Buchen, ließen ihr kleines Licht in die Dämmerung hinausstrahlen. Felder breiteten sich grün vor unseren Augen, die Lichtung, auf der unser Haus stand, wurde rings vom Walde eingeschlossen – lauter künstlerische Erlebnisse für den Knaben mit der bereiten Seele. Und trotz der großen Zufriedenheit kam immer die Sehnsucht nach dem Meere zum Ausdruck." (Tagebuch VIII / Günther / 23.1.1917)

An dieser Textstelle läßt sich zweierlei zeigen: einerseits Günther Anders' Gabe für die genaue Beobachtung und detailgetreue Wiedergabe dieser Betrachtungen; andererseits Clara Sterns eigene Liebe zur Natur, die sich später auch in Günther Anders reproduzierte.

Clara Stern zählt sicherlich zu den herausragenden Frauenfiguren der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und es würde lohnen, sich eingehender mit ihrem Leben und Werk zu beschäftigen.
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autor: raimund bahr | eingestellt: 28.11.2018 | zuletzt aktualisiert: 15.12.2018
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